Die Serie als Roman unserer Zeit
Als Hommage an die abgesetzte Serie KDD – Kriminaldauerdienst, bringen wir hier noch einmal ein Interview mit dem „Erfinder“ Orkun Ertener. Von Stephanie Busch und Ulrich Noller.
Orkun Ertener, geboren 1966 in Istanbul, wohnhaft in Köln, hat in Sachen Kriminalkultur in den vergangenen Jahren Großes geleistet. Seine fürs ZDF realisierte Serie KDD-Kriminaldauerdienst ist – auch international – absolut herausragend: Figurenpsychologisch packender als Emergency Room. Erzähltechnisch komplex wie ein Epos von Jerome Charyn. Treffsicher gesellschaftsdiagnostisch wie die Stoffe von Simenon. Detailgenau auf dem höchsten Level (amerikanischer) TV-Krimi-Erzählkunst. Authentisch wie eine Kriminalreportage von Pieke Biermann. Und obendrein auch noch auf diese seltsam auratische Weise sympathisch, die nur dann entsteht, wenn alle Beteiligten bei der Arbeit richtig, also RICHTIG Spass hatten …
Herr Ertener, haben Sie sich KDD nach der Entstehung noch einmal angesehen, zum Beispiel, als die DVD-Edition herauskam?
Nein. Aber ich habe jeweils die Folgen gesehen, nachdem sie fertig waren.
Und, wie finden Sie dieses Produkt?
Ich finde es, äh, ganz gelungen …
Keine falsche Bescheidenheit!
Nein, nein. Hätte ich es nicht gemacht, wäre das ´ne Serie, die ich selber gerne schauen würde, sagen wir es so. Ich finde sie wirklich, äh, außergewöhnlich. Das ist das richtige Wort.
Was ist denn daran außergewöhnlich?
Das fortlaufende, das horizontale Erzählen; sich zu trauen, über 11 oder 12 Folgen durchgängig zu erzählen; sich zu trauen, den Zuschauer mit losen Enden stehen zu lassen; vor allem sogar die erste Staffel mit so einem riesigen Cliffhanger stehen zu lassen – das alles ist, glaube ich, sehr ungewöhnlich.
Was ist das denn für eine Serie? Erklären Sie KDD doch mal den Lesern, die das Vergnügen noch nicht hatten …
KDD erzählt die Geschichte einer Berufsfamilie. Das sind insgesamt sieben Polizisten; sechs Kriminalpolizisten, eine Schutzpolizistin. Sie arbeiten in der so genannten Kriminalwache im Dauerdienst. Der Dauerdienst ist zuständig für alle Fälle, die reinkommen, wenn die Fachkommissariate nicht da sind. Die Polizisten vom Dauerdienst haben den ersten Zugriff am Tatort – und sie sind für alles zuständig, von Mord über Diebstahl über Einbruch… Unsere Serie erzählt nun vor allem die persönlichen Geschichten, die privaten Entwicklungen dieser Ermittler. Zum Teil sehr soapig, fortlaufend. Zum Teil aber auch in kleinen Krimi-Miniaturen, zwei bis drei gibt es davon pro Folge; und das sind meist authentische Kriminalfälle. Fast alle sind so passiert, wie wir sie erzählen. Also: Die Serie erzählt den Alltag der Polizeiarbeit in Berlin so authentisch wie möglich.
Eine richtig realistische Serie?
Die Fälle sind allesamt aus der Wirklichkeit entnommen und bei der Polizei so recherchiert. Auch die Charaktere sind authentisch – aber mit Sicherheit in der Anhäufung sehr konzentriert… das ist dann eben der fiktionale Anteil daran.
Das ist ein Unterschied zu den meisten Krimistoffen von deutschen Fernsehsendern: Es handelt sich um eine Ermittlergruppe mit vielen verschiedenen authentischen Figuren…
Das war etwas, was ich schon lange machen wollte: Ein Ensemble erzählen. Das ist eine Form, die mich persönlich sehr anzieht. Man hat die Möglichkeit, vielen verschiedenen Figuren eine ganze Weile lang zu folgen. Deshalb Ermittlergruppe – vor allem, wenn die kriminalistische Arbeit nicht wirklich im Fokus der Geschichte steht.
