
Diktatur und Dreck
Wenn ich Diktatorin wäre, hieße meine Diktatur die „Die-da-Diktatur“. Erstens, weil es lustig klingt, und zweitens, um ganz klar zu machen, dass ich nicht „die da oben“ bin. Schließlich soll mir das Volk nicht die Schuld für all sein Unbill in die Schuhe schieben, es soll mich lieben, verehren und lobpreisen – wozu hält man sich denn sonst so ein Volk?
In meiner „Die-da-Diktatur“ wären „Meine eigenen Bedürfnisse ernst, mich selbst nicht so ernst nehmen“, „Ein trefflicher Mitmensch sein“, „Zuhören“ und „Warum ich nicht der Nabel der Welt bin“ Schulfächer. Ausserdem müsste jeder Diktierte (wie nennt man eigentlich die „Untertanen“ einer Diktatur?) täglich einen mindestens einstündigen Spaziergang, allein, ohne Telefon und wenn möglich in der Natur nachweisen. Alle, die mit Regierungs-Entscheidungen betraut wären, mindestens zwei Stunden und ich selbst drei.

Im Moment dürfte man als Diktator tatsächlich ziemlich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. (Als Diktatorin müsste man sich wahrscheinlich erstmal mit dem Ressentiment rumschlagen, man sei ja bloß die Quoten-Frau der Diktatoren-Branche, aber das müssen ja beispielsweise Virologinnen in ihrem Metier auch.) Vor allem diejenigen, die am lautesten „Corona-Diktatur“ schreien, versuchen (wahrscheinlich ohne es selbst zu merken) mit aller Kraft, eine solche zu erschaffen. Wie viel Energie muss es kosten, den gesunden Instinkt, der ganz einfach darin besteht, uns selbst und unsere Artgenossen so gut wie möglich vor Ansteckung zu schützen, zu unterdrücken? Wer sich so unmündig verhält, macht sich selbst zum geborenen Untertanen.

Nur mal so als Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn die Bundesregierung das Tragen von Schutzmasken im öffentlichen Raum verböte? Weil es gegen das Vermummungsverbot verstösst oder was weiß ich… Dagegen würde auch ich protestieren. Aber bevor ich auch nur „Piep“ gesagt hätte, würden die Maskenverweigerer von heute bereits als „Masken-Rebellen“ durch die Strassen ziehen – „Recht auf Maske!“ und „Maske tut not, sonst droht der Tod!“ skandierend, so laut es die illegal getragenen Masken zulassen.
Ich bin nicht nur für zivilen Ungehorsam, ich halte ihn sogar für unverzichtbar in einer Demokratie. Aber er setzt Mündigkeit und Selbstverantwortung voraus. Ich bin sehr dafür, die Entscheidungen der Machthabenden zu hinterfragen, aber das setzt das Bewusstsein voraus, dass in einer Demokratie auch jede und jeder von uns zu den Machthabenden gehört.
Welche Optionen gibt es in einer Gesellschaft mit Menschen umzugehen, die nicht dazu bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und Rücksicht auf ihre Mitmenschen zu nehmen? Mit Leuten, die auf dem vermeidlichen Recht bestehen, ihren Egos freien Lauf zu lassen und gleichzeitig von „denen da oben“ erwarten, dass sie sie vor den Egos der anderen schützen und sie gegen die (finanziellen) Folgen der Pandemie so sehr absichern, wie es ein funktionierender Sozialstaat nur kann? – Ein Sozialstaat, bestehend aus Egoisten? Eine Anarchie mit perfekt funktionierendem sozialem Netz? Aber wer sorgt dann dafür, dass der Mitmensch, der mir auf den Kopf gehauen hat, eine Strafe kriegt und das in Zukunft unterlässt? Und wie sorge ich dafür, dass ich, und nur ich, keine Konsequenzen zu befürchten habe, wenn ich (weil das eben nun einmal zur freien Entfaltung meiner Persönlichkeit gehört) meinem Mitmenschen auf den Kopf haue? Da muss dann wirklich eine Diktatur her. Und zwar eine, in der ich diktiere. Und genau das steckt hinter dem Diktatur-Geschrei: Keine friedliebenden Freigeister, sondern gekränkte Möchtegern-Diktatoren ohne Reich.

