
Diesseits und Jenseits
Gedanken zu Homer, Platon, Vergil und Cicero – Ein Essay
I Homer
Homer, Platon, Cicero und Vergil begleiten mich schon seit meiner Schul- und Studienzeit (Latein, Griechisch; unter anderem); und jedes Mal, wenn ich sie wieder lese, erscheinen sie noch faszinierender. Und je mehr ich sie zu verstehen vermeine (z.B. mit Hilfe von Kommentaren und Lebenserfahrung), umso mehr entziehen sie sich und wirken geheimnisvoller. Und: ich lese diese Texte zuerst und vor allem als Kunstwerke.
Homers Werke „Ilias“ und „Odyssee“ sind ein ‚Urknall‘ der westlichen, ja der Weltliteratur überhaupt. In der „Odyssee“ unternimmt der Held Odysseus auf seiner Irrfahrt eine Reise in die Unterwelt (gr. Katabasis) zu seiner verstorbenen Mutter, um Kenntnis über sein weiteres Schicksal zu erhalten. Diese berühmte Stelle ist mehrfach interessant (hier nur wenige, ausgewählte Aspekte), denn sie gibt dem Erzähler die Möglichkeit, dass Odysseus über die teils grausamen Schicksale seiner Mitkämpfer unterrichtet wird. Erschütternd wirkt vor allem die Begegnung mit Achill, dem größten griechischen Helden im Trojanischen Krieg, denn im Vergleich zur Welt der Lebenden ist die Unterwelt ein trister Ort:

‘Such mir den Tod doch nicht schönzureden, erlauchter Odysseus!
Lieber möchte auf Erden um Lohn ich bei einem andern
dienen, einem Mann ohne Erbgut mit wenig Vermögen,
als über alle dahingeschwundenen Toten der Herr sein.‘[1]
II Platon
Platon verfasste meiner Meinung nach mit der „Politeia“ den ersten Science Fiction-Roman der Weltliteratur.[2] Platons Werk über die ideale Polis (vielleicht auch so: über das gerechte Zusammenleben der Menschen innerhalb eines Staatswesens) avancierte zum Modell späterer Utopien. Platons Darstellung der jenseitigen Welt ist philosophischer und abstrakter als die Homers: ergänzt um den ethischen, optimistischen Aspekt einer Belohnung für ein gerechtes Leben, bewegen sich diese Texte, die eine Gattungsbestimmung sehr schwer machen, weg vom Mythos hin zum Logos (so eine Unterscheidung im Dialog „Gorgias“). Logos entzieht sich einer leichten Übersetzung: hier im Sinne eines narrativ entfalteten Diskurses, der aber ebenso wie eine (dialogische) Argumentation der Vernunft verpflichtet bleibt.
Bemerkenswert ist der Bericht des Soldaten Er, dem eine Nahtod-/Auferstehungserfahrung widerfuhr, über jenseitige bzw. unterweltliche Dimensionen, die wie eine Rahmung das Leben auf Erden umfassen. Dieses hier geführte Leben bestimmt darüber, ob ein Mensch in der anderen Welt glücklich sein könne oder zu bestrafen sei. Die zentrale platonische Transformation liegt in der Befreiung der Seele vom Körper. Auch Gott (was auch immer das bei Platon sein mag) sei unschuldig, das bedeutet eine Verlagerung der Theodizee-Frage: denn der Mensch selbst wählt sich und sein zukünftiges Lebensschicksal, dessen Bahn er/sie dann aber folgen muss. In der folgenden Wiedergeburt (ob die griechische Philosophie indische Religionskonzepte beeinflusst hat oder umgekehrt, wäre eine andere Diskussion) realisiert sich dann das gewählte Los. Und es gibt fürchterliche Schicksale (z.B. Tyrann werden), die Menschen sich erwählt haben. Die Metamorphosen sind vielfältiger Art: Manche werden zu Tieren. Manche, wie die Seele des Odysseus, suchen besonnen, erschüttert durch ihr vorheriges Leben, eine andere Lebensform.
