Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Kolumne Iris Boss (5)

Marie Kondo in Pankow

Ich knie auf unserer Terrasse. Ich trage einen Strohhut und Gartenhandschuhe und kratze mit einem Unkrautstecher (bis vor wenigen Tagen wusste ich noch nicht einmal, dass es so etwas gibt) Erde, Löwenzahn und die Haare der Vormieterin aus den Fugen zwischen den Steinplatten. Neben mir trocknen weiße Blusen, weiße Kleider und weiße Röcke im lauen Pankower Spätsommerwind. Ich grusle mich etwas vor mir selbst: Wäsche trennen…?! – In meinem Vorleben, in dem Haushalt und Wohnen euphemistisch ausgedrückt eine untergeordnete Rolle gespielt haben, war meine Auslegung von hell und dunkel eher pragmatisch: „Dieses Weiß tendiert ja doch mehr in Richtung dunkles Weiß – kann mit rein!“ 

Wir sind umgezogen, und das mit der Wäsche und den Balkonfugen sind nicht die einzigen besorgniserregenden Anzeichen einer tiefgreifenden Persönlichkeitsveränderung, die damit einhergeht. In der alten Wohnung gab es einen „Frühjahrsputz“, der – meistens von mir – irgendwann zwischen Januar und Oktober durchgeführt wurde und einen „Die-reizende-Bekannte-kehrt-von-einer-mehrmonatigen-Tournee-zurück-und-soll-nicht-gleich-wieder-ins-Hotel-ziehen“-Putz des tollsten Mannes der Welt. Zu unserer Ehrenrettung muss ich sagen, dass wir beide nicht gerade passionierte Wohnende waren und eigentlich nie genug Zeit in der Wohnung verbrachten, um ernsthaften Dreck zu machen. Diese Zeiten sind vorbei: Corona hat uns eine berufliche und gesellschaftslebenstechnische Zwangspause beschert. Statt Rock ’n‘ Roll und die Bühnen der Republik sind jetzt gemeinsame Einkäufe im Baumarkt angesagt. Dort suchen wir unter anderem nach Rosetten in passender Größe für unsere Heizungsrohre. Vielleicht ist ja doch nicht Essen, sondern der Baumarkt der Sex des Alters…

Aber damit nicht genug: Ich schaue jetzt öfter mal bei „Tchibo“ rein und gehe dort selten ohne ein „Fugenreinigungsbürsten-Set“ oder „Recycling-Boxen-XXL“ raus. Neulich konnte ich mir selbst gerade noch rechtzeitig den Kauf eines „Staubschwerts“ verbieten. Kurz gesagt: Die Verhildegardisierung ist in vollem Gange.

„Wenn ich mir eine Kittelschürze zulege, bitte ich dich, dieses unwürdige Leben ohne weitere Worte mit einem gezielten Bolzenschuss in den Hinterkopf zu beenden!“, sage ich zum tollsten Mann der Welt, der gerade den neuen Messermagneten an die Küchenwand geschraubt hat. Er nickt mit hochgezogener Augenbraue, während er sich dem Kaffeefilterhalter zuwendet.

Die wahre Passion meines neuen Lebens aber ist alles, was mit Stauraum zu tun hat. Ja, ich bin eine  richtige Stauraum-Fetischistin geworden: „Was hältst Du von diesem Flurschrank?“, fragt der tollste Mann der Welt. „Hat der viel Stauraum?“ „Ja, 5 Schubladen, 3 Regalbretter,…“ „Mmmh, erzähl weiter! Was noch? Das macht mich geil…!“  

Wer exzessiv nach „Organizer Kleiderschrank“, „Aufbewahrungsboxen“ und „Schubladenteiler“ googelt, stößt ziemlich schnell auf die japanische Ordnungspäpstin Marie Kondo. Sie ist mit Aufräum-Tipps für überforderte Wohlstandsmenschen Millionärin geworden. Die Kernaussage ihrer Technik lautet: „Behalte nur, was dich glücklich macht, dich inspiriert!“ Wow! Da muss man erstmal drauf kommen…! Vordergründig bläst sie damit einfach nur ins Horn des Minimalismus-Trends: Besitz belastet und weniger ist mehr. Grundsätzlich also nichts Schlechtes. Aber genauer betrachtet erkennt man die geschickt verpackte Schützenhilfe für den Konsumwahn: Wir müssen ausmisten und den verbleibenden Kram so gut wie möglich komprimieren, damit wir Platz für neuen Kram haben. 