Haben Sie das im Kopf, wie viele Haupt- und Nebenfiguren Sie haben?
Hauptfiguren: Sieben. Und dann Familienmitglieder, Väter, Frauen, Kinder. Also sicher noch mal doppelt so viele, vierzehn oder fünfzehn.
Eine figurenpsychologische Erzählbreite, wie man sie ansonsten nur aus klassischen Schmökern der Literaturgeschichte kennt…keines Falls aber im Prime-Time-Fernsehen.
Ein amerikanischer Kollege hat gesagt, die Serie sei der Roman unserer Zeit. Wenn sie gut ist, trifft das sicherlich zu. Zumindest, wenn sie horizontal erzählt werden. Da steckte bei KDD viel Potential drin, mit dem die Macher sehr begeistert arbeiten konnten. Das ist ein großer Reichtum.
Wie entwickeln Sie eigentlich so einen Stoff?
Es fängt mit den Figuren an, nicht mit den Geschichten. Das ist der Versuch, ganz eng bei so einer Figur zu sein und dann die sieben Figuren zusammen zu bringen – und das Ganze entwickelt sich letztlich dann beim Schreiben. Aber vielleicht kommen wir ja auch noch auf die Schwierigkeiten bei der Sache…
Ihnen wurde mitunter sozusagen zu komplizierte Komplexität vorgeworfen.
Ich habe am Anfang den Fehler gemacht, alle gleichzeitig bedienen zu wollen. Deshalb ist es aus meiner Sicht mitunter so ein kleiner Overkill geworden. Ich würde das in Zukunft mehr strecken.
Na ja …
Wenn es Ihnen gefällt, sehr schön. Aber ich glaube, die Figuren könnten letztlich noch größere Tiefe erreichen. Weniger wäre mehr. Es wird da viel angetickt und angeteast und nicht weiter geführt; vieles ist in den Ansätzen stecken geblieben. Das muss ich lernen, das müssen wir alle lernen, hier in Deutschland, wo wir noch keine Tradition bei Ensembleshows haben: Wie erzählt man sehr dicht auf engem Raum so viele Figuren gleichzeitig…
Mit welcher Figur hat es denn angefangen?
Mit keiner. Ich hatte die Anfrage, eine möglichst kostengünstige und authentische Serie zu schreiben. Mein Wunsch war dann sofort eine Ensembleshow, und es war fast nahe liegend, das im Dauerdienst anzusiedeln. Das ist der Bereich, der wirklich am engsten mit allem zu tun hat.
Und die Figuren, wie entstanden sie?
Ich habe eine ganze Zeit bei der Polizei verbracht. Habe Interviews gemacht, habe die erste Leiche meines Lebens gesehen, außerhalb privater Zusammenhänge. Und da ist was entstanden. Ich kann das sehr schwer beschreiben. Das ist manchmal ein Satz oder eine Haltung oder eine Geste. Zum Beispiel hat der Leiter der Dienstgruppe in Köln einen Satz gesagt, der für mich ganz wichtig war. Normalerweise, das muss ich dazu sagen, ist man beim Dauerdienst nur ein, zwei Jahre. Das ist sehr anstrengend, das machen die jungen Kollegen. Er dagegen sagte: „Warum soll ich woanders hingehen? Wenn um 16 Uhr alle anderen zu Hause sind, dann gehört mir die Stadt.“ Das ist so ein Satz, da macht es Klick! Und dann entstehen die Geschichten im Kopf: Was, wenn einer dabei ist, der gar nicht arbeiten muss? Was wäre, wenn eine Polizistin sich als Lesbe outet? Aus solchen kleinen Gedanken entstehen dann die Figuren …
KDD ist ja in vielfacher Weise multikulturell. Haben Sie das bewusst so gestaltet oder hat es sich so ergeben?
