Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Markus Pohlmeyer: Corona-Zyklus (II) – #Covid-19-Gedichte

Einsamkeit in Zeiten von Corona 

(Inspiriert von einer Zeile bei Tomas Tranströmer)

1
Vor 
Deiner Tür 
Schlange stehen
Aber unsichtbar
Bin ich habe 
Keinen Körper
Gleich dem Winde 
Nur ein Hauch 
Ich … ich weine, 
Du hörst es nicht. 
Zu viel Lärmen der
Anderen Wartenden

2
Das Glück, 
Vergessen zu werden,
Dies Unglück. 
Die Gnade, 
Vergessen zu können. 
Der Schmerz,
Vergessen zu haben.

3
Dieser Schock, dass Wälder, Alleen, Seen,
Meere und Wolken, Sonnenuntergänge
Und Morgennebel, Schmetterlinge und
Nachtigallen die gleichen Gefühle
Auslösen wie Menschen. Dass Zahlen
Mein Universum beschreiben.

4
Eine vollkommene Schönheit sehen …
Und darüber nur ein unvollkommenes
Gedicht schreiben können.

5
Selbst die Toten 
Vergaßen meiner:
Wo gingt ihr hin? 

Oft gehe ich allein über den 
Alten Friedhof
Als ob die Zukunft
Sich mir zeigte, 
Als ob sie vor mir
Ausgebreitet läge, so still.
Unerbittlich, jene 
Vergangenheit jetzt.

Kühle Gräberschatten
Und gemauerte Bäume,
Welkende Gitter und
Rostende Narzissen
Im Dunkel dieses
Schattenganges …

6
Nachts in Lissabon: die Bica,
Der dunkelnde Ozean, ein
Hafen, so verloren.
Wer sagte im Anblick der 
Alhambra? Wenn ich liebe, 
Ist das hier alles
Nur Staub dagegen!
Wer geht betend durch 
Die Mezquita?
Welches Cello singt „Kol Nidrei“?
Wo bist du?
Hörst du mich klagen, weinen, lieben?
Ausgeblasen wie eine eben noch
Brennende Kerze. Auslöschung.
Ein Geist nun, der unsichtbar
In einer fernen Straßenbahn fährt,
Fährt – über das Meer hinaus.

7
Bedauern

Nur für uns ewig:
Rom, Dichternamen und
Die vergänglichen Sternbilder.
Warum hatte ich nicht den Mut?
Dir das innerste Wesen meiner Gedichte
Auf die Lippen zu legen: einen Kuss.
Worte, Wörter, ach, sie flattern wie
Vögel davon. Blätterflügel, farblos.
Als ob ein wenig Schwarz so viel
Ruinenweiß überdecken könnte.

8
Meine Welt ist plötzlich verschwunden,
Doch anderen Welten sind noch da: was
Für ein Trost in der Trauer, die ich in
Eine Truhe packen kann – mit der 
Aufschrift ‚Treue‘. 

Treu bist du, Kosmos,
In deiner Größe jenseits der
Menschlichen Bauwerke, seien es nun
Brücken, Hochhäuser, Kriegsschiffe,
Flugzeuge, Banken oder nur das Ich.

Also ich (das – wenig paradox –
Zurücktritt von seinem Ich-Sein, weil
Es das eigene Woher nicht kennt, auch
Nicht jenes Wohin), nein, du, ja
Du: Erzähle mir zum Trost meine
Geschichten von damals. Aus deiner Sicht.

9
Nie mehr 
Morgens mit dir frühstücken
Oder dich um Rat fragen. 
Können. Verblassende Erinnerung.
An der ich verzweifelt festhalte,
Als verlöre ich mich mit ihr.

10
Lieber Gott, du machst alles so gut – sagt man.
Bis auf, dass man sich schon seit den ersten Seiten der
Bibel bemüht, dich verzweifelt zu entschuldigen.
Neben der ständigen Vernichtungsangst –
Das Sehen der Gräber anderer ist immer
Ein Blick in meine eigene Zukunft – heute wieder
Corona; dazu woanders Sturm und Überschwemmung,
Verhungernde Kinder (Schon ein Klassiker?
Oder was meinst du, Gott?). Und erst
Jener Komenteneinschlag, der die Dinosaurier
Auslöschte. Ganz großes Kino. Nein, ich
Verstehe den Kosmos nicht, nicht seine
Realen Erscheinungen, nicht das, was dahinter
Liegt: von der Quantenmechanik bis zur 
Relativitätstheorie. Loslassen? Staunen?
Um Gnade bitten? Aber was sind schon
Kometen oder Corona gegen die Mordmaschine
Mensch? Wie darauf reagieren?
Erobern? Sich kreuzigen lassen? Mit einem
Lächeln entschwinden?

