Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Markus Pohlmeyer über Cixin Liu „Weltenzerstörer“

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Von Markus Pohlmeyer

Eine wunderbare kleine Novelle, gigantisch groß und episch in den kosmischen Perspektiven. Oder: Eine Meditation über Fressen und Gefressen-Werden? Ein Drama auf jeden Fall! Das ich mit meiner europäischen Perspektive so deute: Eine UNO-Weltraumpatrouille unter der Führung eines chinesischen Kommandanten entdeckt einen Kristall aus dem Epsilon-Eridani-System, der vor der Ankunft des Weltenzerstörers warnt, einer „Weltraumarche“[1] – das sei ein Ring (50 000 km im Durchmesser![2]) mit unvorstellbarer Gravitationskraft, der sich um Planeten lege und deren Ressourcen plündere. So weit die Exposition.

Dann die steigende Spannung: Ein Botschafter erscheint vor (wörtlich zu lesen!) dem Hauptsitz der Vereinten Nationen, eine zehn Meter große Riesenechse,[3] ausgestattet mit Übersetzungstechnologie: „Er stellte sich selbst als »Weiser« vor, aber seine äußere Erscheinung und sein Verhalten, das er im Folgenden an den Tag legte, führten dazu, dass man ihn bald nur noch »Beißer« nannte.“[4] Beißer wolle über das Schicksal der Menschheit entscheiden: „»Die Sache ist ganz einfach. Ich muss nur einmal kosten …« Mit diesen Worten streckte er seine mächtige Klaue aus und schnappte sich ein europäisches Staatsoberhaupt aus der Menge. Mit einem geübten Schwung schleuderte er den Mann in sein Maul und begann genüsslich zu kauen.“[5] Fazit: Die Menschen wären gut als Zuchtvieh geeignet! Auf einer archäologischen Stätte erläutert Beißer danach am Beispiel von Ameisen, wie Menschen deren beeindruckende Stadt bei ihrer Grabung einfach so zerstört hätten: „»Wir werden noch lange miteinander zu tun haben, und es wird noch viel zu besprechen geben. Das Gerede von der Moral lassen wir dabei besser bleiben. Im Universum ist dergleichen ohne Bedeutung.«“[6] Einem kleinen Teil der Menschheit soll trotzdem nun erlaubt werden, auf dem Mond eine Zuflucht zu finden.

mond_aPeripetie: Getarnt und trickreich vorbereitet, wird der Mond später durch die Zündung von Millionen Atombomben als Geschoss gegen den Weltenzerstörer gejagt, über den mit Hilfe des Kristalls herausgefunden wurde, dass es Grenzen für seine Beschleunigung gebe. Fast scheint die heroische Menschheit gewonnen zu haben. Gerade noch dem schnelleren Mond ausweichend, gelingt es aber dem Ring, trotz vieler Risse, sich um die Erde zu legen.

Nach der Katastrophe kommen nun – im umgekehrter Reihung zur klassischen Dramentheorie – retardierende Momente, die gewissermaßen Erzählzeit und erzählte Zeit angleichen, während die Erzählinstanz uns davor durch die Jahrhunderte geradezu gejagt hat! Beißer und der Kommandant verbrachten die Phase, während der das Imperium die Erde verarbeitete, im Kälteschlaf; und es folgt nun ein Höhepunkt dem nächsten – im Epilog, auf den Seiten 55 bis 71, für einen Text, der auf Seite 9 beginnt, ein nicht unbeachtlicher Umfang! Der Kommandant (jetzt Marschall) und Beißer liefern sich ein letztes, das entscheidende Duell, aber ohne Waffen. Das Imperium sei in Eile, und deshalb wäre die Erde nicht gänzlich verwüstet worden! Beißer hatte in einem Kasten Erde, grünes Gras und Ameisen aufbewahrt. Die letzten Soldaten sollen jetzt auf das Schiff gehen, auf dem schon zwei Milliarden Menschen und der Urenkel des Marschalls als glückliches, in paradiesischen Zuständen lebendes Vieh gehalten werden. Warum? „»Das ist die Grundvoraussetzung für ihre Zucht. […] Ihr Erdbewohner seid eine echte Delikatesse. Nur die Obersicht unseres Imperiums kann sich euer Fleisch leisten […].«“[7] Der Marschall wird in einer aufgezeichneten Botschaft von seinem Urenkel unbarmherzig zurückgewiesen, denn wie „wilde Bestien“ hätten sie vor dem Krieg gelebt! – und weiter: „»[…] Wie Ungeziefer! […] Um ein Haar hätten Sie die Menschheit daran gehindert, in dieses herrliche Paradies einzuziehen – das ist doch pervers! […]«“[8] Das Futter scheint schon ganz in seiner neuen Rolle aufgegangen zu sein. Die Erzählerinstanz gibt uns daraufhin Einblick in Beißers Seele (!): „Bewegt betrachtete Beißer die letzten wahren Menschen, die da vor ihm standen.“[9] Und der nächste Schritt in diesem Drama: warum seien sich diese zwei Zivilisationen so unwahrscheinlich ähnlich?[10] Wer es bis hier hin noch nicht geahnt haben sollte: das Imperium sind … Dinosaurier! „»Gegen Ende der Kreidezeit erreichte unsere Zivilisation ihre Blüte. […U]nd im Zuge unseres rapiden Bevölkerungswachstums konnte das irdische Ökosystem unsere Gesellschaft kaum noch ernähren. Also hielten wir uns am Mars schadlos, dessen Ökosystem sich damals gerade im Anfangsstadium befand.«“[11] Die gebauten Archen seien dann zu einem Schiff verschmolzen, und so wäre das Weltenzerstörerimperium entstanden. Und doch existiert ein grundlegendes Problem: die physikalischen Gegebenheit der Milchstraße und die biologische Struktur der Dinosaurier erzwingen Wanderschaft:

