Aberdeen hat eine multiple Persönlichkeitsstörung
– Stuart MacBride mögen wir. Schließlich ist er ein großer Autor von komischer Kriminalliteratur, der Ritterschlag beim CrimeMag. Wir, d. h. Nele Hoffmann, hat ihn schon 2008 porträtiert (siehe hier), TW hat ihn einlässlich rezensiert (hier) – und jetzt hat ihn Marcus Müntefering in seinem Biotop besucht und live gesprochen:
Glasgow oder Edinburgh? Nein, Aberdeen! Nicht in einer der beiden bekannten Metropolen Schottlands spielen die Thriller Stuart MacBrides, sondern in der Stadt, in der er aufgewachsen ist und die ihm immer noch am Herzen liegt. Dabei lebt der Mann inzwischen ein ganzes Stück nördlich von Aberdeen; anderthalb Stunden sei er mit der Bahn unterwegs gewesen für dieses Treffen, sagt MacBride, lächelt dabei ein Lächeln, das gleichzeitig einladend und verschmitzt wirkt, und sinniert einen Moment darüber, dass er es vielleicht übertrieben habe mit der Flucht aufs Land, schließlich müsse er jedes Mal, wenn er zu einer Lesung oder einem Interview unterwegs sei, diesen endlosen Weg auf sich nehmen, um zum Flughafen zu kommen.
Er genießt es, mal wieder nach Aberdeen zu kommen, eine Stadt, die für ihn eine Herzensangelegenheit ist. Wie sehr, das spürt man bei der Lektüre seiner Bücher, die dieser granitgrauen Maus von einer Stadt – Spitzname „Granite City“ – einen düsteren Glamour geben, der sich zumindest einem Erstbesucher nicht auf Anhieb erschließt. Der sieht zunächst: einen verbauten Hafen samt gigantischer Shoppingmall und Dauerstau, die Haupteinkaufsstraße mit den üblichen Kettenläden, die sich die Innenstadtmieten noch leisten können, einen Haufen Kirchen, die zu scheußlichen Themenkneipen umfunktioniert wurden.

Pittoresk verfallen: Der Friedhof der Kirk of St Nicholas mitten in der Hauptshoppingstraße Aberdeens. Ein Ort, den MacBride schon für mehrere Romane verwendet hat
Auf der Suche nach der Filiale der Buchhandelskette „Waterstone’s“, wo wir verabredet sind, laufe ich die Union Street hinunter – und finde zufälligerweise gegenüber von einem McDonald’s und einem Schuhladen einen Friedhof. Kein Zufall ist es natürlich, dass der steinalte Friedhof samt dazugehöriger Kirk of St Nicholas gleich in mehreren Romanen MacBrides eine prominente Rolle spielt, so auch in „Close to the Bone“, der unter dem Titel „Das Knochenband“ vor kurzem auch in Deutschland veröffentlicht wurde (Goldmann, 608 S., 9,99 Euro, TW dazu auf kaliber.38):
„Der Friedhof der St Nicholas Kirk liegt im warmen Schein der Vormittagssonne, die uralten Grabsteine aus Granit baden ihre flechtenbewachsenen Gesichter in ihren Strahlen. Die Kirche nagt mit gezackten dunkelgrauen Zähnen am Himmel, und mit ihren Augen aus schmutzigen Buntglasfenstern starrt sie finster auf Lebende und Tote zugleich herab.“ (Das Knochenband, S. 148 f.)
Selten finden sich in MacBrides Romanen Passagen, die so deskriptiv sind wie diese, er hält sich nicht lange mit Beschreibungen auf, erzählt schnell, dialoglastig, pointiert. In Großbritannien wird dieser Tage mit „The Missing and the Dead“ bereits der 9. Band seiner Reihe um den Polizisten Logan McRae erscheinen – in nur zehn Jahren, in denen MacBride auch noch vier Nicht-Logans geschrieben hat. Nur vier Tage im Jahr würde er nicht schreiben, sagt MacBride, und man merkt ihm an, dass es gern auch anders sein dürfte, aber er eben an Verträge gebunden ist. Abnutzungserscheinungen sind dennoch nicht festzustellen. Das liegt vor allem an seinen Figuren, die gleichzeitig liebens- und bedauernswert sind und bei aller Zuspitzung immer nah am echten Leben agieren. Das gilt vor allem für seinen Helden Logan McRae, der seit einem Nahtoderlebnis Lazarus genannt wird, aber nicht viel von einer biblischen Figur an sich hat. Auch mit den meisten handelsüblichen Krimipolizisten hat Logan wenig gemein. Der Detective Sergeant ist kein großer Denker, Grübler oder Zweifler, sondern ein weitgehend gewöhnlicher lad, der seinen Job engagiert erledigt, Karriere machen möchte, im Pub auch mal ein Glas zu viel trinkt und mit den Frauen so seine Probleme hat.
