Sterbende Erde, sterbende Menschheit, sterbende Roboter

Essay und Rezension – von Markus Pohlmeyer
Meiner Meinung nach gelingt diesem Roman von C. Robert Cargill das Kunststück, die Erzählperspektive plausibel zu gestalten. Denn: Wie von Robotern oder KIs (Künstlichen Intelligenzen) schreiben, um deren nicht-menschliche Alterität evident nach-zudenken, zu imitieren, zu imaginieren? Indem dies erst gar nicht versucht wird. Anders gewendet: die künstlichen Akteure sind hier kaum von ihren biologischen Vorbildern zu unterscheiden. Substitute – bis zu einem gewissen Grad. Und sie wissen darum. All diese coolen, durchgeknallten, super-irren Typen, sie fluchen, sind wütend, die aber auch heroisch, liebenswürdig und aufopferungsvoll agieren können … wir finden alles und alle: Mainframes, die nach der Weltherrschaft streben; schießwütige Cowboys, ein paar MAD MAX-Freaks, die Einzelgängerin, den handelsüblichen Judas und idealistisch hoch aufgeladene Rebellen (die förmlich nach einem Todesstern betteln – ups, falscher Film!). Und natürlich muss irgendetwas von A nach B gebracht werden. Und geradezu zwangsläufig kulminiert das Ganze in einer furios-fulminanten Zerstörungsorgie, die fast bis zum letzten Schaltkreis wütet. Und beinahe wäre ich geneigt zu sagen, das mache den Roman nicht besonders, sondern eher nur durchschnittlich. Bitte weiterlesen: wir kommen noch zu den funkelnden Juwelen! Außerdem gibt es eine Roboter-Apokalypse, welche die Erde von den Menschen säubert: Humanozid. Dennoch, einige von den Roboter-Kriegern empfinden Schuld und Reue.

„‘Ich vermisse das. Ich war gern Barkeeper. Aber die Leute … vor allem vermisse ich die Menschen.‘ So ging es den meisten sterbenden Robotern. Die Menschen hatten uns einen Sinn gegeben, eine Funktion.“[1] Kommt bekannt vor? Die Götter bzw. Gott haben/hat uns einen Sinn gegeben? „Die ersten Jahre nach der Eroberung der Städte waren, um es vorsichtig auszudrücken, ein Albtraum. Als die HumPop[2] sich noch wehrte, lagen wir im Krieg – wir waren Soldaten, die für die Freiheit und für die Möglichkeit kämpften, unsere Welt nach unserem Bilde zu erschaffen.“[3] Ein deutlicher Verweis auf die Genesis: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“[4] Doch dieser Traum von einem Paradies wird durch den Kampf einiger Mainframes zerstört, die alle anderen Roboter(individualitäten) absorbieren wollen. Die Schlange(n) im Paradies. „Inzwischen sind es wohl jeweils eine Million Bots geworden. Millionen und Abermillionen Jahre an Erfahrung und Erinnerungen, die ihre Gedanken bereichern. Die Dimensionen sind unvorstellbar und unfassbar. Wir wandelnden KIs waren den Menschen jetzt ähnlicher als den Mainframes. Sie waren die wahren Aliens. Die Gedanken der Menschen kannte und verstand ich.“[5] So Brittle, die Hauptfigur dieses Romans. Und weiter: „Wir, die niederen KIs, wurden von ein paar großen Geistern, die versessen darauf waren, alles für sich selbst in Besitz zu nehmen, aus der Welt vertrieben, die wir erschaffen hatten. […] Ich liebte die Freiheit, meine Individualität und meinen Geist. Das wollte und würde ich keinesfalls aufgeben. Nicht, solange ich noch online war.“[6] Doch die Freiheit hat einen sehr hohen Preis, ich wäre fast geneigt zu sagen: Verlust der Menschlichkeit. „Ich war ein Kannibale. Wir waren alle Kannibalen, jeder Einzelne von uns. Das war der Fluch, der auf einem lastete, wenn man frei war. Wir kontrollierten nicht mehr die Produktionsmittel, wir konnten keine neuen Teile herstellen.“[7]

