Der Western als Totentanz und Modell von Versöhnung
Ein Essay von Markus Pohlmeyer
Das Grundgerüst der Handlung von Feinde – Hostiles (lat. hostilis = feindlich) wäre als episch zu beschreiben, auch wenn es sich ‚nur‘ um eine Reise handelt – fast wie bei der Odyssee, in welcher Odysseus nach langer Irrfahrt aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt und dabei all seine Gefährten verliert. Jene Western-Reise führt nach den Kriegen gegen die Indianer durch phantastische Landschaften und in die Begegnung mit furchteinflößenden Monstern: Menschen und der eigenen Seele, in der das Unheimliche verdrängt und dämonisch lauert, eskalierend ausbricht.
„Auf die drei Epochen der realen Geschichte Amerikas rekurrieren die klassischen Western. Da ist zunächst die Eroberung des Landes im Westen und der grausame Kampf gegen die Indianer; dann die Zeit nach der Inbesitznahme des Landes, als die Städte aufgebaut und organisiert wurden; schließlich die Epoche nach der Eroberung und Zivilisierung […]. Für Jean Mitry spiegelte sich diese historische Entwicklung in der ästhetischen Reifung des Genres wider, in der […] die Filme stetig komplexer wurden: vom epischen über den dramatischen zum psychologischen Western.“[1]

Hostiles spielt an einer Epochenschwelle: die Indianerkriege sind beendet, die Zivilisierung ist aber noch nicht abgeschlossen (ob sie je abgeschlossen wurde?), vor allem nicht die des gewaltbereiten weißen Mannes. Schritte in Richtung Zivilisation deutet dieser Film an: Versöhnung mit den Indianern, ihre Rechte schützen, sie um Vergebung bitten und ihnen verzeihend, sich selbst verzeihend. Aussteigen, neu anfangen: „Die Begegnung mit dem Indianer ist für den WASP (White Anglo-Saxon Protestant) die eigentliche mythologische Grundsituation, durch die er entweder zu einem neuen Menschen wird, der den Europäer in sich überwindet, oder an der er scheitern muss.“[2]

Die äußere Reise in Hostiles entwickelt sich zu einem dramatischen Totentanz. Und es gibt in dieser Hölle – so verrückt, wie das klingen mag – Wege zur Erlösung. Das Grundgerüst: „New Mexico, 1892: der verdiente Offizier Joseph J. Blocker (Christian Bale) erhält der Auftrag, den kranken Cheyenne-Häuptling Yellow Hawk (Wes Studi), der die vergangenen sieben Jahre im Gefängnis verbrachte, in dessen Stammesland nach Montana zu begleiten.“[3]Und wer nun eine Hobbit-Gefährten-Wohlfühl-Große-Jungs-Abenteuertour erwartet, wird eines besseren belehrt. Destruktiver kann ein Western-Anfang kaum sein. Und damit steht dieser Film verrückter- oder interessanterweise in der Tradition von John Ford:
„Was eben noch als Idylle erschien, verliert das Fundament. Häuser, Forts, Siedlungen brennen bis auf die Grundmauern ab. Übrig bleiben: Ruinen, Gräber, Heimatlose. Immer wieder geht es um Verluste: von Menschen, von Utopien, von Orten, von Identitäten.“[4]
In diesem Zitat sehe ich schon alles eingefaltet, was Hostiles ausfalten wird.

Die Idylle, das Utopia einer Farmersfamilie wird jäh in einem Überfall durch Komantschen ausradiert. Mann und Kinder erschossen, kann sich nur Rosalee (Rosamund Pike) mit ihrem toten Baby verstecken, das sie festhält, das sie nicht mehr loslassen kann. Der wortlose Schmerz dieser Frau ist so überwältigend, dass selbst Joseph und seine Soldaten sich ihm beugen, verstummen, schweigen müssen. Es bleiben nur noch gespenstische Bilder und bestürzende Gesten – wie stille Schreie. Herzzerreißend, wie Rosalee versucht, in der steinharten Erde ein Grab auszuheben. Ohnmächtig daneben und in Verzweiflung geradezu paralysiert die Soldaten, welche sie neben ihren toten Kindern in der Ruine ihres Hauses, davor ihr Mann, skalpiert, gefunden haben. Erschütternd, wie sie später immer und immer wieder in einen toten Komantschen schießt, selbst als im Revolver keine Patronen mehr sind. Ihr schreiender Wahnsinn, als sie zum ersten Mal die (unschuldige) Cheyenne-Familie sieht. Doch beide Seiten werden lernen, einander zu verstehen und zu vertrauen. Und schließlich wird Rosalee selbst zum Gewehr greifen, um die Rechte der Toten und der Indianer zu schützten, wird den letzten indianischen Überlebenden aus dem finalen Massaker, Yellow HawksEnkel, bei sich aufnehmen, mit sich in eine andere Welt nehmen.

