Erotische Laktation, Nekrophilie und andere Zerstreuungen oder Cool ist out
– (Luther’s Lament II:) Romane und Fernsehserien haben eine unterschiedliche DNA, ihre produktionsästhetischen Voraussetzungen differieren erheblich, auch wenn sie Teil ein und desselben Narrativs sind: In unserem Fall fungiert ein Roman als Prequel zu einer schon entwickelten TV-Serie: „Luther“ von Neil Cross. Kann das gutgehen? Thomas Wörtche über den Roman „Luther. Die Bedrohung“.
Roman/Drehbuch – Drehbuch/Roman?
Neil Cross ist davon überzeugt: „Luther. Die Bedrohung“ ist nicht etwa eine ex-post-novelization eines nie gedrehten Prequels zur Serie, sondern ein „richtiger Roman“. Auf jeden Fall betont er das in den Credits am Ende des Buches, das in der Tat mit den Szenen aufhört, mit denen die TV-Narration anfängt. Die letzten Seiten des Romans sind, wenn kein Drehbuch, so doch eine schon sehr ausführliche Outline für ein Drehbuch, ein Storyboard in Prosa sozusagen. Der Londoner Detective Chief Inspector John Luther hat den Erz-Schurken erwischt, jetzt müsste er ihn verhaften oder umbringen. Aus dieser Sequenz heraus lebt der moralische Hauptkonflikt der ganzen Serie: DCI John Luther ist nämlich ein gewalttätiger Polizist, der zum Vigilantentum neigt. Ob aus überströmender Emotion, aus biografisch induzierter Wut oder Jähzorn oder aus Zweifel am „System“ – das muss verhandelt werden und ist folgerichtig Thema der TV-Version, über die wir hier nicht reden, und leitmotivisch Thema der Romanfassung.
Die Form
So ambigue das Schlussbild des Romans in Bezug auf die moralische Begründung des Verhaltens des Helden ist, so ambigue und unentschieden ist der Roman selbst.
Nicht mal so sehr im Formalen. „Luther. Die Bedrohung“ ist filmisch geschnitten, dialog-lastig, mit personalen Einschüben und Häppchen inneren Monologs. Keine zentralperspektivische Angelegenheit. Zentralperspektiven sind meistens doktrinär und aus vielen anderen Gründen problematisch, aber immerhin disziplinieren sie, sie schaffen zumindest eine gewisse Konsistenz auf der Textebene.
Bei den andauernden Perspektivwechseln von Cross dominiert die Bildebene, die Szene, das Tableau. Und bei einer Aneinanderreihung von Bildern, Szenen und Tableaus ohne größere literarische Klammer neigen diese Elemente dazu, disparat zu werden, auseinanderzufallen. Der ganze Roman bewegt sich relativ einfach von A nach B – und das ist sehr konventionell: In London geht ein irrer Mörder um, der ganze Familien abschlachtet, hochschwangeren Frauen das ungeborene Kind aus dem Leib schneidet. DCI Luther von der Serious Crime Unit der Metropolitan Police, wegen seiner kriminalistischen Intuition geschätzt, wegen seiner latenten Gewalttätigkeit gefürchtet und wegen der obsessiven Hingabe an seinen Beruf skeptisch beäugt, heftet sich „dem Täter auf die Spur“ (ja, genau so altmodisch kann man das in diesem Fall tatsächlich formulieren) und kriegt ihn am Schlafittchen.
Diese Geschichte ist simpel, die Nebenhandlungen sind zunächst, was sie sind: Nebenhandlungen. Luthers Stress mit Gattin Zoe, sein Feldzug gegen den Immobilienhai Julian Crouch und dessen Knochenbrecher; die makabren Geschichten um den netten Nekrophilen von nebenan, und von der dito netten Hure Paula, die auf erotische Laktation spezialisiert ist und nebenbei eine hübsche Hommage an Monica Belluccis Auftritt in „Shoot‘ Em Up“ darstellt … Usw.
Was ist Luther?
Diese Nebenhandlungen sind episodisch, sie tragen, wenn überhaupt, nur sehr fatal zur Sinnbildung des ganzen Romans bei. Denn Cross schwankt nicht nur perspektivisch hin und her, genauso synthetisch wirken seine verschiedenen Organisationsformen der einzelnen Episoden. Lediglich bei der Story vom Immobiliengangster entsteht eine Art Sub-Plot. Seltsamerweise ist dieser Sub-Plot – Hai und Schläger tyrannisieren wegen schneller Entmietung einen alten Mann und sein Hundchen, Luther und Kollege Reed sind aber noch viel fieser und natürlich hemmungslos illegal und die Dienstaufsicht sieht blöd aus – aus ganz anderem Holz als die völlig an den Haaren herbeigezogene und in ihrer blutspritzenden Drastik sowieso alberne Haupt- und Killer-Handlung. Hier, wo es um Politik und handfeste Wirtschaftsverbrechen geht, ist Cross ein kleiner Roman im Roman gelungen, der sich auf BritNoir-Traditionen von Ted Lewis bis Bill James berufen kann. Vor allem auf Bill James, dessen maliziöse Art, policing außerhalb der störenden Parameter von Gesetz & Ordnung zu featuren, sowieso für die Kriminalliteratur aus dem UK viel wichtiger ist als man das hier, wo Bill James seit Jahrzehnten nicht richtig stattfinden darf, versteht. „Luther“, das zeigt dieser kleine Sub-Plot immerhin ganz deutlich, steht nicht in der Tradition des üblichen abgewrackten, mit familiären Problemen hadernden, melancholischen Bullen der schwedischen Machart. „Emotional“ und „anti-cool“ sind im Falle Luther eher dynamische, vorwärtstreibende Elemente. Cool ist out, anti-cool ist cool.