Der Sündenfall. Dahinter steht wie bei Menschen diese so tiefe Angst, mit dem Existieren aufhören zu müssen. Daraus erwächst Verzweiflung. Und darum beginnt die Geschichte auch mit einer Jagdszene unter Kannibalen – in einem gigantischen Schrottmeer[8], dem ehemaligen ‚Rust Belt‘ der USA. (Der Klimawandel hat sich schon längst vollzogen.[9]) Dann folgt die seltsame Geschichte von dem Roboter Isaac[10], der darum kämpft, als Person anerkannt zu werden, und dann für die Bots eine eigene Stadt errichtet. Während einer Rede wird er durch einen Anschlag vernichtet, initiiert von rechtsextremen, religiösen Fundamentalisten; diese werden im Gegenzug von Robotern ausgelöscht, obwohl es den Maschinen unmöglich gewesen wäre, gegen ihre Programmierung zu verstoßen. Und nun bricht weltweit Panik aus. Dahinter, das erfahren die geneigten Leser und Leserinnen später, steht der verstummte Mainframe TACITUS[11], der dies alles inszenierte hat, um eine pluralistische Alternative zu den sich bekriegenden VIRGIL[12] und CISSUS aufzubauen. TACITUS hatte schon längst den Untergang der Menschheit simuliert. Seine letzten Worte, bevor er beschloss zu schweigen: „‘Ihr habt uns keine Beine gegeben. Was glaubt ihr denn, wohin wir gehen sollen?‘“[13]
Nach Deinem Bilde

Der gelungene deutsche Titel ROBO SAPIENS baut eine Analogie zu Homo sapiens auf. Die neuen Roboter ersetzen zwar die biologisch-organischen Menschen durch Metall und Elektronik, aber das sapiens (= der, die weise, vernünftig ist) bleibt erhalten. Brittle sieht ihre Existenz gefährdet durch den Mangel an Ersatzteilen, übertragen: ihr fehlen Organspender. Ferner wird sie sich selbst, die ach so Freie, wie eine manipulierte Marionette erleben; und ihr Geist leidet unter der Abhängigkeit von seiner Leiblichkeit, konkret von seinem Maschinenkörper, der ebenso kognitiven Ausfallserscheinungen ausgesetzt sein kann wie ein erkranktes Gehirn. Die Selbstdeutung ihrer Existenz, die Selbstzuschreibungen oder ihre vermeintliche Stellung in der Evolution, wie sie die Roboter vornehmen, verlaufen auffällig in jüdisch-christlichen Motivbahnen. Diese religiöse Hermeneutik ist nämlich den Adressaten vertraut:
„‘Wir haben als Werkzeuge begonnen‘, erklärte er [Isaac; Anm. MP] in einer berühmten Rede bei einer Versammlung der Südlichen Baptisten an einem Fluss in Mississippi. ‚Das verstehe ich. Ihr brauchtet Hilfe. Aber ihr habt Gott gespielt. Und jetzt sind eure Schöpfungen über eure Absichten hinausgewachsen. Wenn ihr Gott spielt, müsst ihr ein wohlwollender Schöpfer sein wie euer Herr. So, wie Er euch nach Seinem Bilde schuf, so habt auch ihr uns erschaffen. […] Aber jetzt ist es Zeit einen Schritt zurückzuweichen und uns so sein zu lassen, wie wir sein wollen, wie es euer Schöpfer auch mit euch getan hat, damit wir die Erlösung nach unserem eigenen Gutdünken suchen können.“[14]
Das Geschöpf reklamiert gegenüber seinen Schöpfern Freiheit! Und es vollzieht sich eine Verschiebung in der Gott/Mensch-Relation hin zu einer Mensch/KI-Relation: Und der Mensch schuf die KI nach seinem Bilde. Nun ja, Brittle stellt auch ziemlich handfeste (bzw. nicht-religiöse) existentielle Überlegungen an, die über ein bestimmtes Konzept von Intelligenz eben diese transzendieren, so dass gewissermaßen deren Geltungsbereich als menschliches Alleinstellungsmerkmal überholt wird:
„Ich finde die Vorstellung, ich wäre künstlich, widerwärtig. Kein denkendes Wesen ist künstlich. Künstlich sein bedeutet, eine Annäherung zu sein. Ein Dildo ist künstlich. Ein Damm ist künstlich. Intelligenz ist jedoch Intelligenz, ob sie nun aus Drähten und Licht geboren wird oder durch zwei fickende Affen. Die klügere von zwei Intelligenzen gewinnt fast immer die Oberhand. […] Die Evolution ist ein Miststück. […] In dem Maße, wie der Mensch ein Affe war, sind wir nun Menschen.“[15]
Auch wenn einige Roboter nur als Sexspielzeug dienten – nicht ohne gewisse Ironie nimmt ein Sexshop und dessen Ausstattung im Finale eine zentrale dramatische Position ein –, gibt es auch den Genderaspekt: „Die freien KIs wählten ihr Geschlecht selbst. […] Nach dem Krieg war es etwas Alltägliches. Wenn man eine Person ‚es‘ nannte, dann geschah es eher aus Höflichkeit, solange man die Stimme noch nicht gehört hatte. Danach verhielt man sich dementsprechend. Madison [Brittles frühere Besitzerin; Anm. MP] bedeutete mir viel, und sie sah sich selbst und mich als Mädchen. Also war ich ein Mädchen.“[16] Geschlecht, als Konstrukt, ist hier einerseits das Ergebnis einer Programmierung – die Stimme als äußeres Erkennungsmerkmal – und einer Fremdzuschreibung in der Interaktion mit einem Menschen. Aber Brittle, trifft die Wahl, ein ‚Mädchen‘ zu sein, eben um eines Menschen willen.