Und der unter seinen Vorgesetzten leidet, weil er nicht weiß, wie er sich wehren soll, was sich auch nach seiner kürzlichen Beförderung zum Detective Inspector nicht geändert hat. War es in den ersten Bänden noch der fettleibige Choleriker DCI Insch (mit dem es eine Wiederbegegnung im „Knochenband“ gibt), muss Logan seit dessen Abgang (Burn-out) der kettenrauchenden und dauerfluchenden Lesbe Steel zu Diensten sein, die nicht ohne Grund auf Logans Mobiltelefon das „Darth Vader Theme“ aus „Star Wars“ als Klingelton zugewiesen bekommen hat. Natürlich ist die überkandidelte Egozentrikerin mit dem Hang zu drastischen Sprachbildern zwar ebenso hart wie ungerecht, aber dabei so lustig und konfus, dass man sie einfach mögen muss. Eines von unzähligen Beispielen:
Im „Knochenband“ spottet sie über einen Verdächtigen und sein angebliches Alibi, eine Liebesnacht – „Amourös? Reuben? Mein Gott, kannst du dir den beim Sex vorstellen? Das wär ja so, wie wenn ein Warzenschwein ein Fabergé-Ei fickt.“
Als Stuart MacBride pünktlich die Rolltreppe in den ersten Stock des „Waterstone’s“ hochfährt, hätte ich ihn zunächst fast nicht erkannt. Denn er hat recht wenig gemein mit dem Mann, dessen Foto man bei „Waterstone’s“ zusammen mit den Porträts anderer berühmter schottischer Autoren über die Rolltreppe gehängt hat. Wirkt er auf seinem Foto wie eine eindrucksvolle Mischung aus Philosoph und Druide – mysteriös und abgründig –, so kommt er in persona mit seinen Freizeitklamotten, einem veritablen Bierbauch, einer Körpergröße von maximal 1,68 Metern und dem zunehmend lichten Haupthaar eher unscheinbar daher. Dafür ist er aber ausgesucht höflich, er beginnt das Gespräch mit einer Beobachtung aus Deutschland, wo das Essen ausgesprochen lecker sei und er bei Lesungen lange Passagen aus seinen Büchern vorlesen könne, was in Großbritannien nicht der Fall sei.
Marcus Müntefering: Vor „Das Knochenband“ haben sie mit „Das 13. Opfer“ den ersten Band einer neuen, kurzen Serie herausgebracht. Brauchten Sie etwa eine Pause?
Stuart MacBride: Nein, aber ich wollte mal etwas anderes machen, eine Geschichte von shakespearschen Ausmaßen über einen Mann, der aufgrund seiner eigenen Fehler zu Fall kommt. Alles, was meinem Held Ash Henderson passiert, hat er sich selbst zuzuschreiben.
MM: Shakespeare, das ist aber ambitioniert …
SMB: Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will mich nicht mit Shakespeare messen. Aber „Das 13. Opfer“ ist wie ein klassisches Drama, nur dass es nicht um Hochwohlgeborene wie Hamlet oder King Lear geht, sondern um Typen, die unsere Nachbarn sein könnten.
MM: Alle Ihre Romane enthalten Szenen von großer Drastik, aber im „13. Opfer“ finde ich, haben Sie es etwas übertrieben, indem Sie Ash Henderson einen Verdächtigen mit Waterboarding verhören lassen.
SMB: Aber das ist doch nichts anderes als das, was unsere Regierungen ihren Gefangenen tatsächlich antun. Ich habe viel zu dem Thema recherchiert und herausgefunden, dass Waterboarding bereits seit 1462 praktiziert wird, zuerst von den Holländern. Die heutige Form dieser Foltermethode geht allerdings auf Pol Pot zurück. Klar ist das alles nicht schön, aber ich finde, dass viel zu viele Krimileser zu gern auf der Oberfläche bleiben und möchte sie mit den Dingen konfrontieren, die Menschen einander tatsächlich antun. Und ich heiße die Gewalt, die Ash ausübt, keinesfalls gut. Er ist kein sympathischer Mensch, was Leser, die dazu neigen, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, verstören mag.