Auch das Obsessive kommt aus genuin britischen Quellen: Im Zusammenspiel mit einer gewissen, fast magischen Verbindung zu den Opfern, mit einem Furor zugunsten der Toten, schließt Cross Luther an den nameless Sergeant von Derek Raymond an, auch was die Energie und die Power seines Engagements als Polizist angeht, notfalls eben wider alle Formalia, wider Legalitätsprinzipien und standardisierte Vorgehensweisen.
Graduell könnte man auch unseren babyraubenden Serial-Killer (der doch nur eine eigene Familie haben will, nach seinen devianten Vorstellungen allerdings) hier im Sinne Derek Raymonds als „Machtausübenden“ verstehen, der sich im Großen und Ganzen im Einklang mit den gesellschaftlichen Werten befindet (family values, in unserem Fall) und notfalls auch mittels exzessiver Gewalt daran teilhaben möchte. Also eine Tendenz, die die Polizei eher stützen, denn bekämpfen müsste – und insofern handelt Luther als wütender Polizist nicht im Einklang mit der Gesellschaft, sondern subversiv, gegen die „Macht“, cum grano salis und nur ganz nebenbei bemerkt.
Immerhin, Cross radikalisiert seinen Luther auch nicht ansatzweise derart stark, wie dies Derek Raymond mit seinem Sergeant getan hat, und – man darf das begrüßen – Cross verdunstet die Dynamik der Figur auch nicht in pseudoliterarischer Ambitionitis, wie das etwa in den Romanen von David Peace stattfindet.

John Coltrane
Angry black man
Die Figur Luther ist auf einen bestimmten Schauspieler hingeschrieben: auf „Wire“-Star Idris Elba, der körpersprachlich mit einer (eher bewussten als unbewussten) Überblendung von Thelonious Monk und John Coltrane (bärenhaft-tapsig, leicht gebeugt, aber energetisch, rebellisch) an eine bestimmte Ikonographie von „angry black man“ anschließt – die allerdings, nächste Brechung, wieder anders verstanden werden könnte, wenn man eine spezifische Gender-Perspektive anlegt (allerdings gilt das eher für die TV-Serie).
Dennoch – all das sind deutliche Hinweise, dass das Konzept „Luther“ versucht, andere, als die gerade handelsüblichen Cop-Formeln in den Vordergrund zu spielen.
Synthesen …
Natürlich kann man den Roman auch noch weiter nach seinen „Bausteinen“ scannen, die zuweilen eben recht unvermittelt übereinandergetürmt werden. Die strenge, aber letztendlich supportive Chefin, das Weichei von Oberchef, den suspekten Ermittler von der Dienstaufsicht, das vergrabene Opfer mit dem ungünstigen Sauerstoff-Timing als Suspense-Maschinchen – wir kennen die Figuren und Standardsituationen alle, aber wir kennen sie nicht nur aus tausenden von Narrativen über Polizei und Serialkiller, sie sind allesamt realitätskompatibel und rein artifiziell gleichermaßen.
Bleibt nur die Frage, warum sich ein gerade transmedial so vielversprechendes Konzept immer wieder an der alten Serial-Killer-Topik abarbeiten muss, die erkenntnismäßig (und da können so viele Derek-Raymond-Allusionen drinnen stecken wie sie wollen – mit „I was Dora Suarez“ von 1991 ist der Serial-Killer sinn- und bedeutungsmäßig ausgeschöpft und wohnt im Wachsfigurenkabinett) wenig hermacht.
… Ausflockungen
Diese ganzen Unentschiedenheiten, die im Roman sichtbar werden, haben dann, so gesehen, tatsächlich ihren Urgrund darin, dass „Luther. Die Drohung“ zwar ein „richtiger Roman“ sein will, dies aber nur in Teilen ist – ausgerechnet eben in den Teilen, in denen er am weitesten von der Haupthandlung entfernt zu sein scheint. Da, wo er nur eine Fang-mich resp. Räuber-und-Gendarm-Geschichte erzählt, zerfasert und zerfällt er, da ist er nur noch „novelization ex-post“ im schlichtesten Sinne. Roman und Drehbuch können durchaus am selben Narrativ arbeiten, aber nicht mit denselben Mitteln. Das ist banal, aber auch in diesem Fall wieder zuungunsten des Romans ausgegangen.
Aber …
Aber: Wir wollen nicht vergessen, dass ein aus Gründen (selbst aus solchen des kommerziellen Kalküls) gescheiterter Roman wie dieser immer noch tausendmal besser und sinnvoller ist, als das ganze risikolose Geschreibsel, das uns immer so quält. Immerhin ist der Roman von Neil Cross auch interessant und unterhaltsam und sollte zu Recht wohlwollende Aufmerksamkeit für das ganze transmediale Projekt „Luther“ erreichen.
Thomas Wörtche
Neil Cross: Luther. Die Drohung. (Luther. The Calling, 2011) Roman. Deutsch von Marion Herbert. Köln: DuMont 2012. 413 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Hompage von Neil Cross. Elba bei Facebook. Christiane Geldmachers Besprechung der TV-Serie findet man hier.