Geschrieben am 4. März 2019 von für Crimemag, CrimeMag März 2019

Johannes Groschupf über „Die Unscheinbaren“ von Dirk Braun

Ein deutscher Spion bezwingt seinen Schmerz

Dirks Brauns erzählt in „Die Unscheinbaren“ von den familiären Langzeitschäden eines deutsch-deutschen Spionagefalls. Seinem Anti-Agentenroman geht allerdings am Ende die Luft aus. – Eine Rezension von Johannes Groschupf.

Die Agenten sind zurück in der Hauptstadt: Nach zwölf Jahren Bauzeit wurde am 8. Februar die Zentrale des Bundesnachrichtendiensts offiziell eröffnet. Ein riesiges Areal an der Chausseestraße, mitten in Berlin, eine megalomane Machtgeste in grau: 5200 Räume, 20.000 Tonnen Stahl, 135.000 Kubikmeter Beton. Baukosten: rund eine Milliarde Euro. „Ein gebauter Unfall“, hieß es in der SZ: „Wer das Haus umrundet, fühlt sich an den vormals nahen Todesstreifen erinnert.“ 

Ebenfalls im Februar erschienen ist ein Roman, der von der deutsch-deutschen Teilung und ihren nachrichtendienstlichen Verwerfungen erzählt: „Die Unscheinbaren“ von Dirk Brauns. Die Geschichte ist ganz einfach: Ein älterer Mann, Martin Schmidt, Tierarzt in Bayern, taucht in seine Familiengeschichte ein, nachdem seine Frau gestorben ist, die erwachsene Tochter fern in San Francisco lebt, seine Tierarztpraxis soll allmählich dem Nachfolger übergeben werden. Jetzt erreicht ihn der Ruf vom Spionagemuseum Berlin, sich in einem Zeitzeugen-Interview zum Fall seiner Eltern zu äußern. Die waren im Ost-Berlin der 1950er- und 60er-Jahre ein Agentenpaar des bundesdeutschen Nachrichtendienstes, wurden enttarnt und ins Gefängnis Hohenschönhausen gesteckt, vier Jahre später von der Bundesrepublik freigekauft. Der damals 20-jährige Sohn musste seine Jugendliebe aufgeben, um mit ihnen in den Westen zu gehen. 

Nun fährt Martin Schmidt zurück in den Osten, an den Rand Berlins, wo er einst mit seinen Eltern und seiner Großmutter lebte. Im Haus sitzt jetzt der ehemalige Postbote, ein galliger Mann, der nebenher noch für die Stasi tätig war und der den früheren Bewohner nicht hereinlässt. Dennoch steigen überall Schmidts Erinnerungen auf, nicht nur an die Eltern, deren Agententätigkeit der Sohn kaum mitbekommen hat, sondern auch an seine Jugendliebe. 

Was die Eltern für den Westen ausspionieren, ist eher banal: die Lage von Industrieanlagen und Kasernen, geschätzte Truppenstärke, zudem die Frage, ob der Flughafen von Tirana eine Landebahn aus Asphalt oder aus Schotter hat. Als sie auffliegen, bricht die gewohnte Welt für den Sohn zusammen. Er wird von Nachbarn und Mitschülern geächtet, muss für die Großmutter sorgen, die sich in eine Schockstarre zurückgezogen hat, am Ende auch seine große Liebe verlassen, um den Eltern, als die endlich freigekauft werden, in den Westen zu folgen. Eine Heimkehrergeschichte also, und wie in jeder Heimkehrergeschichte ist viel Nostalgie dabei, die Vergangenheit öffnet sich, die Süße der Jugend scheint noch einmal auf, unwiederbringlich. 

Dirk Brauns erzählt das in einem ruhigen Präsens, dem gelegentlich ein gravitätischer Drehbuch-Gestus anhaftet, und hin und wieder meint der Erzähler sich einmischen zu müssen. Dennoch entwickelt die Geschichte einen eigenen Sog, weil sie sinnlich und präzise erzählt wird. Eigentlich ist es ein Roman der Berliner Peripherie: Der märkische Sand ist da, der Geruch der Rieselfelder bei Blankenburg, die Kopfsteinpflaster der Vororte, die stillen Nächte. Die junge Familie macht sonntags „Ausflüge in Sperrgebiete, zu Rangierbahnhöfen und Kasernen“; die Eltern machen sich fleißig Notizen. Aber aufregend ist das alles nicht, der Sohn ahnt allenfalls die Gefahr, dass sie einmal auffliegen könnten.