Dagegen, Dinge zu ordnen und auszumisten, wie Kondo es predigt, ist nichts einzuwenden. Aus dem Kriterium, ob man etwas behalten soll oder nicht („Bringt es Freude, inspiriert es mich?“), könnte man sogar etwas fürs Leben lernen. Nämlich, dass genau das im Leben nicht funktioniert. Es gibt Menschen, die einem über einen gewissen Zeitraum keine Freude bringen, einen nicht inspirieren (wie ich wahrscheinlich den tollsten Mann der Welt in den Wochen, in denen ich zur hauptamtlichen Wohnungseinrichterin muttisiert bin). Wenn man aber Beziehungen führen und nicht nur Menschen konsumieren will, lohnt es sich bisweilen, sie nicht einfach „auszumisten“ und umzutauschen, sondern zu erkennen, dass der Mitmensch eben manchmal genauso uninspirierend und genauso wenig Quell dauernder Freude ist, wie man selbst. Es gibt auch Tätigkeiten, wie das Tragen eines Mundschutzes, die weder Freude noch Inspiration bringen, die aber für jeden erwachsenen, logisch denkenden Menschen einfach nötig und sinnvoll sind. Ich plädiere hier keineswegs für ein Verharren im Unglück: Wenn man mit einem Menschen, einer Situation oder von mir aus auch mit dem Inhalt seines Kleiderschranks unglücklich ist und die Möglichkeit hat, etwas daran zu ändern, wäre es blöd, es nicht zu tun. Aber Konsum ist in keinem Fall die Lösung für das Problem. (Mit Nazis durch die Straßen zu marschieren übrigens auch nicht. Das meine ich jetzt speziell auf die Sache mit dem Mundschutz bezogen. Gilt aber eigentlich für alles. Wobei mir der Gedanke, eine Demo unter dem Motto: „UNTENRUM FREI! Deutscher Feinripp für deutsches Volk! Nieder mit den chinesischen Penis-Gefängnissen!“ anzumelden, schon eine leise Freude bereitet. Andererseits habe ich die begründete Befürchtung, dass da dann mehrere 1000 halbnackte Nazis mitlaufen würden, und das möchte ich dann doch lieber nicht.)

Dass Minimalismus paradoxerweise ein Privileg der Wohlhabenden ist, musste ich erkennen, als ich vor dem Auszug ausgemistet habe: Man muss es sich eben leisten können, sich irgendetwas neu zu kaufen, zu mieten oder zu leasen, wenn man es dann doch benötigt. Wenn man keine großen finanziellen Mittel hat, überlegt man sich zweimal, ob man etwas einfach wegschmeisst. Da man aber mit geringeren finanziellen Mitteln auch den kleineren Wohn- und somit Stauraum besitzt… 

Darüber, dass der größte Teil der Menschheit weder das Problem mit dem Ertrinken in Zeug, noch das mit dem fehlenden Stauraum kennt, sondern eher darum bemüht ist, nicht im Mittelmeer zu ertrinken, an sauberes Trinkwasser zu kommen oder nicht zu verhungern, müssen wir nicht reden. Oder vielleicht müssten wir das ja doch… Aber es ist eben angenehmer– egal ob wir zu den Wohlhabenden oder den weniger Wohlhabenden gehören – uns Marie Kondos Netflix Serie reinzuziehen und zu lernen, uns bei zu entrümpelndem Zeug zu bedanken, bevor wir es auf den Müll schmeissen, der dann wiederum über das Mittelmeer geschippert wird, damit unser Trinkwasser sauber bleibt.