11
Corona zeigt, was ist oder
Vielmehr, was fehlt.

Zeigt die Lügner:
Könige über Leichenhallen,
Könige über brennende Urwälder,
Könige über Gespensterimperien.

Zeigt auch die Formen
Moderne Sklaverei.
Zeigt den Schmerz
Unseres gequälten Planeten.

Es fehlen:
Wissenschaft, Krankenhäuser,
Wertschätzung und Würdigung, 
Bildung. Schutz der Umwelt.

Sich frei umarmen,
Sich küssen dürfen.
Die geistige Körperlichkeit
Eines handfesten Dialoges.

12
Ein zitterndes Gewitter rauscht über
Die donnernden Dächer hinweg. 
Im Kosmos funkelnde
Supernovae und Welten verschlingende
Schwarze Löcher im kreisenden
Tanze. Und das wirbelnde Werden
Neuer Sterne und wimmelnde Planeten 
Voller Leben. Wo gehöre ich da hin?

13
Ein Bild von Zedenĕk Burian, 
Das mich fesselt und verstört:
Diese schier unendliche Taiga-
Landschaft im Quartär.
Im Vordergrund, ein Bär auf
Dem Weg zu einem Fluss.[1]
(Ich bin nichts anderes als
Dieses Tier oder diese endlosen
Wälder.) Geister, durch uns wandernd
Von Äon zu Äon.
Als ob alles eine gemalte Stille
Wäre. Ich sah durch die Zeit,
Sah mich an einem kosmischen Ufer
Aus Elektronen und Galaxien
Und Sternenströmen. Meine kleinen 
Spuren im Sand, nennt sie Gedichte,
Verwischten, verschwanden.
Ich? Das waren wirbelnde Elektronen,
Die sich kurz zu einem Tango
Mit Photonen trafen und 
Woanders zu einer
Anderen Symphonien, gestern?
Morgen? wieder auftauchen …
(Kommt darauf an, wie ich sie
Sehe.)
Auch wenn mein Körper
Unwiederbringlich zerfallen wird
(Knochen und Pyramiden):
Doch ein wenig Dankbarkeit
Über dieses Wunder, zu wissen,
Dass ich ein kleiner Vers war in
Der kosmischen Geschichte.
Wer kommt nach uns?
Wer vermag, dies zu lesen?
Vergiss meiner nicht …

14
Das Virus kam über den Ozean.
Löschte die Ureinwohner aus.
Hielt sich Sklaven von einem anderen
Kontinent. Fraß sich dann um die Welt
Aus lauter Gier. Ich finde Trost
In den Bäumen mir gegenüber,
Und selbst diese schwinden,
Unsichtbar krank, verdurstend …

15
Die Welt jenseits unserer Welt
Und das Diesseits der Dichtung fallen
In der Quantenmechanik ineins:
Mathematik wird Poesie und
Umgekehrt. Ich kann es nur 
Erträumen, nicht fassen:
Obwohl ich Hand, Tisch und
Wind spüre … Ich bin ein Universum
Von Atomen, das sich selbst
Und jenen Kosmos sieht, 
In dem es lebt (weil es ihn sieht?),
Der sich selbst sieht als ein
Universum, das er ist … und
Nicht ist: hierdortnirgends.
Immerjetztnie.

16
Ein guter Freund rief an:
„Vergiss nie die Menschen, 
Die uns mögen.“
Eine gute Freundin
Schenkt mir Gespräche
Und ein anderer Freund
Sokratische Spaziergänge.
Im Abstand. Den unser
Gemeinsamer Geist
Spielerisch überbrückt. 
Zeitlos. Und auch Gott
Sollte sich nicht so verlassen
Fühlen, denke ich doch 
Oft an ihn.

17
Meine Sehnsucht aushalten.
Unerhört? Eine Frage, zu schwer,
Die immer und immer wieder
Keine Antwort tragen muss.
Wie ein Kreuz. Oder ein Lächeln.

18
Keiner hat mich gefragt.
Es ist richtig und vernünftig und wissenschaftlich.
Mein Herz weint.
Ohne dass du es hören darfst.
Es ist richtig und vernünftig und wissenschaftlich.
Damit noch jemand da ist,
Es später zu hören.
Es ist richtig und vernünftig und wissenschaftlich.

19
Ich tue immer wieder eine Folge
Von Handlungen, die mich an eine bestimmte
Grenze bringt. Ich imaginiere mir eine
Welt, die sich im Kreis dreht. Und wenn
Ich dann dasselbe hinzufüge, landet
Alles bei einer Null, obwohl Universen
Von mir bewegt wurden. So voll,
So strukturiert, so geheimnisvoll ist also 
Nichts.

