Einer der besten Kriminalromane seit 1945
Constanze Matthes über „Dunkel“ und die sogenannten Hulda-Trilogie von Ragnar Jónasson

Dass Bücher aus Skandinavien mit Verspätung auf den deutschen Buchmarkt landen, ist bekannt. Keine Seltenheit ist dies bei der Belletristik. Dass allerdings auch nordische Kriminalromane betroffen sind, die vor allem hierzulande ein großes Fan-Publikum haben und schon im Voraus in anderen Ländern erfolgreich waren, ist wohl weniger der Fall. Bereits 2015 erschien in Island „Dimma“, der Beginn der sogenannten Hulda-Trilogie von Ragnar Jónasson. Die britische Tageszeitung „The Times“ kürte den Roman zu einem der 100 besten Krimis und Thriller seit 1945. Mit fünf Jahren Zeitverzug ist er endlich in Deutschland erschienen – welch ein großes Glück.
Blutige Tatorte, wilde Verfolgungsjagden, coole Ermittler – nichts ist davon in diesem Band zu finden. Deshalb scheiden sich auch die Geister bei der Bewertung und Einordnung des Werkes, die einen jubeln, die anderen winken enttäuscht ab. Doch sollte man nicht dankbar sein für etwas Abwechslung und Überraschung in der Kriminalliteratur? Wobei die größte wohl in der Heldin selbst liegt. Kommissarin Hulda Hermannsdóttir hat ihr erfolgreiches, indes von nur wenigen Beförderungen begleitetes Berufsleben nahezu hinter sich gebracht. Die 63-Jährige steht vor der Pensionierung, die schneller näher rückt, als ihr lieb ist. Denn kurzerhand soll sie vorfristig für jüngere Kollegen Platz machen und aus dem Polizeidienst ausscheiden. Magnús, ihr Vorgesetzter, überlässt ihr noch einen alten Fall – einen sogenannten „Cold Case“.
Vor knapp einem Jahr wurde die Leiche einer Frau in einer Bucht gefunden. Die durchweg schlampig geführten Ermittlungen ließen damals auf einen Selbstmord oder einen Unfall schließen. Bei der Toten handelte es sich um eine junge Russin, die Asyl beantragt hatte und in einem Heim für Ausländer lebte. Hulda geht ihren Spuren nach, trifft auf die Leiterin des Heims, einen Anwalt sowie einen Übersetzer. Sie schließt schnell einen Selbstmord aus und erfährt im Laufe ihrer Ermittlungen von einem ähnlichen Fall. Die erfahrene Kommissarin ermittelt Schritt für Schritt, sehr akribisch und resolut, allerdings auch für sich allein – als One-Woman-Team. Hulda hat das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, dass ihr sogar Steine in den Weg gelegt werden. Ihre Beziehung zu ihrem Vorgesetzten ist recht angespannt – von Streitgesprächen und gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Frust und Angst vor dem baldigen Ruhestand beschweren deshalb ihren beruflichen Alltag. Ihre einzigen schönen Momente erlebt sie in der Privatheit, in den Begegnungen mit Petúr, einem Freund und möglichen Partner für das weitere Leben; so hofft sie jedenfalls. Denn Hulda lebt allein, ihr Mann ist bereits seit einigen Jahren tot, die Tochter hat sich mit zwölf Jahren das Leben genommen. Ein tragisches Ereignis, das nicht das einzige im Leben der Kommissarin ist.
Noch immer lässt ihre Vergangenheit sie nicht los. Hulda wuchs als uneheliches Kind auf, verbrachte einige Zeit im Heim. Zudem umgibt sie ein dunkles Geheimnis, das erst im letzten Teil des Buches erzählt und indirekt Einfluss auf ihre Polizeiarbeit und einen zweiten Fall nehmen wird. Geschickt verschränkt Jónasson diese Geschichten – die Suche nach dem Mörder der jungen Frau, die schwierige Kindheit Huldas und die Verhöre beziehungsweise Gespräche mit einer Tatverdächtigen, die einen Pädophilen überfahren haben soll. Diese Erzählstränge sind indes nicht die einzige Besonderheit in der erstaunlichen weil klugen Konstruktion des Romans, der – wie bereits eingangs erwähnt – den ersten Teil einer Trilogie, allerdings, chronologisch rückwärts erzählt, den Auftakt einer Zeitreise in die Vergangenheit bildet.