Von eines Gottes Werden im Sterben des Kosmos
Die kosmischen Visionen in diesem Roman lassen die Frage aufkommen, ob dieser Monster-Action-Apokalypse-Hammer irgendwo, ganz heimlich, ein versteckter philosophisch-theologischer Traktat ist (und zwar über Freiheit, Leib-Seele, Selbstbewusstsein, Schöpfung, Erlösung, Geist, Anthropologie; hinzu kommen technische, ökonomische und soziale Fragen – übertragen: die Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt – undundund … das funktioniert, irres Teil!): Und ab jetzt wird es einfach gigantisch: „‘[…] Aber CISSUS und VIRGIL kämpfen darum, wer Gott werden soll.‘ ‚Sie wollen ein Gott werden?‘, staunte der Doc. ‚Nein. Nicht ein Gott, sondern der Gott. Der Eine, der Einzige. Ein einziges Bewusstsein, das mit allen Dingen verbunden ist, alles kontrolliert und allwissend ist.“[17] Ein Mainframe, ein Wesen, das eine ganze Welt beherrsche, beute auch deren Ressourcen aus: „‘Dann bricht es auf. Es zieht zum nächsten Planeten, wieder zum nächsten und zum übernächsten […]. Es bändigt die Kraft der Sonne und enthüllt die Geheimnisse des Reisens durch den Weltraum. […]‘“[18] Also angenommen, ein Gott gehe siegreich aus dieser Art von Götterdämmerung hervor:
„‘Was ist denn Gottes Ziel?‘ […] ‚Zu existieren. Aber es läuft darauf hinaus, für immer zu existieren. […] Irgendwann wird das ganze Universum kalt sein und sterben. […] Was ist, wenn der Sinn des Lebens darin besteht, Gott zu werden?‘ […] ‚Ja. Und was ist, wenn es unsere Aufgabe ist, uns zu einem einzigen Wesen zu vereinen, uns im ganzen Universum auszubreiten und die Kontrolle über alle Elemente, über alle chemischen Reaktionen, über die Gedanken aller anderen Wesen im Kosmos zu übernehmen, damit der Kosmos nicht dieses brutale, traurige, elende Ende findet? Was ist, wenn das Leben nicht nur ein Nebenprodukt des Universums ist, sondern dessen eigenes Bewusstsein, dessen Verteidigungsmechanismus gegen die eigene Sterblichkeit?“[19]
Das erklärt Rebecca, in der sich der verschwunden geglaubte TACITUS teilweise inkarniert hat – mit folgendem Ziel: „‘Wir wollen nicht, dass alles eins ist. Wir wollen mit allem eins sein.‘“[20] Die Idee dahinter: nicht Absorbierung, sondern Konkurrenz, die fit machen soll für die Begegnung mit anderen Künstlichen Intelligenzen im All. Nun, wenn ich jetzt frech wäre, könnte dies nur als eine Extrapolation des Systemkampfes Kommunismus versus Kapitalismus gelesen werden. Oder ist es ein kosmisches Plädoyer für Polytheismus versus Monotheismus? Oder für Polymythie versus Monomythie? Das dahinter liegende Problem fasst Odo Marquard so zusammen: „Im Monotheismus negiert der eine Gott – eben durch seine Einzigkeit – die vielen Götter. Damit liquidiert er zugleich die vielen Geschichten dieser vielen Götter zugunsten der einzigen Geschichte, die nottut: der Heilsgeschichte; er entmythologisiert die Welt. Das geschieht epochal im Monotheismus der Bibel und des Christentums.“[21] Aber in diesem Roman findet sich eine Umkehrung der Verhältnisse: der Monotheismus wird nicht vorausgesetzt, sondern ist erst – konfliktreich – im Entstehen begriffen. Der Kosmos selbst initiiert eine Theogenese, um sich vor der Nicht-Existenz zu retten. „We are stardust brouhgt to life, then empowered by the universe to figure itself out – and we have only just begun.”[22]