Nach meiner Einschätzung beinhaltet die Jenseitsreise des Soldaten Er nicht so sehr metaphysische Spekulationen, sondern bewegt sich vielmehr in imaginären, imaginierten Räumen narrativer Ethik. Und zwar mit einer Tendenz zur Aktualisierung, die immanent, nicht transzendent auszulegen wäre: Wie wähle ich hier und jetzt in unserem Staat, in unserer Gesellschaft eine Lebensform, die sich als gerecht und richtig erweist, da ausgerichtet auf die platonischen Ideale/Ideen, wie z.B. Gerechtigkeit, und die ich für mich argumentativ und diskursiv begründen kann? Dazu hilft die sokratisch-platonische Philosophie. Platons „Politeia“ scheint mir unter diesem Aspekt auch eine Werbeschrift für das gute und richtige Philosophieren zu sein.

III Cicero
Die existentielle Bedeutung von Philosophie lässt sich besonders an Cicero aufzeigen – vielleicht wie an keiner anderen Persönlichkeit der Antike (Sokrates ausgenommen). Rhetor, Politiker, Konsul: eine rasante Ämterlaufbahn in der Endphase der römischen Republik. Doch die res publica wird seit längerem von katastrophalen Bürgerkriegen heimgesucht. Cicero, ein Zeitgenosse und Gegner Cäsars, versucht, durch Übersetzungen der griechischen Philosophie ins Lateinische diese für ein römisches Publikum zugänglich zu machen. Die Leistungen Ciceros sind atemberaubend und sollten für zwei Jahrtausende Maßstäbe setzen: er rettete vieles der griechischen Philosophie vor dem Vergessen; seine lateinischen Begriffsbildungen griechischer Fachtermini bestimmen westliches Philosophieren bis heute; er (und Cäsar) schaffen das klassische Prosalatein; Cicero ist der Redner des Abendlandes; in Ethik und Staatsphilosophie eine Autorität. Tragisch umso mehr sein Lebensende: ein politischer Gegner erwirkt seine brutale Ermordung. Für Cicero ging es darum, zu zeigen, dass alle Lebensbereiche – von der Gerichtsrede über die politische Wirksamkeit bis hin zu Mußestunden – von Philosophie durchdrungen sein müssen, weil Philosophie ermöglicht, vernunftgeleitet Rechenschaft über das eigene Tun abzulegen. Sie stellt nicht nur ein argumentatives Werkzeug zur Verfügung und eine beeindruckende Denktradition, sondern kann auch Trost spenden, ermutigen und inspirieren. Sie macht den Menschen zum Menschen.
Und gerade in der Auseinandersetzung mit Platons Konzepten eines gerechten Gemeinwesens, basierend auf einer idealen Verfassung (die er historisch im Mischcharakter der römischen res publica zu entdecken glaubte), entwickelt Cicero philosophische Begründungsformen, warum jemand sich für das Staatswesen engagieren soll, statt den Rückzug in die gepflegte Abgeschiedenheit anzutreten. Das berühmte „Somnium Scipionis“[3] ( „Der Traum des Scipio“ als Teil des lange verschollenen Buches „De re publica“) verbindet sowohl individuelle Motivation als auch Staatspolitik mit einer kosmischen Vision. Anders: Philosophie ermöglicht eine Schau (lat. visio) auf die kosmo-theologische Verwiesenheit unserer Herkunft, unseres Handelns und unserer Lebensführung. Im „Somnium Scipionis“ (und überhaupt in „De re publica“) werden viele platonische Gedanken aus der „Politeia“ (und anderen Werken Platons) aufgegriffen. Cicero benutzt das Verfahren einer Traumreise; eine bekannte Persönlichkeit der römischen Geschichte tritt auf: einer der Scipiones. Das alles sind literarische Strategien, das Berichtete (psychologisch) plausibler und evidenter zu gestalten. Die kosmologischen Darstellungen dieses Textes sind beeindruckend und weit avancierter als manches spätere Modell. Sie sind erhaben: Wir stammen aus einer göttlichen, kosmischen Wirklichkeit. Sie relativieren: Was ist all der irdische Ruhm im Vergleich mit diesen unfassbaren Dimensionen? Sie machen Mut: Was ein gerechter Mensch in irdischen Verhältnissen und Verstrickungen erdulden muss (Cicero meint damit auch sich selbst und sein Immer-mehr-verurteilt-sein-zur-politischen-Ohnmacht), diesen Gerechten erwartet schließlich ewiger Lohn. Das Ganze wird vertieft – und das ist eine Art consolatio (eine Tröstung) – durch die Reformulierung/Übersetzung des platonischen Beweisganges (im Phaidros) von der Unsterblichkeit der Seele. (Somit gelingt eine Verankerung von Ethik in Metaphysik!)