Exkurs
Eine seltsame Rahmung: am Anfang liest Joseph Caesars Werke; am Ende wird er dieses Buch dem Enkel von Yellow Hawk schenken – mit der Erklärung, Cäsar sei einer der tapfersten Männer, den er je gelesen habe. Natürlich schildert Caesar – rhetorisch manipulativ und strategisch publikumswirksam – in seinen Commentarii unfassliche Heldentaten. Aber dieser Politiker überfiel, schwer zu rechtfertigen, Gallien: „Selbst wenn man nur etwa eine Million akzeptiert und einmal versuchsweise Gefangene und Versklavte in etwa derselben Größenordnung hinzurechnet, wenn man darüber hinaus berücksichtigt, daß die Bevölkerung Galliens kaum mehr als 10 Millionen Menschen betragen haben dürfte, so wird konkreter faßbar, welch furchtbaren Aderlaß Caesars großer Siegeszug für Gallien bedeutet hatte.“[5]Und weiter: „Caesar hatte es 49 in Kauf genommen, daß die ganze Mittelmeerwelt mit Krieg überzogen wurde, und Hunderttausende mussten in diese Wirren ihr Leben lassen.“[6]Einer der tapfersten Männer – vielleicht ist Joseph nur auf die Selbstdarstellung Caesars in seinen Schriften hereingefallen?

Kompromisslos zeigt dieser Film, wie der Tod zufällig, rücksichtslos über Menschen hereinbricht – und zwar durch andere Menschen. Komantschen, die alles abschlachten, selbst andere Indianer. Pelzjäger, welche die Frauen entführen und misshandeln. Ein Krimineller, der auf der Flucht einen Soldaten ermordet, um dann von einem anderen gestellt zu werden. Und dieser, Tommy, versinkend in Melancholie, begeht schließlich Selbstmord. Oder war es ein Gericht über sich selbst? Und am Ende der Reise Farmer, die behaupten, das wäre ihr Land – sich damit über die Weisung des Präsidenten und über die heiligen Rechte einer Indianerbegräbnisstätte hinwegsetzend. „Den Vorgang der Landnahme und der Durchsetzung des Rechts zeigt der Western nicht als politischen, sondern auch als ökologischen, erotischen und moralischen Prozess. Damit vermittelt das Genre ein Geschichtsbild, das in seinen schlimmen Beispielen perfekte patriarchalische Mythen liefert, in seinen besten aber eine Dialektik zwischen Einzelschicksal und historischer Struktur zeigt, wie sie keine Geschichtsschreibung sonst zu realisieren imstande ist.“[7]
Männer, die sich mit Waffen und Gewalt alles an sich reißen: das Land der Ureinwohner, Frauen, Kinder und andere Männer, die das Gesetz vertreten, werden zu ihren Opfern. Alles endet immer wieder darin, dass die Bösen – unter hohen Verlusten – vernichtet werden müssen. Entkommen aus dieser Hölle der Gewaltmechanismen bietet der Film zum Schluss. Josephs Identität als Soldat, der nur seine Pflicht erfüllt hätte, gerät ins Rutschen. Kurz vor dem Tod des Häuptlings listet Joseph auf Cheyenne Namen seiner gefallenen Freunde auf. Er habe viele Freunde verloren – und dann der Wendepunkt: „… und du ebenfalls.“ Joseph und Yellow Hawk haben beide unvorstellbare Gräueltaten begangen. Die Stärke des Films liegt darin, dass diese nie gezeigt, sondern nur angedeutet, und zwar erzählt werden. Denn aus den Feinden sind längst Verbündete geworden, die sich aber nun neuen Formen der Gewalt stellen müssen, von denen alle in der Gruppe bedroht sind. Aber schon die Wahl der Sprache zeigt Respekt vor dem einstigen Gegner und endet nicht mit Wut oder Rache, sondern mit Empathie für den Sterbenden.

Joseph steigt zum Schluss des Films nach anfänglichem Zögern mit in den Zug, in dem schon Yellow Hawks Enkel und Rosalee sitzen. Aus den Fragmenten einer alten Welt erschaffen sich die Überlebenden eine neue – Soldat, Witwe und Indianer. „Der Westerner ist so schwer beladen mit Geschichte, dass er nicht anders als zeitlos werden kann. Der Westerner ist so randvoll mit Psychologie, dass er nicht anders all allegorisch werden kann. Der Westerner ist so beschäftigt, dass er nicht anders als ruhig werden kann.“[8]Joseph vereinigt in sich die Vergangenheit der Indianerkriege, eine Gegenwart der Versöhnung und eine mögliche Zukunft in einem Anderswo. Joseph droht, in Verstummen und Verschweigen fast zu ertrinken, weil zu viel auf ihn einstürmt: Yellow Hawk und Rosalee, der Verlust von Freunden, sinnlose Gewalt, das Infragestellen seines Soldatendaseins … Und das Trauma, sowohl Täter als auch Opfer zu sein: Rechtes zu tun, das trotzdem Unrecht ist; und Gewalt ausüben zu müssen, um andere zu retten …