20
Humanitas

Also, rein hypothetisch:
Ein krimineller Populist
Dächte so:
„Ach, lass Corona die
Drecksarbeit machen,
Von wegen Ureinwohner,
Dann können wir
Später in Ruhe ihre
Reservate plündern.“

Oder mit welchem Wasser
Sich in Flüchtlingslagern
Die Hände waschen 
Oder welcher
Abstand in Townships?

Was bleibt nach Corona?
Was, wenn Corona bliebe?

Es war einmal ein
Land, das von einer
Gottgleichen Partei beherrscht
Wurde. Durch einen Zufall
Und Unfall gelangte eine
Giftige Substanz in alle Ozeane
Der Welt. Ein Wissenschaftler,
Der davor gewarnt hatte, wurde
Tot geschwiegen. Die Opfer
Vertuscht. Die Partei hat
Alles richtig gemacht, habe
Alles richtig gemacht, hätte
Alles richtig gemacht usw.
Das nun giftgrün leuchtende
Meer vor der eigenen Haustür, 
Sagten die Parteimitglieder,
Sei doch ein wunderschönes Blau.
Und alle klatschten.
Und alle Meere leuchten nun tot.
Keiner hatte das Gesicht verloren.
Verloren. Verloren …

Wälder vertrocknen,
Vermüllte Meere,
Gletscher schwinden.
Die Natur unseres
Einzigen Planeten
In die Enge getrieben.
Keine Zukunft mehr,
Nur noch Gegenwarten,
Zu Tode kalkuliert.

Corona ist so mächtig
Wegen unserer
Unmenschlichkeit.

Das macht einsam …
Und traurig.

21
Dieser Baum, einsam
Auf fernem Felde.
Ich, am Wegesrand,
Halte ein, atme
Tief. Träume mich
Hinüber: in den Schatten
Der Äste, bis Wind und
Nacht Sterne zwischen
Die Blätter zaubern.

Dieser Baum, verrottend
Auf fernem Felde.
Ich, am Wegesrand,
Halte ein, Bundesstraße,
Baustelle, Stau.
Hupen. Hubschrauber über
Mir. Träume mich
Hinüber: in die Romantik,
Wo …

22
Dichtung, Poesie, Lyrik,

Wind, Blitz und
Sonne, Schnee und Herbst
Mich erodieren.
Selbst Schatten sind nur
Illusionen.

Die Unterwelt verzweifelt an sich,
Wenn sie eines Grenzgängers
Gesang unerträglich 
Schön
Empfinden muss. 

Ganges trägt
Die Asche mit fort, hinauf
Zum Himalaya, einst ein Ozean.
Das Schlimmste an einer zerrissenen
Liebe: einsame Erinnerung,
Dass sie war.

23
Dies gottgleiche Experiment
Einer blinden Natur:
Die sich selbst sehen möchte.
Sich entdeckt: ein Wunder, schöner als
Engel und entsetzlicher als alles andere,
Ein Ungeheuer. Oder nur gleichgültige
Metamorphosen?

24
Geil (bitte, das ist Ironie),
Geil finde ich auch diese Typen,
Die mit Intrigen, Lügen, 
Manipulation und Korruption
Nach ihrer Wahl
Behaupten, sie wären
Demokratisch legitimiert.
Am besten noch
Vom Lieben Gott.

25
Es war einmal ein Land,
Das sich demokratisch einen
Diktator gewählt hatte: einen reichen,
Korrupten Mann, der für die Armen zu kämpfen
Schien, einen Lügner, der Kritik als Zensur
Beschimpfte, einen Magier, der alle
Wissenschaft hasste. Und natürlich
Nicht hinhörte, weil vor so vielen
Genialen Stimmen in seinem Gehirn, die im
Chor „Ich“ jubelten, kein Platz mehr
War (für Du oder Wir). 
So mussten Tausende sterben.
Schuldige wurden gesucht. (Nero
Schob Christen den Brand Roms
In die Schuhe.) Also, der Diktator wollte
Weitermachen. (Man hätte ihn vielleicht
Nach einer Niederlage angeklagt, statt
Ihn auf Gottes Posten zu befördern.) 
Die Verfassung stand
Ihm da ein bisschen im Weg. 
Die Nahrungsmittel wurden
Plötzlich knapp; seine Anhänger schrien:
Errette uns! Da sagte eine Firma:
Lasset uns Sägemehl und rostige Nägel nehmen 
Und Brot draufschreiben. 
Ein Minister mahnte,
Das sei zu gefährlich. Der Minister
Wurde still gemacht. Und so jubelten
Die Anhänger des Königs,
Denn sie waren satt durch ihren Messias,
Der wieder gewählt wurde. Massenweise
Werden nun Menschen krepieren.
Das Monster kreischt weiter in seinem
Palast, die sabbernden Profiteure
Profitieren, die Kriecher kriechen,
So wie immer. So wie immer.
(Werbeblock: 
Gegen eine kleine Bearbeitungsgebühr
Lässt sich dieses oder jenes Naturschutzgebiet
Wieder zur Nutzung freigeben. Wählen Sie …!)

