Superhelden von heute: Depressionen statt Strumpfhosen
Netflix gegen Amazon. Zwei neue Serien der beiden Streaming Giganten verbinden perfektes Entertainment mit großem Thema. Christopher Werth hat in die ersten Folgen reingeschaut.
Beide Serien spielen in einem dreckigen, realistisch in Szene gesetztem New York. Und das oft bei Nacht. Bleiche Gesichter, gefilmt mit weit geöffneter Kamerablende, so dass die Lichter im Hintergrund zu funkelnden bunten Punkten, zu perfektem Bokeh verschwimmen. Und beide Serien beschäftigen sich mit einem sperrigen Thema: Missbrauch von Menschen. „Mr. Robot“ auf der gesellschaftlichen, kapitalistischen Ebene, „Jessica Jones“ auf der persönlichen.
Die beiden Helden: Depressive, soziopathische Einzelgänger, die am liebsten schwarz und gern Kapuzenpullies tragen, sich mit hartem Stoff betäuben und mit geheimnisvollen Superkräften ausgestattet sind. „Jessica Jones“ ist eine Marvel Comicverfilmung über eine runtergekommene, beinahe lebensunfähige Privatdetektivin. Aber sie ist bärenstark, kann unfassbar gut Springen, fahrende Autos anhalten und Kämpfen. In „Mr. Robot“ hat der Held die Fähigkeit, das vielleicht letzte Mysterium unserer Zeit zu durchschreiten: die Welt der IT. Er ist ein begnadeter Hacker und hat so Zugriff auf unsere gesamte vernetzte Welt.
Mr. Robot
“Hello, friend. That’s lame. Maybe I should give you a name, but that’s a slippery slope. You’re only in my head. We have to remember that. Shit.“ Die ersten Sätze der Serie sind wie die ersten Sätze in einem guten Roman. Der Protagonist Elliot (Rami Malek) eröffnet die erste Folge mit der Erfindung eines imaginären Freundes und beginnt diesem von sich zu erzählen. Davon, dass eine mächtige Organisation, die alle Finanzströme der Welt kontrolliert, ihm jetzt folgt. Das Gespräch bildet das Gerüst der Serie, hier erfahren wir was er wirklich denkt – denn seine Mitmenschen erfahren von ihm so gut wie nichts.
Wie typische Superhelden lebt Elliot ein Doppelleben. Am Tag schützt er als Computertechniker der Sicherheitsfirma Allsafe Cybersecurity das größten Konglomerats der Welt, E Corp (für ihn natürlich Evil Corp) vor Hackerangriffen. Nachts ist er selbst ein Hacker, der z.B. Betreiber von Kinderporno-Websites aufspürt und anonyme Tipps an die Polizei spielt. Außer mit seinem imaginären Freund oder seinem Fisch redet er nicht viel mit anderen Menschen.
Weil er sich aber trotzdem für sie interessiert und sich einsam fühlt, hackt er jeden, der im über den Weg läuft, liest Mails und Chats und kennt so immer die intimsten Geheimnisse und Leidenschaften seiner Kollegen und Mitmenschen. Zusätzlich nimmt er immer eine genau dosierte Menge an Morphium, um nicht abhängig zu werden. Durch seine hohe Intelligenz gelingt es ihm gerade so, seine inneren Dämonen, Phobien und Angststörungen auszubalancieren. Natürlich wird diese Balance auch schon gleich am Anfang außer Kraft gesetzt.
Erstens: Er beginnt eine Affaire mit seiner Dealerin Shayla (Frankie Shaw). Zweitens: Er wird von einem Mr. Robot (Christian Slater), dem er immer wieder begegnet, für die Hackergruppe fsociety (inspiriert vom arabischen Frühling und Anonymous) angeworben, um E Corp lahmzulegen und so eine Revolution auszulösen: alle sollen von ihren Schulden und somit von der Kontrolle durch E Corp befreit werden. Und drittens: Er bekommt kurz darauf von einem aggressiven und krankhaft ehrgeizigen Mitarbeiter von E Corp das Angebot, für extrem viel Geld direkt für das Konglomerat zu arbeiten … Das verspricht, ein extrem guter Thriller zu werden.
Mr. Robot, USA 2015, bisher 1 Staffel mit 10 Episoden, Serienerfinder & Showrunner: Sam Esmail, Kamera: Tod Campbell, Tim Ives, Musik: Mac Quayle, Produktion: Anonymous Content & Universal Cable Productions. Zum YouTube Kanal der Serie.
Jessica Jones
“New York may be the city that never sleeps — but it sure loves to sleep around. Not that I’m complaining: cheaters are good for business. A big part of the job is looking for the worst in people. Turns out I excel at that.” Auch Jessica Jones beginnt mit der Stimme der Hauptfigur.
Und auch hier wird schnell klar, mit wem wir es zu tun haben. Eine desillusionierte Privatdetektivin, die ihren Job macht. Und dabei selbst alles mitnimmt, trinkt und vögelt, was sonst vornehmlich den männlichen Kollegen im Genre vorbehalten ist. Ihre Wohnungs- und Bürotür ist eingeschlagen, überall liegen Bourbonfalschen, sie ist aufbrausend, streitet sich mit Freundinnen, und am Ende ist noch nicht mal Klopapier da.
„Jessica Jones“ ist vielleicht eine der kaputtesten Figuren im Marvel Universum – aber auch eine der coolsten. Ein neuer Fall bringt uns dem Geheimnis näher, was mit dieser Frau los ist, was sie so traumatisiert hat. Sie soll ein Mädchen wiederfinden, das offenbar von jemandem entführt wurde. Und die Indizien sprechen dafür, dass es jemand ist, der auch sie vor längerer Zeit missbraucht, vergewaltigt und zu einem furchtbaren Mord gezwungen hatte: Kilgrave. Auch er hat besondere Kräfte.
Er kann die Gedanken von Menschen manipulieren und sie ohne weiteres dazu bringen, sich selbst und andere umzubringen. Und die Unmengen Bourbon, die Jessica Jones runterkippt, sollen ihre Gedanken vor der fremden Einflussnahme schützen. Ihre Mission ist jetzt klar: Diesen Typen fertigmachen und ihre Selbstachtung zurückgewinnen. Spannend, toll gefilmt, bis in die Nebenrollen stark besetzt. Mit Krysten Ritter als Jessica, David Tennant als richtig gut fieser Kilgrave, Mike Colter als Co-Superheld Luke Cage und Carrie-Ann Moss als dominante Superanwältin Jeri Hogarth.
Christopher Werth
Hier geht es zum Trailer. Hier ein guter Überblick zum Hintergund der Marvel Comicfigur.
Marvel’s Jessica Jones, USA 2015, Autorin und Showrunner: Melissa Rosenberg, Musik: Sean Callery, Kamera: Manuel Billeter, Produktion: Netflix