Beeindruckend die melancholische Filmmusik von Max Richter und Ryan Bingham, jenseits von jeglichem Pathos, wie auch die wortkargen Dialoge: jedes Wort muss der Seele abgerungen werden, so kostbar und doch so wenig, als ob es schon längst in der Landschaft und in der Trauer unwiederbringlich verloren wäre. Die weite, großartige Natur ist schön, erhaben und unwirtlich. Spuren menschlicher Zivilisation scheinen sich darin zu verlieren – sie sind selten, und müssen noch geschaffen werden. „Der Westener ist auch ein Held auf der Suche nach der verlorenen Freude und der Schönheit. Er sieht sich um und entdeckt plötzlich, dass dieses Land schön ist, und gleichzeitig entdeckt er, dass es zu spät ist, es zu retten.“[9]In diesen gewaltigen Räumen agieren gewalttätige Menschen: Eroberer, Vernichter, Kriminelle, Sadisten, Traumatisierte, die ihre Traumata weitergeben. Erlösung: im Moment der Selbsterkenntnis, im Verzicht auf Rache. In Platons Dialog Phaidon findet sich ein (Kunst)Mythos, der unter anderem beschreibt, wie Menschen, die schwerste Verbrechen begangen haben, in der Unterwelt Erlösung erlangen können:
„Doch wenn sie von der Strömung fortgetragen zur Höhe jener acherusischen Gewässer kommen, so rufen sie mit lautem Schrei nach den Gemordeten und den Mißhandelten. Und auf das Rufen folgen heiße Bitten, man möge sie ans Ufer lassen, zum See hinüber, und möge sie aufnehmen. Gelingt es ihnen, Eindruck zu erwecken, so kommen sie heraus, und alles Leiden ist zu Ende. Gelingt es nicht, so werden sie erneut zum Tartaros hinabgerissen, von dort dann wieder in die Ströme, und diese Qualen sind erst dann zu Ende, wenn sie bei ihren einstigen Opfern Gnade finden: das ist die Strafe, zu der die Totenrichter sie verurteilt haben.“[10]
Doch bevor Tommy den Mörder verfolgt, hatte er Yellow Hawk um Verzeihung gebeten – auf Cheyenne: Wie sie die Ureinwohner behandelt hätten, sei unverzeihlich, „Habt Erbarmen mit uns.“ Und Yellow Hawk wird daraufhin im Regen Totenwache halten für den ermordeten Soldaten. Der Tod komme zu uns allen …
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
Seine Texte bei CulturMag hier.
Weitere Literatur:
R. Schneider: Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit, mit e. Nachwort v. E. M. Landau, Frankfurt am Main 1990.
T. Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, übers. v. W. Böhringer, Frankfurt am Main 1985.
É. Vuillard: Traurigkeit der Erde. Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody. Erzählung, übers. v. N. Denis, Berlin 2017, 80: „Man schaut sich um, streift eine Kette über. Hätte gerne einen Tomahawk, ja, eine Feder! Heute heißt das merchandising. Die Indianer verkaufen die Derivate ihres Genozids. Sie feilschen mit den Schaulustigen und stecken die kleinen Scheine in ihre Börse. Die reality show ist also nicht, wie es heißt, der extremere, grausame und besitzergreifende Doppelgänger der Massenunterhaltung. Sie ist deren Ursprung; sie katapultiert jeden Darsteller der Tragödie in eine unwiderrufliche Amnesie.“
[1]B. Kiefer – N. Grob: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Filmgenres. Western, Stuttgart 2006, 12-40, hier 12.
[2]G. Seeßlen: Filmwissen: Western, Marburg 2011, 11. Und Seeßlen (aaO), 10: „Weil und solange es den Indianer gab, war dem weißen Christen die Welt aus den Fugen geraten, hatte sein ganz auf die wörtliche Auslegung der Bibel ausgerichteter Glaube einen gefährlichen Riss, und es war durchaus nicht die Sophisterei einiger Spinner, die heftig darüber debattieren ließ, ob Indianer eine Seele haben oder nicht, sondern es handelte sich um einen Ausdruck allgemeiner Verunsicherung, die zunächst in vielfältigen traumatischen oder verklärenden Versuchen zur Sinnerstellung, später in manifester Brutalität mündete.“
[3]Feinde – Hostiles. DVD © 2018 Universum Film GmbH. Daraus alle direkten und indirekten Filmzitate (auch Untertitel).
[4]H. H. Prinzler: John Ford, in: Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien, hg. v. T. Koebner, 2. Aufl., Stuttgart 2002, 239-246, hier 243
[5]M. Jehne: Caesar, 5. Aufl., München 2014, 70.
[6]M. Jehne: Caesar, 5. Aufl., München 2014, 119.
[7]G. Seeßlen: Filmwissen: Western, Marburg 2011, 17.
[8]G. Seeßlen: Filmwissen: Western, Marburg 2011, 18.
[9]G. Seeßlen: Filmwissen: Western, Marburg 2011, 15.
[10]Platon, zitiert nach H. Görgemanns: Die griechische Literatur in Text und Darstellung, Bd. 3: Klassische Periode II, Stuttgart 1987, 247.