Wenn ich es mir so recht überlege, ist Diktator unter diesen Bedingungen ein ziemlich undankbarer Job. Man könnte es ja doch keinem recht machen. Abgesehen davon wäre ich eine denkbar ungeeignete Diktatorin. Schon die Erziehung eines Hundes würde mir zu viel Autorität abverlangen. Noch mehr Probleme als damit, mir sagen zu lassen, was ich zu tun habe (und damit habe ich keine geringen Probleme), habe ich damit, einem anderen Wesen auch nur die kleinsten Anweisungen zu geben. Das macht mir ganz einfach keinen Spaß!
Aber auch sonst war ich nie weiter davon entfernt, das Heft in die Hand zu nehmen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die letzten Monate haben mich zwar mir selbst näher gebracht, mich klarer sehen lassen, was ich will und was ich nicht (mehr) will, wer ich jenseits von beruflichen Erfolgen und „ich müsste“, „ich sollte“, „hätte ich mal“ bin. Dafür ist meine Verwirrung, die Unklarheit und Unsicherheit, was die Geschehnisse in der Welt um mich betrifft, gewachsen. Sogar noch mehr, seit im Herbst wieder eine gewisse äußere „Normalität“, zumindest was meinen Arbeitsalltag betrifft, Einzug erhalten hat.

Seit Anfang Oktober bin ich endlich wieder „on the road“ (klingt irgendwie cooler als „auf der Strasse“). Eine Theatertournee die theoretisch durch Deutschland, die Schweiz und Luxemburg führen soll und die theoretisch bis Weihnachten dauern soll. Noch proben wir auf eine Premiere hin, von der niemand weiß, ob sie stattfinden wird.
An einem Abend in meinem Hotelzimmer in Hamburg, lese ich die neusten Nachrichten: Sperrstunde in Berlin, Beherbergungsverbote… Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie ist der Gedanke, dass das vielleicht nicht mehr weg geht, kein rein hypothetischer mehr. Die Vorstellung, dass das keine schwere Zeit ist, durch die wir durch müssen, sondern der Beginn einer neuen Zeit, ist auf einmal so konkret, dass mich ihre Schwere auf das Hamburger Hotelbett drückt. Ich habe keine Ahnung, warum das ausgerechnet jetzt passiert.

Ich habe seit zwei Wochen keinen anderen Menschen mehr berührt. Die Hygienevorschriften sind streng: Auch auf der Bühne muss der Mindestabstand eingehalten werden. Ich staune, wie sehr ich in all den Jahren tatsächlich gelernt habe, meinen Impulsen auf der Bühne unzensiert zu folgen. Mehr als einmal muss der Regisseur die Probe unterbrechen, weil ich Kollegen auf der Bühne zu nahe komme. Auch hinter der Bühne wird auf Körperkontakt verzichtet. Habe ich jemals mit einem neuen Regisseur gearbeitet, ohne ihm beim Erstkontakt die Hand zu geben? Wie werde ich die lange Zeit (wenn es denn tatsächlich dazu kommt) überstehen, ohne Umarmungen, ein kurzes Berühren an der Schulter unter Kollegen? Schon jetzt, nach zwei Wochen, fällt mir das sehr schwer. Ich freue mich wie ein Kind auf Weihnachten auf die ersten Masken-Proben. Absurderweise wird die Maskenbildnerin, die Person, die die Maske in ihrer Berufsbezeichnung trägt, die einzige sein, die mich berühren darf – wenn auch selbstverständlich nur mit Maske.

Ich stelle mir gerade vor, dass wir Schauspieler in der Gesellschaft der Zukunft die „Kaste der Unberührbaren“ sind: Da alle anderen Menschen Abstand voneinander halten müssen, die Regierung aber erkannt hat, dass die Menschen es brauchen, zwischenmenschliche Aktionen wenigstens zu sehen, dürfen wir uns vor der Kamera oder auf der Bühne berühren, zahlen aber mit einem Privatleben in totaler Isolation. Doch wahrscheinlich ist das kein futuristischer sondern ein gnadenlos nostalgischer Traum. Es wäre einfacher, billiger und vor allem hygienischer, uns durch computeranimierte 3 D- Modelle zu ersetzen.
Neben Berührungen sehne ich mich am meisten nach Dreck: Nach durchgetanzten Nächten zwischen mir unbekannten, schwitzenden Körpern, nach lauten, verrauchten Kneipen, nach Konzerten, bei denen man jeden zweiten Menschen umarmt und einige küsst. Ich sehne mich danach, schmerzlich zuweilen, und weiß trotzdem, dass es gut ist, dass das im Moment nicht geht. Ich versuche mich auf das Stück und die Proben zu konzentrieren – auch wenn das manchmal schwerfällt, wenn man nicht weiß, ob man überhaupt spielen wird. Und ich mache jeden Tag einen langen Spaziergang auf dem ich – wenn keiner hinsieht – Bäume umarme und mich darin übe, meine Bedürfnisse ernster und mich selbst weniger ernst zu nehmen.

Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet. Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin. In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.
Iris Boss bei CulturMag.