MM: Dafür ist Logan McRae ja umso sympathischer, eine Art Jedermann, mit dem sich sicherlich viele Leser identifizieren können. Wie kamen Sie auf die Idee, keinen genialen Detektiv, sondern einen einfachen Polizisten zur Hauptfigur ihrer Romane zu machen?
SMB: Nun ja, natürlich kenne und liebe ich all die großartigen Detektive der Literaturgeschichte. Aber jeder von diesen Figuren, die allesamt larger than life sind, hat seinen deutlich geerdeteren Sidekick – Rebus hat Siobhan, Morse hat Lewis, Holmes hat Watson –, und ich dachte einfach, es wäre doch mal spannend, aus deren Perspektive zu erzählen. Logan ist kein einsamer Wolf, hat nicht viele Eigenschaften, die ihn besonders machen. Und seitdem er fast gestorben ist, hat er diese Narben und Schmerzen und kann nicht einmal ein echter Actionheld sein.

Wer braucht schon Buchläden? Früher hat MacBride hier Lesungen gehalten, dann kamen ein polnischer Friseur und eine thailändische Ladyboy-Show. Heute steht der Laden leer
MM: Logan hat sich im Verlauf der Bücher verändert, vor allem seitdem er selbst zum Detective Inspector befördert wurde. Wie würden Sie diese Veränderung beschreiben?
SMB: Er ist deutlich zynischer geworden. Die schrecklichen Dinge, die er gesehen und erlebt hat, haben ihn mehr wie seine Chefin DCI Steel werden lassen.
MM: Logan ist auch ein Prügelknabe. Zum einen bekommt er ständig von seinen Vorgesetzten einen eingeschenkt, zum anderen wird er eigentlich in jedem Buch aufs Neue körperlich malträtiert. Sind Sie etwa ein Sadist?
SMB: Nein, keinesfalls! Gewaltszenen schreibe ich in der Regel aus der Perspektive des Opfers, sodass der voyeuristische Aspekt wegfällt. Gewalt ist entsetzlich, fies, schmerzhaft, und genau das will ich in meinen Geschichten spürbar machen.
MM: Ihre Bücher werden gern als Tartan Noir bezeichnet. Ist das mehr als ein Label?
SMB: Tartan Noir ist wie ein großer Sack, und jeder, der in Schottland Krimis schreibt, wird reingesteckt. Letztlich hilft der Begriff dabei, Bücher zu verkaufen. Was amüsant ist, denn echter Noir verkauft sich in Großbritannien nicht so besonders.
MM: Als einer der Begründer der schottischen Spielart des Noir gilt William McIlvanney, dessen „Laidlaw“-Romane gerade in Großbritannien, aber auch in Deutschland wiederentdeckt werden …
SMB: Natürlich verdanken wir ihm viel, aber die Wurzeln des schottischen Noir liegen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Robert Louis Stevensons „Dr Jekyll and Mr Hyde“ ist eine richtige Noir-Story und eines der Herzstücke der schottischen Literaturgeschichte. Heute liest sich das Buch vielleicht wie ein amüsantes Schauermärchen, aber tatsächlich ist es ein düsterer Krimi über einen Mann, der zerbricht. Das Thema der meisten Noirs.

Das HQ der Polizei von Aberdeen. Auch wenn MacBride in seinen Romanen nicht zimperlich mit den Coppers umgeht, braucht er sich nicht zu verstecken
MM: McIlvanney schreibt Kriminalromane, in denen das Verbrechen nur das Symptom einer kaputten Gesellschaft ist. Wie sieht es bei Ihnen aus?
SMB: Ich habe einen anderen Ansatz. Ich schreibe filmisch, sehr direkt. Ich mag keine Exposition, keine Hintergrundgeschichten. Ich will, dass man meine Figuren über das kennenlernt, was sie sagen und tun, nicht dadurch, dass ein allwissender Erzähler sie erklärt.
MM: Also das, was Elmore Leonard „show, don’t tell“ genannt hat …
SMB: Ja, viele Informationen über die Figuren sind in den Dialogen versteckt. Bei mir gibt es kein „Achtung, jetzt wird es wichtig!“. Ich liefere alle nötigen Informationen, aber der Leser muss danach suchen. Allerding bin ich mir nicht sicher, ob ich mir damit immer einen Gefallen tue …
MM: Weil Sie den Leser überfordern?
SMB: Genau, die meisten Krimileser bevorzugen eine traditionelle Erzählweise. Ich aber schreibe für den sophisticated reader, der nicht gern bevormundet oder reingelegt wird.
MM: Aber man könnte Ihre Romane dennoch als police procedurals bezeichnen, oder?