Dieses Thema hat mich bei meiner Arbeit immer wieder begleitet, schon seitdem ich vor Jahren Sinan Toprak für RTL geschrieben habe. All die Jahre war es mir wichtig zu zeigen: Es gibt auch eine bürgerliche Migration; es gibt Apotheker, Ärzte, Lehrer – nicht nur Drogenhändler, Türsteher usw. Eine Zeit lang gab es ein faktisches Berufsverbot für türkischstämmige Schauspieler beim deutschen Fernsehen, eben, weil es keine Rollen außer Dealern gab, ganz im Gegensatz zum Theater. Bei der Arbeit an KDD war die Entwicklung dann schon weiter: Da waren bürgerliche Migranten; da waren auch Darsteller mit Migrationshintergrund im deutschen Fernsehen schon gang und gäbe. Und plötzlich war das Thema: Es gibt doch tatsächlich bestens integrierte Türken, die sich ihre Bräute aus der Türkei holen! Es entwickelt sich doch tatsächlich eine Parallelgesellschaft, das ist eine Realität! Und deshalb interessierte es mich sehr, die Geschichte eines Polizisten zu erzählen, der sehr angebunden ist daran und der sich erst einmal loslösen muss.
Sie beschreiben auch die Schwierigkeiten, allein schon verbal, die die Polizisten mit ihrem Klientel mit Migrationshintergrund haben. Da kann man sich auch ganz schön in die Nesseln setzen, oder?
Schon, aber wir haben das Thema ja nicht wertend erzählt, und es wird keine Partei ergriffen. Wir versuchen die Dinge abzubilden, wie sie sind.
Was hat Sie eigentlich letztlich stärker interessiert, die Figuren oder die Fälle?
Die Figuren interessieren mich sowieso am meisten. Aber diese Krimi-Miniaturen natürlich nicht viel weniger. Ich bin sehr recherchebegeistert, und wenn ich mit einer Welt konfrontiert bin, die ich vorher noch nicht kannte, dann kann es mich schon packen … eigentlich kann man das nicht trennen.
Sie haben bei der Polizei recherchiert. Wie haben die Beamten denn auf Sie reagiert?
Die waren sehr offen. Was vielleicht damit zu tun hat, dass ich gerne zuhöre. Und dass sie im Alltag vermutlich nicht viel Gelegenheit haben, ihre Arbeit zu reflektieren. Das ist wie ein Gespräch, ein Thekengespräch.
Wenn Sie die Serie so sehen – wie viel ist da von Ihnen als Drehbuchautor im Endprodukt enthalten?
Alles. Buch, Dialoge, die Geschichten sind drin. Und darüber ist Schicht um Schicht um Schicht noch mehr entstanden. Die Inszenierung, die Ausstattung, die Schauspieler, da sind tolle Menschen zusammengekommen. Da ist eines zum anderen gekommen. Auf eine gewisse Weise habe ich es mir genau so vorgestellt …und bin hochzufrieden.
Ist das Endergebnis KDD ein internationales oder ein spezifisch deutsches Produkt?
Ein spezifisch deutsches, weil es etwas von uns und unserer Zeit erzählt. Ich glaube aber: Weil es so ist, hätte es Chancen im Ausland.
Von den Themen her. Und wie sieht es erzähltechnisch aus?
Erzähltechnisch ist es sicher der – noch nicht gelungene – Versuch, die ersten Schritte im Laufstall zu machen – und sich dieser zum Teil wirklich grandiosen amerikanischen Erzähltradition zu nähern.
Interessantes Interview, Herr Ertener, in dem der Interviewte skeptischer ist als die Interviewer. Danke für das Gespräch!
Stephanie Busch und Ulrich Noller
Leicht gekürzte Version eines Gespräches, das im Krimijahrbuch 2008 gedruckt wurde.
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
© Stephanie Busch/Ulrich Noller 2008
Foto: © Theresa Hupp
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