Ich halte unseren Pümpel in der Hand. Er hat das Ausmisten überstanden und wurde mit umgezogen. Jetzt lautet die Frage, ob er in der Wohnung bleibt oder in den Keller kommt. Nach Marie Kondo dürfte ich ihn eigentlich gar nicht behalten, denn so pervers, dass mir ein Klo-Reinigungsgerät Freude bereitet oder mich inspiriert, bin selbst ich nicht. Wahrscheinlich ist dieses System für Menschen gedacht, die nicht wissen, was ein Pümpel ist, weil die Personal für solche Dinge haben. 

Das erinnert mich an den Inder in der Deutschklasse einer schweineteuren privaten Business-School, in der ich einst unterrichtet habe: In einer der ersten Stunden ging es um Lebensmittel. Die Aufgabe, die ich den Studierenden gegeben hatte, bestand darin, die Zutaten ihres Lieblingsgerichts aufzuschreiben. Als die Reihe an den indischen Studenten kam, sagte der (konsequent auf Englisch in meinem verdammten Deutschunterricht): „We don’t cook in India“. Naiv, wie ich war, erwiderte ich, dass das doch nicht sein könne, ich esse sehr gerne indisch. Es dauerte etwas, bis ich rauskriegte, dass seine Kastenicht kocht, da man dafür Bedienstete hat.

Der Pümpel wandert auf jeden Fall in den Keller, und gemäß Murphys Gesetz bedeutet das, dass spätestens in zwei Wochen unsere Toilette verstopft sein wird.

Aber bei allem Rumgeunke über Marie Kondos realitätsferne Theorien: Es ist tatsächlich so, dass es einem – besonders als Mensch, der innerlich nicht immer aufgeräumt ist – hilft, äusserliche Ordnung zu schaffen. (Hat mir zumindest eine gute Freundin, die namentlich nicht genannt werden möchte, erzählt…) Und je chaotischer die Welt ist, desto mehr sehnen sich die Menschen nach Ordnung – zumindest in ihren heimischen Schubladen: Wenigstens dort kann ich über Ordnung, Hierarchie und Leben (behalten) oder Tod (wegwerfen) entscheiden, und das ist erstmal tröstlich.

Wenn man jedoch das ganze Aufgeräume, Ausgemiste und Gekategorisiere nicht nur aus Langeweile betreibt, sondern damit ein bestimmtes Ziel verfolgt, kann es doch eigentlich nur darum gehen, dass wir uns so wenig wie möglich mit unserem Gerümpel beschäftigen müssen und dadurch mehr Zeit und Energie für Wesentliches haben: Echte Beziehungen, unkäufliche Erfahrungen, Bildung, Bewegung, Müßiggang… Alles wichtige Grundvoraussetzungen für die (Weiter)entwicklung unseres Urteilsvermögens. So könnte die Schubladisierung unserer Socken und Schlüpper zur Eindämmung des grassierenden Schubladendenkens beitragen. Das haben wir uns nämlich nur aus Faulheit, beziehungsweise aus Energie- und Zeitspargründen ausgedacht. 

Andere Menschen, wichtige Themen unserer Zeit und nicht zuletzt auch uns selbst nicht einfach in schwarz oder weiss, oben oder unten, gut oder schlecht zu unterteilen, sondern nach unseren ganz eigenen Maßstäben – und ohne dabei unsere Werte zu verraten – zu differenzieren, kostet zwar Kraft, doch wenn man diese aufbringt, kann das durchaus Freude und Inspiration bringen und würde die Welt und das Zusammenleben für uns alle angenehmer machen. Wenn schon Wohlstand, dann mit An- und Verstand. 

Ich hoffe auf jeden Fall, dass mich meine Cocooning-Phase nicht immer kleinere, sondern schlussendlich wieder größere Kreise ziehen lässt. Frei nach dem Motto: Ich weiß, wo mein Pümpel steht. Jetzt mit freiem Kopf hinaus in die Welt!

Iris Boss © Petrov Ahner

Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet. Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin. In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.

Iris Boss bei CulturMag.

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