Platons und Ciceros Texte zur (philosophischen) Jenseitigkeit und/oder Unterweltlichkeit als Kommentierungen, Relativierungen und Erweiterungen des bloß Faktischen wurden in ihrer literarischen und theologischen Rezeptionsgeschichte modellbildend. Wichtige Anmerkungen: 1. Sowohl bei Platon als auch bei Cicero (oder auch später in Dantes Meisterwerk) scheint es kaum möglich, Trennschärfen zwischen Philosophie – das beinhaltet auch Kosmologie, Ethik und Metaphysik –, Theologie und Literatur einzuzeichnen. Wichtig dabei: zu analysieren, welchen „Sitz im Leben“ diese Texte hatten und noch immer haben. (Und jetzt könnte noch viel gesagt werden zu: Hermeneutik, Rezeption, Übersetzungsproblemen, Intertextualität usw.) 2. Die Rahmungen (telling) schaffen Distanz, während die bei weitem überwiegenden dialogischen Momente (showing) unmittelbare Nähe erzeugen. Bei Platon oft so, etwas überspitzt: Du hast doch einen gekannt, der ist dabei gewesen, wie einer damals einen anderen traf, der sagte usw.Solche Rahmungen sind nicht unerheblich, weil die Autoren das Auftreten von meist historischen Personen (wie Sokrates und Scipio) mit großer Autorität inszenieren können.
IV Vergil
Wie in der Prosa Cicero und Platon die absoluten Gipfel der lateinischen und griechischen Literatur bilden, möchte ich nun übergehen zu dem Dichter der Antike überhaupt – für die Römer wie auch für das westliche Mittelalter und möglicherweise auch für die Moderne. T. S. Eliot sollte ihn als den Klassiker bezeichnen: Vergil. Hinweisen möchte ich noch auf den unfasslichen Roman „Der Tod des Vergil“ von H. Broch – im Grunde ein hunderte Seiten langes Gedicht, das ich nicht anders als mystisch bezeichnen kann und das mit einer visio endet. Einer der größten Romane des 20. Jahrhunderts, der aber die Kenntnis des ganzen Vergil voraussetzt, was die Rezeption nicht unbedingt einfacher macht(e).
Vergils „Aeneis“ ist das größte Meisterwerk der lateinischen Epik. Es schildert die Irrfahrten des Aeneas nach der Zerstörung Trojas und die Kämpfe, die nach der Landung der Trojaner in Italien ausbrechen. Die „Aeneis“ verbindet in umgekehrter Reihenfolge die „Odyssee“ mit der „Ilias“. Aeneas – seine Mutter ist die Göttin Venus – steigt hinab in die Unterwelt, um dort seinen verstorbenen (menschlichen) Vater Anchises zu treffen. Allein dieses 6. Buch bedarf einer außerordentlich umfangreichen Exegese: Der berühmte, bahnbrechende Kommentar (mit Anhängen) von E. Norden umfasst ca. 380 Seiten (im Kleindruck).[4] Darum hier der Fokus auf nur wenige Verse. Am Ende von Buch VI erzählt Anchises seinem Sohn die Zukunft (einer der sog. historischen Durchblicke in der „Aeneis“): von den allerersten Gründungsanfängen Roms bis zur Weltherrschaft des Augustus. Das soll Aeneas motivieren, diesen tragischen, trauernden, mitfühlenden Helden, der so ganz anders agiert als Achill: fast ein Anti-Held, der an den vielen Opfern auf dem Weg zu Roms Größe und an seiner persönlichen Schuld leidet und beinahe daran zu zerbrechen droht. Er muss sich, wie auch die Götter, dem fatum beugen: dem festgesetzten Schicksal durch Raum und Zeit (fatum … wieder ein unübersetzbares Wort). Jetzt wird es kompliziert: Vergil erfindet einen Erzähler, der den toten Anchises seinem Sohn die Zukunft Roms entfalten lässt. Für den Gegenwartsbezug des Aeneas bleibt das ein fernes, nie erlebbares Morgen. Für zeitgenössische Hörer/innen (!) des Vergil ist die „Aeneis“ Mythos und Historie (die Grenzen verwischen für antike Menschen). Die Prophezeiungen des Anchises sind aber die Gegenwart der augusteischen Epoche.