„»Unser Imperium gleicht einem Fisch in einer kleinen Pfütze, die austrocknet: Bevor die Pfütze völlig verschwunden ist, muss er einen verzweifelten Sprung wagen. […] Was die nostalgischen Gefühle angeht [Anm. MP: Die Dinosaurier waren ja zu ihrer Ursprungswelt, ihrer Heimaterde zurückgekehrt.]: Jahrmillionen einer beschwerlichen Weltraumodyssee[12] und unzählige interstellare Kriege haben unsere Spezies hartherzig gemacht. […] Was ist das Wesen einer Zivilisation? Zivilisation bedeutet Verschlingen, ein unaufhörliches Fressen und Expandieren.«“[13]

Exkurs: Nietzsches Wille zur Macht auf galaktischer Ebene in die Absurdität getrieben? Der auf die blanke Existenz reduzierte Sprung (eine Denkfigur des dänischen Philosophen Sören Kierkegaards, ursprünglich als Sprung in den Glauben, in die Metaphysik, gedacht) führt hier als Sprung in den anderen Tümpel (= „zu einem anderen Spiralarm der Milchstraße“[14]) – eine prähistorische Ikone, wie Fische sich in Zeiten der Trockenheit hätten retten und so den Gang ans Land erfinden können – geradewegs in einen evolutionären Naturalismus und nihilistischen Mechanismus des Zerstörens und Fressens von kosmischen Ausmaßen. Die Dispensierung aller ethischen Dimensionen hält der Zerstörer aber nicht konsequent durch, denn Beißer respektiert die freie Entscheidung der Soldaten, die sich damit größer als das Imperium erweisen, nämlich Leben zu schaffen und nicht zu vernichten. Und somit wandeln sich die einstigen Krieger (auch darin den Dinosauriern nicht unähnlich) zu Schöpfern! Die Menschheit wurde einerseits gezwungenermaßen Ressource für die Dinosaurier, sie bietet sich andererseits und alternativ und freiwillig aber auch als Ressource für eine neue Erde an!

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Die geretteten Ameisen könnten zwar auf der Erde überleben, aber sie fänden keine Nahrung. Die letzten, wahren Menschen entscheiden sich überraschend, nicht mit dem Imperium zu fliegen: „»Ihr … wollt den Ameisen als Nahrung dienen?!« Die irdischen Soldaten nickten einmütig. […] »Vor mir und meinen Nachkommen liegt nur das unendliche Universum mit seiner ewigen Nacht und seinen unaufhörlichen Kriegen. Wie könnten wir darin je ein Zuhause finden?«“[15] Die vermeintlichen Sieger haben sich selbst zu einer nie-endenden Irrfahrt verdammt. Die vermeintlich Besiegten ermöglichen schließlich in der berührenden Geste eines Selbstopfers das Wunder: auf ihrer, auf einer Heimat, die wüst und leer war[16], für deren Zukunft sie jetzt Verantwortung übernehmen, während die Dinosaurier eben diese Erde in den ökologischen Kollaps getrieben und jetzt noch einmal zerstört hatten! „Die Nacht senkte sich herab. Der geschrumpfte Ozean war glatt wie ein Spiegel. Makellos reflektierte er die Milchstraße. Es war die stillste Nacht in der Geschichte des Planeten. In dieser Stille wurde die Erde wiedergeboren.“[17]

„Weltenzerstörer“ – eine Novelle im europäischen Verständnis? – wird mit hilfreichen sprachlichen wie wissenschaftlichen Anmerkungen, einer kleinen Literaturgeschichte „Was macht chinesische Science-Fiction chinesisch?“ (von Xia Jia), mit Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache und einer Leseprobe aus dem letzten Teil der bekannten Trisolaris-Trilogie gelungen abgerundet. Für diese Novelle gilt: „Die westliche Science-Fiction macht den chinesischen Leser mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschheit vertraut, mit jenem modernen Prometheus, der selbst Herr über sein Schicksal ist. Vielleicht kann der westliche Leser durch die chinesischen Science-Fiction Bekanntschaft mit einer alternativen chinesischen Moderne machen und sich zu einem neuen Modell unserer Zukunft inspirieren lassen.“[18]

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensbur. Seine Texte bei uns hier.

Cixin Liu: Weltenzerstörer. Novelle. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Heyne Verlag, München 201. 128 Seiten, 8,99 Euro

[1] Cixin Liu: Weltenzerstörer. Novelle, übers. v. M. Hermann, München 2018 (Heyne), 12.
[2] Vgl. dazu Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 12.
[3] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 16.
[4] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 16.
[5] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 18.
[6] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 27.
[7] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 60.
[8] Zitate: Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 60 und 61.
[9] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 61.
[10] Vgl. dazu Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 62.
[11] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 63.
[12] Hat Beißer sogar Homer gelesen?
[13] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 65.
[14] Weltenzerstörer (s. Anm. 1) 64.
[15] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 69 f.
[16] Vgl. dazu Gen 1,2.
[17] Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 70 f.
[18] Xia Jia: Was macht chinesische Science-Fiction chinesisch, in: Weltenzerstörer (s. Anm. 1), 79-88, hier 86. Siehe auch zur westlichen Perspektive Markus Pohlmeyer: Science Fiction. Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 2014; auch unter CulturBooks – elektrische Bücher (2015).

 

 

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