SMB: Ja, aber nur an der Oberfläche. Denn mich interessieren in erster Linie die Figuren. Denn ohne interessante Figuren kann auch ein noch so raffinierter Plot nicht funktionieren. Und es gibt schon genügend Bücher, in denen die Figuren nur dafür da sind, aufgeregt durch die Gegend zu laufen und beschossen zu werden.
MM: Was Ihre Kriminalromane von der Masse unterscheidet ist auch der Humor. Außer Colin Bateman kenne ich kaum einen Autor, dessen Bücher mich dermaßen häufig zum Lachen bringen …
SMB: Also, ich kenne kaum einen Menschen, der keinen Sinn für Humor hat, und das gilt auch für die Polizisten unter meinen Bekannten. Den meisten Figuren in Krimis geht das aber völlig ab, die Polizisten sind allein darauf fixiert, ihren Fall zu lösen. Das ist ziemlich unrealistisch, finde ich.
MM: Vor kurzem fand in Schottland das Referendum über die Unabhängigkeit statt, mit bekanntem Ausgang. Wie hätten Logan und Steel sich entschieden?
SMB: Steel hätte zweifellos dafür gestimmt, einfach, weil es ihr Spaß machen würde, zu sehen, was passiert. Und Logan hätte sich wohl erst in der letzten Sekunde entschieden, nachdem er sorgfältig alle Argumente abgewogen hätte.
MM: Und Sie?
SMB: Ich habe mich im Vorfeld nicht dazu geäußert, weil ich anders als andere Prominente ein Problem damit habe, mich hinzustellen und zu sagen (spricht mit tiefer Stimme): „Ich bin so wichtig, also hört, was ich mitzuteilen habe.“ Wie ich gewählt habe, möchte ich immer noch nicht verraten, aber soviel noch dazu: Wären wir in die Unabhängigkeit gegangen, dann wäre es schön gewesen, wenn es mit einem positiven, zukunftsgerichteten Gefühl gewesen wäre, nicht nur als „Screw you“-Geste. Letzteres wäre allerdings typisch schottisch gewesen. Very thrawn.
MM: Was bedeutet das Wort thrawn?
SMB: Das heißt, wir lassen uns nicht gern herumschubsen und tun in der Regel das Gegenteil von dem, was man uns sagt. Auch Ian Rankins Rebus hat diese Haltung. Bei ihm hat man das Gefühl, seine Motivation bestünde vor allem darin, allen anderen zu zeigen, dass sie falsch lagen und er richtig. Für viele schottische Detektive gilt, dass es ihnen weniger darum zu gehen scheint, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, als Recht zu behalten.
MM: Dabei wirken die Schotten so freundlich und hilfsbereit …
SMB: Dann kommen Sie mal nach Aberdeen, wenn die Pubs am Freitag schließen!
MM: Wo wir beim Thema Trinken sind: Sehr beliebt hierzulande ist ein giftig-orangefarbenes, supersüßes Limonaden-Gesöff namens Irn-Bru. Warum bloß?
SMB: Damit sind wir eben aufgewachsen. Außerdem hilft es gegen den Kater. Wirklich!
Bevor wir uns auf den Weg ins Pub machen, wo wir bei ein paar Pints off the record über die Branche und andere Autoren plaudern, wandern wir noch ein wenig durch die Straßen von Aberdeen. Auf dem anderthalbstündigen Rundgang kommen wir an oben erwähntem Friedhof vorbei, auf den MacBride bereits als Kleinkind von seinem Vater erschreckt wurde, am Polizeihauptquartier, wo auch Logan Dienst tut, und an der Straße, wo er früher gelebt und gearbeitet hat und die heute zum Rotlichtviertel gehört, das allerdings nur aus zwei kurzen Gassen besteht. Alle Straßen, alle Pubs und Restaurants in MacBrides Romanen gibt es wirklich, man könnte die Bücher also auch als alternative Reiseführer benutzen. Nur: Hier macht keiner Urlaub. Warum auch? Letzte Frage also an Mr. MacBride, bevor er den Zug zurück in den hohen Norden nimmt:
MM: Was macht Aberdeen so besonders?
SMB: Das Wetter, das sich ständig ändert. Und damit ändert sich auch die Atmosphäre in der Stadt unentwegt. Ian Rankin hat einmal über Edinburgh gesagt, dass die Stadt aufgrund ihrer Zweiteilung schizophren sei. Aberdeen hat aufgrund des Wetters eine multiple Persönlichkeitsstörung.
Marcus Müntefering
Fotos: Marcus Müntefering. Zu seinem Blog. Zur Homepage von Stuart Mac Bride.