Anchises erläutert Strafe und Belohnung der animae (lat.: die Totenseelen) – mit Einfluss von platonischem Gedankengut: Reinigung und zyklische Wiedergeburt (anthropologische Ausgangsbedingung: die Untersterblichkeit) der Seele. Umwerfend jener Teilvers (VI, 743): „quisque suos patimur manis.“ („Ein jeder, eine jede: wir (durch)leiden unsere Totengötter.“ Übers. MP) Im Grunde unübersetzbar, aber dennoch sehr gelungen die Übertragung von E. und G. Binder: „Ein jeder von uns erfährt sein eigenes Jenseits.“[5] Und spätestens damit wäre eine Transformation der räumlichen Dimensionen des Jenseits erreicht hin zu einer personalen Begegnung mit der eigenen Biographie, mit der eigenen Schuld und auch der eigenen Größe – christlich übersetzt: mit dem eigenen Gewissen.
Elysium und Hades sind nicht Räume da oben oder da unten, sondern in mir, sind metaphysische, transzendente Instanzen der Gerechtigkeit (das Thema übrigens in Platons Werken): Mein Leben reicht selbst über seinen physischen Tod hinaus in eine transzendente Wirklichkeit hinein und bestimmt sogar deren Gestalt. So sind in mir die ganze Geschichte und der ganze Kosmos präsent, ja das Göttliche selbst. Ich wage, dies eine mystische, monistische Erfahrung zu nennen – in ästhetischen Meisterwerken der antiken Literatur.
V Abschließende Anmerkungen
Die Idee für diese Ausführungen ist im Kontext eines Seminares zu den Weltreligionen entstanden, das im Zuge der Corona-Krise virtualisiert werden musste (und das gewissermaßen so in eine mediale Transzendenz abwanderte).
Gerne möchte ich mich auch herzlich bei der Altphilologin Dr. Beate Noack für ihre Korrekturvorschläge bedanken.
Empfehlenswerte Hörbücher: „Aeneis“, gelesen von Rolf Boysen, und die „Odyssee“, gelesen von Christian Brückner.
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität. Seine CulturMag-Texte hier.
[1] Homer: Odyssee, übers. v. K. Steinmann, 2. Aufl., München 2007, 172.
[2] Siehe dazu auch Markus Pohlmeyer: Platon, Science Fiction und Cixin Liu. Ein Essay, in: http://culturmag.de/crimemag/markus-pohlmeyer-platon-science-fiction-und-cixin-liu/117008, Zugriff am 1.5.2019.
[3] Zu finden z.B. in Cicero: De re publica/Der Staat, lat./dt., Studienausgabe, übers. v. K. Büchner, hg. v. H. Merklin, 2. Aufl., Düsseldorf 2005.
[4] Siehe dazu E. Norden: P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI, 7. Aufl., Darmstadt 1981.
[5] Vergil: Aeneis. 5. und 6. Buch, lat./dt., übers. v. E. u. G. Binder, Stuttgart 1998, 138.