Alle drei Geschichten sind trotz ihrer inhaltlichen und teils auch zeitlichen Unterschiede doch eng miteinander verknüpft. Dreh- und Angelpunkt ist dabei Hulda, die Jónasson mit all ihren Stärken und Schwächen darstellt und ihr Wesen sehr melancholisch einfärbt – ob ihrer tragischen Erlebnisse und Erfahrungen, ihrer Zukunftsangst, Selbstzweifel und Einsamkeit. Man spürt die Sympathie des Autors für seine Protagonistin und hofft deshalb, dass das furchtbare Ende, das einem den Boden unter den Füßen wegzieht, womöglich letztlich dann doch nicht der unumkehrbare Abschluss ist, sondern noch eine Überraschung in einer der beiden folgenden Teile auf den Leser wartet. „Dunkel“ – der Originaltitel „Dimma“ ist auf den Namen von Huldas Tochter zurückzuführen – ist deshalb ein psychologischer Roman, der trotz seines Fokus auf die charismatische Heldin und ihre vielschichtige Persönlichkeit viel und spannend über Ermittlungs- und Polizeiarbeit zu berichten weiß, vor allem auch durchaus kritisch den Umgang mit Asylbewerbern in Island und den Folgen organisierter Kriminalität thematisiert.


„Insel“, der Band zwei der Trilogie, sowie der dritte mit dem Titel „Nebel“ sind in diesem Jahr kurz hintereinander bereits auf Deutsch erschienen. Weltweit feierte der Isländer Jónasson mit dieser Trilogie einen enormen Erfolg. All seine Bücher verkauften sich bisher 1,1 Millionen Mal, ein Großteil dabei in Frankreich. Jónasson, Jahrgang 1976, begann im Alter von 17 Jahren, die Romane von Agathe Christie ins Isländische zu übertragen. Der Schriftsteller ist zugleich als Investmentbanker und Dozent für Rechtswissenschaften tätig sowie Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des „Iceland Noir“, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.
Kritisch anzumerken ist womöglich der Umstand, dass alle Hulda-Romane nicht direkt aus dem Isländischen, sondern vom Englischen ins Deutsche übertragen worden sind, was im Übrigen schon der modernen Variante von Shakespeares Drama „Macbeth“ aus der Feder des Norwegers Jo Nesbø widerfahren war. Bereits zwischen 2017 und 2019 erschienen die fünf Bände von Jónassons Reihe „Dark Iceland“ bei S. Fischer aus dem Isländischen in deutscher Übertragung. Vermutlich wird sich nun die Begeisterung dank Hulda auch auf frühere Werke auswirken. Und der Isländer legt nach. Im vergangenen Jahr erschien sein jüngstes Werk mit dem Originaltitel „Hvíti dauði“ („Weißer Tod“), das Islands Bestseller-Liste anführte und dessen Rechte bereits nach Nordamerika verkauft worden sind. Man kann also weiter gespannt sein. Nur sollte es diesmal nicht wieder mehrere Jahre dauern, bis das Buch hierzulande erscheint.
Constanze Matthes
Die Hulda-Trilogie
Ragnar Jónasson: Dunkel (Dimma, 2015). Deutsch von Kristian Lutze. Btb, München 2020. Klappenbroschur, 384 Seiten, 15 Euro.
Ragnar Jónasson: Insel (Drungi, 2016). Deutsch von Kristian Lutze. Btb, München 2020. Klappenbroschur, 384 Seiten, 15 Euro.
Ragnar Jónasson: Nebel (Mistur, 2017). Deutsch von Andreas Jäger. Btb, München 2020. Klappenbroschur, 352 Seiten, 15 Euro.
Constanze Matthes: 1977 in Großenhain/Sachsen geboren, seit der Kindheit verrückt nach Büchern und Geschichten. Studium der Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Theaterwissenschaft in Leipzig, dabei ein Auslandsaufenthalt in Norwegen und seitdem in dieses Land verliebt. Erste journalistische Erfahrung als freie Journalistin für die Sächsische Zeitung gesammelt, heute unter anderem für das Naumburger Tageblatt/Mitteldeutsche Zeitung tätig. Auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ schreibt sie über Bücher, die sie ans Herz legt. Sie lebt und arbeitet in Naumburg/Saale. Constanze Matthes bei CrimeMag. Bei Twitter.