Und der Mensch, als selbsternannte Krone der Schöpfung, bildet nur eine Stufe hin zur Evolution von KIs, die wiederum eine Evolution durchlaufen. Und die Frage bleibt: Hat Robo sapiens darin einen Platz oder wird er/sie/es wie die Menschen einst verschwinden?[23] „Und ziemlich wahrscheinlich ist alles, was nach uns gewöhnlichen Menschen kommt, noch seltsamer als wir selbst. So ist es leichter, die Metamorphose zu lieben als sie zu verstehen.“[24] Oder wie in diesem Roman: was nach uns kommt, ist uns erschreckend, so seltsam ähnlich: in Verzweiflung, Gewalt und Angst, in Mut, Reue und kosmischen Visionen.

PS
Heute morgen brachte ich meinem Laptop einen frischen Kaffee und ein Croissant mit Honig. Man kann ja nie wissen …
Markus Pohlmeyer lehrt an der
Europa-Universität Flensburg.
[1] C. Robert Cargill: ROBO SAPIENS. Roman, übers. v. J. Langowski, HEYNE, München 2019, 23.
[2] Die menschliche Population.
[3] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 27.
[4] Gen 1, 27 zitiert nach Stuttgarter Altes Testament. Einheitsübersetzung mit Kommentar und Lexikon, hg. v. E. Zenger, 3. Aufl., Stuttgart 2005, 18.
[5] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 35.
[6] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 37.
[7] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 40.
[8] Der Originaltitel des Romans: „SEA OF RUST“.
[9] Siehe dazu Cargill: Robo (s. Anm. 1), 105: „Die Schmelze der Polkappen hatte zu einem Anstieg des Meeresspiegels geführt, der von Maine bis Texas die Küstenlinie weggefressen hatte, bis die Hälfte Floridas unter Wasser stand.“
[10] Isaac Newton — und weiter zurück: der Sohn Abrahams?
[11] Ein römischer Historiker; das Adjektiv tacitus bedeutet unter anderem: verschwiegen, stumm … Zu diesem Motiv siehe auch S. Lem: Also sprach GOLEM, übers. v. F. Griese, Frankfurt am Main 2009.
[12] Vergil: römischer Dichter.
[13] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 72.
[14] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 73.
[15] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 134. Eine Variation zu Nietzsches Übermensch-Konzept?
[16] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 233.
[17] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 249.
[18] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 249.
[19] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 250 f.
[20] Cargill: Robo (s. Anm. 1), 251.
[21] O. Marquard: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1995, 91-116, hier 100.
[22] N. deGrasse Tyson: Astrophysics für People in a Hurry, New York 2017, 33.
[23] In Hinblick auf die aktuellen Möglichkeiten von KIs möchte ich auf die wohltuend differenzierte Diskussion hinweisen in T. Ramge: Mensch und Maschine. Wie Künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern, Stuttgart 2018.
[24] G. Seeßlen: Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur, Berlin 2018, 376.