Feinste Kriminalliteratur mit V-Effekt und Bildern
– Berlinoir sieht aus wie Berlin. Beinahe wenigstens. In Berlinoir geht es zu wie in Berlin, damals und heute. Beinahe wenigstens. In Berlinoir gibt es Mächtige und Ohmächtige. Beinahe wie im richtigen Leben. Berlinoir ist aber noch viel mehr: Ein grandioser Vampir-Thriller-Polit-und-Serialkiller-Comic, von Reinhard Kleist und Tobias O. Meissner. Von Thomas Wörtche
Früher, als im Viktorianismus auch die Neurosen noch in vorbildlicher Ordnung waren, trugen die Vampire die Geschlechtswerkzeuge im Gesicht und ergingen sich in dentaler Doppelpenetration. Das machte sie zu tollen Hechten, damals, ihre leise Melancholie und die dunklen Augenringe gehörten zur erotischen Grundausstattung. Viele, viele Jahrzehnte und viele, viele Schichten kultursemiotischer Auslegungen, psychohistorischer Exegesen und kulturdiagnostischer Exerzitien später, haben auch Vampire ihre diversen Funktions-, Form- und andere Wandel durchgemacht, bis hin zur steilen Medienkarriere als major production in Hollywood.
Und doch haben sie ihren subkulturellen Touch nie ganz verloren. Dauerhaft geblieben ist ihnen die Deckungsgleichheit von Metaphorischem und Wörtlichem: Sie sind immer noch und vornehmlich Blutsauger und deswegen symbolisch und allegorisch beliebt, weil versatil einsetzbar. Als kapitalistische Aussauger, als Emo-Vampire im Beziehungstango, als politische Metaphern und natürlich immer noch doppelpenetrativ im erotischen Clinch, was gerne auch metrosexuell funktioniert.
Vampire siedeln, so gesehen, auch nahe an flauen Scherzen, vulgären Anspielungen und billigen Kalauern, aber das ist eben ihrer populärkulturellen Herkunft geschuldet, die hoffentlich hin und wieder auch gegen den „guten Geschmack“ verstößt.
Dies alles über Vampire und noch viel mehr finden wir in dem wunderbaren „Berlinoir“-Projekt, einer Comic-Trilogie von Tobias O. Meissner (Szenario) und Reinhard Kleist (Bilder), deren abschließender dritter Band „Narbenstadt“ soeben erschienen ist. „Berlinoir – 1 Scherbenmund“ ist von 2003, „Berlinoir 2 – Mord!“ von 2004 – von einem hektischen Erscheinungsrhythmus kann man kaum sprechen.
Blut geb‘ ich für Leben
Berlin heißt bei Kleist und Meissner Berlinoir und ist die Stadt der Vampire. Sie sind die gesellschaftliche Elite, die Sterblichen sind ihnen untertan, ihr Vieh, von dessen mehr oder weniger freiwilligen Blutspenden sie leben. Für den Lebenssaft gibt´s Arbeit (im Niedriglohnbereich) und Subsistenz, Aufstieg in die Vampir-Klasse ist selten, aber möglich, wenn auch nur zäh. Es gibt „den Widerstand“ und es gibt die Prätorianer der Vampire, die „Garde“, zunächst kommandiert von dem arg tschekistischen General Gennadi. Später dann, in Teil 2 und 3, übernimmt die Generalin Radra Cadressis die Macht, eine stock(werte-)konservative und stahlharte Vampiresse, die mit dem eher liberalen Führungsstil des Obersaugers und Regierenden Bürgermeisters Mardocles so ihre Probleme hat (sein Amt heißt „Bürdenmeister“, das Rote Rathaus ist, Überraschung, Überraschung, zum „Blutroten Rathaus“ mutiert, siehe oben unter Kalauer). Denn Mardocles, ein eher zaudernder und grüblerischer Conrad-Veidt-Typ, ist nach dem gelungenen Attentat des Gründungsvampirs und Hierarchen Nicolas Szerbenmund an die Macht geschlittert. Diese Probleme enden später im Schisma. Es wird ein Nordberlinoir und ein Südberlinoir geben, strikt hard-liner-vampiristisch im Norden, eher liberal-dekadent-vampirisch (im Dix/Grosz/Cabaret-Design) im Süden, bevor – aber wir verraten natürlich die Handlung hier nicht – eine Wiedervereinigung stattfindet und der Potsdamer Platz beinahe so aussieht, wie wir ihn heute kennen.
Vampircluster
Bis es so weit ist jagen uns Kleist und Meissner nicht nur durch ganze Typologien des Vampirischen (erotisch, gewalttätig, düster), sondern auch durch die ganze Kultur- und Sittengeschichte Berlins – von Döblin bis Schröders „Politik der ruhigen Hand“, von Christopher Isherwood bis Anita Berber ist alles da. Manchmal eben albern, manchmal im rein Zitathaften aufgehend, aber – chapeau! – immer intelligent, ironisch, sehr gebildet. Kein Kontext aus Film, Literatur, Malerei, Architektur und allen anderen Künsten und keine politische Ikonographie ist sicher vor der fröhlichen Verarbeitungsmanie der Autoren. „M“ und Spartakus-Kämpfer, Mad-Max-Postdoomsday-Szenarien und „Blade Runner“/ „Metropolis“-Kombis und François-Schuiten-Türme, alles und noch viel mehr ist da, glaube Sie mir, wirklich alles. Das Schönste daran aber ist, dass dieses ganze Intertextualitäts- und Interikonizitätsgeclustere absichtsvoll jeder eindeutigen Auslegbarkeit abhold ist. Was wollten uns die Künstler eigentlich sagen? Vieles. Und alles auf einmal.
Und das ist ihnen gelungen so. Auch deshalb, weil die ästhetische Wucht, die einen aus den Bänden anspringt, durch Bild- und Textintelligenz gleichermaßen gedeckt ist. Allein die von Band zu Band wechselnde Farbdominanz ist bestechend – von kreischbunt bis noir-gedämpft und sepia-melancholisch zu klarer, transparenter, fast antiseptischer Brillanz.
Vampirismus als Klassenkampf, Vampirismus als Auseinandersetzung von politischen Systemen, von Menschenbildern und Ideologien, Religionen und Blasphemien, als gemeinsamer Kampf von E- und U-Kultur gegen die Schubladen, als Serialkiller-Krimi und Polit-Thriller mit neostalinistischen Untoten und tölpeligen Gutmenschen, Totalitarismus vs. Demokratie, Freiheit vs. Sicherheit, Blut gegen Leben – das ist feinste Kriminalliteratur mit V-Effekt und Bildern. Grandiose Unterhaltung.
Thomas Wörtche
Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Berlinnoir 1- 3. Wuppertal: Edition 52, 2003/2004/2008, 47, 48 und 48 Seiten, jeder Band 12,50 Euro.