Der Roman widersetzt sich dem Narrativ des angelsächsischen Agentenromans, dass der Held zumindest die westliche Welt zu retten habe, mit spröder Beharrlichkeit. Vordergründige Effekte sind Dirk Brauns fremd, auf Action setzt er eher beiläufig, er folgt der fast alltäglich wirkenden, eben unscheinbaren Geschichte, stets in einer klaren, ruhigen, aber durchaus sinnlichen Sprache. Humor und Spielfreude sind seine Sache nicht. Der großen Geste misstraut er. Ihn interessieren die Figuren: Was treibt sie an, was verbergen sie, wie offenbaren sie sich, unter welchem Druck beginnen sie zu brechen? 

Der Vater Martin Schmidts wird in seinen wenigen Szenen fasslich und verständlich: ein Techniker, der eher von Ehefrau und Schwager zur jahrelangen Spionage getrieben wird als das aus eigenem Antrieb zu wollen. Nun ist er seit Jahren tot, auch die damaligen Führungsoffiziere in Pullach sind mittlerweile in Pension, allein die Mutter lebt noch stur im Altersheim. Damals von scharfem Antikommunismus und reiner Geldgier angetrieben, erinnert sie jetzt in ihrer metallischen Kälte an Margot Honecker im Exil; am Ende offenbart sie noch ein schmutziges Geheimnis und hat damit das letzte Wort. 

Das wirkt dann wie ein Nachhall aus längst vergangenen Zeiten, und das ist das eigentliche Problem dieses Romans: Die Gegenwart gibt anscheinend nichts mehr her, jedenfalls interessiert sie den Erzähler kaum. Der alternde Martin Schmidt wird im bayrischen Alltag zum grumpy old man, der sich über die anderen Autofahrer aufregt:

„Die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen ihm aggressiver als früher. Vorfahrten werden genommen, Arme drohend gehoben, geblinkt nur noch selten.“ 

Seine Zeit ist vorbei. Zwar wird die Jugendliebe noch einmal aufgefrischt, die Nachfolge der Tierarztpraxis geklärt, beiläufig auch ein islamischer Terroranschlag verhindert, aber der Kern des Romans sitzt im Berlin der 1950er-Jahre und nicht in der Gegenwart. Martin Schmidt (dessen Geschichte angelehnt ist an die von Dirks Brauns‘ Vater) kann auch nicht zurückkehren und sein früheres Ich und dessen ständige Angstbereitschaft erlösen, er wird die Folgen der Erziehung zur Verschwiegenheit und Härte gegen sich selbst nicht los: „Ein deutscher Spion bezwingt seinen Schmerz“. Das ist ein zumindest ehrliches Fazit des Romans, aber nicht eigentlich befriedigend.

Dirk Brauns – geboren 1968 in Ost-Berlin, jetzt in der Nähe von München ansässig, lange Jahre Zeitungskorrespondent in Minsk, Peking und Warschau – interessiert sich in fast allen seinen bisherigen Romanen für die privaten Verwerfungen der deutsch-deutschen Vergangenheit. Sein erster Roman, „Im Inneren des Landes“ (2012, auch bei Galiani), der zurzeit verfilmt wird, erzählt die Geschichte einer späten Rache eines vor Jahrzehnten malträtierten NVA-Rekruten. In „Café Auschwitz“ (2015, Klak Verlag) folgt ein Reporter einem Holocaust-Überlebenden auf seiner Tätersuche in Deutschland. „Wir müssen dann fort sein“ (2016, Galiani) ist eine Vater-Sohn-Recherche im Korrespondentenmilieu in Weißrussland.

Jetzt also, 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, erzählt Dirk Brauns von einer Spurensuche nach den Anfängen der Teilung Deutschlands. Wir aber warten weiter auf einen aktuellen deutschen Agentenroman, denn nie war der Bundesnachrichtendienst so massiv, so selbstbewusst und großspurig präsent in der Stadt wie jetzt. Doch das ist nicht Brauns‘ Thema, sein Roman gehört ins Spionagemuseum.

  • Dirk Brauns: Die Unscheinbaren. Roman. Galiani Berlin, Berlin 2019. 330 S., gebunden, 20 Euro.

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