26
Vielleicht ist es auch gut, Amsel und
Biene wieder Platz zu machen, dem blauen
Himmel, dem klaren Fluss. Wie konnten wir nur
Glauben, ohne Fluss und Himmel leben zu können?

Vielleicht gab es in unserer Geschichte diesen einen
Moment, dass manche Völker sagten: nieder
Mit den Mauern, hoch mit den Eisernen Vorhängen.
Doch sie ahnten nicht von fern den Barbar, der
Schon lauerte, zum Plündern bereit, und seine
Horden. Wie Heuschrecken. Gehört ihnen nun
Der ganze, einzige Planet. 

Eine Biene saß auf meiner Hand, einfach so. 
Später: Gewitter 
Zogen vorbei. Amseln in nassen Ästen. 
Die letzten Regentropfen schlagen ihren 
Schwachen Takt. Sanfter, ruhiger. Ich warte, 

Höre, bin dankbar, dass ich
Noch gute Bücher lesen darf, dankbar, 
Dass ich diesen besonderen Moment sehen konnte, dass 
Als Möglichkeit da war, was hätte sein können: für
Alle Menschen. 

Ich berühre die Stille, bis
Sie mich berührt, und warte, auf die Nacht. 
Und meine Träume, sie begleiten mich 
Von hier bis dort hinüber.

27
Wir belohnen, wer Kasten
Mit gespielter Aufopferung stabilisiert.
Und beten an, wer Kasten
Erfunden hat, immer wieder erfindet.
Die größten Fake News: Als hätten wir
Einen sicheren Platz und auch 
Noch einen besseren als die da …

Es schuf mich die Welt: 
Durchgänge, Hinüberschreiten,
Metamorphosen, Labyrinthe.
Muss ein wenig über dieses
Kleine, weltbewegende Wort
Ich lächeln. 
Die Verheißung einer beständigen
Veränderlichkeit, dieses Fließen
Und Funkeln in allem, was ist.
Dies Wunder des Neuen und auch
Der Zerstörung Schmerzen,
Tod: zahllose Übergänge zu 
Unzähligen Leben. Mein Leben ist
Immer schon etwas Anderes. 
Weiß eine Sonne, dass
Ihre Asche irgendwann denken kann?
Dass sie Symphonien schreibt und
Sich selbst in ihrem Innersten entdeckt:
Als Formeln in einem Computer und
Als Stern in einem Gedicht ?

Doch wir wollen in Schachteln leben,
Nicht in Netzen: sie sind zu durchlässig
Für den wild-ruhigen Ozean und 
Seine veränderlichen Tiefen.
Die Erde als Scheibe scheint immer noch
Erträglicher als um eine Kugel wandernde
Kontinente auf gravitätischen Feuern. 
Oder ein Universum, das uns
Täglich geradezu anfleht, endlich aufzuwachen.

Wir rennen immer noch dem am lautesten schreienden
Affen unter uns hinterher, der kreischend Schachteln
Verspricht. Die Angst kriecht hinein.

Doch das Rad der Sterne schwingt sich jeden Abend
Gleichgültig in seiner Schönheit über uns hinweg,
Shivas Tanz der Galaxien. Und ein wenig Glück,
Wenn ein wenig Du durch die Risse meiner Seele
Sickert, die keine Risse sind, was ich erst lernen musste,
Sondern anfänglich nur Fenster, durch die mich
Die Schönheit anschaut, ruft, lockt. Bis an die Enden
Der GeZeiten, die wiederum nur ein neuer Anfang
Sein werden. Ewigkeit? Hier!


[1] Abgedruckt z.B. in Tiere der Urzeit. Die Entwicklung des Lebens auf unserer Erde, Illustrationen v. Z. Burian, 16. Aufl., Augsburg 1991, 174-175.

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa Universität Flensburg. Seine Texte bei CulturMag. Sein Corona-Zyklus Teil I bei uns hier. Seine SHUT DOWN Haikue in unserem Special hier.

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