Geschrieben am 1. Juli 2019 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2019

Ross Thomas „Der Fall in Singapur“

„Nein, wir verkaufen keine Versicherungen“

Das erste Kapitel von Band 20 der Ross-Thomas-Werkausgabe als Textauszug

Er war wahrscheinlich der einzige Mann, der an diesem Tag in Los Angeles Gamaschen trug. Perlgraue, die unten aus der aufschlaglosen Hose seines grauen Anzugs herausragten, der so dunkel war, dass er fast schwarz schien. Er trug ein weißes Hemd und eine sauber geknüpfte, blassgraue Krawatte, die sich etwas aufblähte, bevor sie unter einer Weste verschwand. Und da war ein Hut, aber das war nur ein Hut. 

Falls einer der beiden, die aus dem Regen hereinkamen, ein Kunde sein sollte, musste es der andere sein, der Große mit den kurzgeschorenen grauen Haaren und dem spitz abgewinkelten linken Arm, als ob er ihn nicht ganz strecken könnte. Er umkreiste den Wagen langsam, öffnete eine Tür und schlug sie wieder zu, strahlte über den befriedigend dumpfen Knall und sagte dann etwas zu dem mittelgroßen Mann mit den Gamaschen, der darauf leicht die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. 

Der Wagen, ein cremefarbener 1932er Cadillac V-16 Roadster, kam in meinen Besitz, nachdem sein Eigentümer, ein Großhändler für Lebensmittel, sich bei den Absatzaussichten für Sorghumhirse katastrophal verschätzt hatte. Die Rechnung für die Restaurierung des Wagens belief sich auf 4300 Dollar, und der Großhändler hatte sich bedrückt und deprimiert eine ganze Stunde lang für seine Zahlungsunfähigkeit entschuldigt. Drei Tage später klang er optimistisch, sogar fröhlich, als er mich anrief, um mir zu versichern, dass ein Deal Gestalt annahm und bald alles geklärt sein würde. Gegen fünf am nächsten Morgen schob er sich den Lauf eines .32er Revolvers in den Mund und drückte ab. 

Der Cadillac, mit einem 6500-Dollar-Preisschild, bildete jetzt das Herzstück des Ausstellungsraums, flankiert von einem viertürigen 1936er Ford Cabriolet und einem 1938er SS 100 Jaguar. Für den Ford wollte ich 4 500 Dollar, und der Jaguar war bei 7 000 Dollar angesetzt. Aber jeder halbwegs anständige Fremde mit sauberem Hemd, Scheckbuch und Führerschein konnte den Wagen seiner Wahl auch für ein 500 Dollar niedrigeres Angebot haben.

Der Große – er war wirklich groß, gut über eins neunzig – blieb bei dem Cadillac, wobei er die wachsende Ungeduld seines Freundes mit den Gamaschen nicht ganz ignorierte. Der große Mann trug einen zweireihigen blauen Blazer mit Goldknöpfen, eine graue Flanellhose, einen weißen Rollkragenpullover und hatte den ekstatischen Ausdruck eines Würfelspielers, dem gerade zum siebten Mal hintereinander der große Wurf gelungen war. Ich fand, er war sowohl für den Gesichtsausdruck als auch für die Kleidung zu alt. 

Der Mann mit den Gamaschen runzelte noch einmal die Stirn, sagte etwas, und der große Mann warf einen letzten lustvollen Blick auf den Cadillac, bevor sie in mein Eckbüro kamen, einen Glaskasten mit Schreibtisch, Safe, drei Stühlen und einem Aktenschrank. Der Große trat als Erster herein und hielt sich gar nicht erst mit Förmlichkeiten auf. »Was wollen Sie für den Caddy?« Die Stimme passte nicht zu seiner Größe. Sie war hoch, fast piepsig. 
Weil er vielleicht ein Käufer war, nahm ich die Füße vom Schreibtisch. »Sechstausendfünfhundert.« 
Der Kleinere, der mit den Gamaschen, hörte nicht zu. Nachdem er mir einen kurzen Blick zugeworfen hatte, ließ er die Augen durchs Büro wandern. Es gab nicht gerade viel zu sehen, aber er sah so aus, als ob er auch nicht viel erwartete. 
»Hier war früher mal ein Supermarkt«, sagte er. »Von A&P.« 
»Früher mal«, sagte ich. 
»Was heißt das Schild draußen – Les Voitures Anciennes?« Er kam mit dem Französisch besser zurecht als die meisten. 
»Alte Wagen. Alte Gebrauchtwagen.«»Warum schreiben Sie nicht das?«
»Weil dann niemand fragen würde, oder?«
»Das hat Klasse«, sagte der Große und starrte durch die Glaswand des Büros auf den Cadillac. »Echte Klasse. Jetzt mal ernsthaft. Wie viel wollen Sie wirklich für den Caddy?«
»Er ist vollständig restauriert, alle Teile sind original, und der Preis ist immer noch sechstausendfünfhundert.«
»Sind Sie der Besitzer?«, fragte der Kleine. Seine Rs verrieten ihn; seine Ts auch. Er kam von der Ostküste, aus New York oder New Jersey, aber es konnte schon länger her sein, dass er dort gelebt hatte. 
»Einer davon«, sagte ich. »Ich habe einen Partner, der sich um alles Mechanische kümmert. Er ist hinten.« 
»Und Sie verkaufen?«
»Manchmal«, sagte ich.
Der Große wandte sich noch einmal von seiner sehnsüchtigen Inspektion des Cadillacs ab. »Ich hatte mal so einen«, sagte er träumerisch. »Außer, dass er grün war. Richtig dunkelgrün. Weißt du noch, Solly? Wir sind damit nach Hot Springs, mit May und der anderen Puppe, die du hattest, und haben dabei Owney getroffen.« 
»Das war vor sechsunddreißig Jahren«, sagte der Mann mit den Gamaschen. 
»Verdammt, scheint noch gar nicht so lange her zu sein.« 

Der Kleinere ging zu einem der Stühle, zog ein weißes Taschentuch hervor und klopfte damit ein paarmal auf die Sitzfläche, steckte das Tuch wieder in die Hosentasche und setzte sich. Seine Bewegungen waren klar, präzise und gelassen. Er lehnte sich zurück, zog ein goldenes Zigarettenetui heraus und nahm eine ovale Zigarette. Oder vielleicht war das Etui auch so schmal, dass es seine Zigaretten in die ovale Form presste. Er steckte sie mit einem goldenen Zippo an. 
»Ich bin Salvatore Callese«, sagte er, und mir fiel auf, dass seine Anzugsjacke keine Taschen hatte. »Dies ist mein Geschäftspartner, Mr. Palmisano.« 
Er bot mir nicht die Hand an, darum nickte ich beiden nur zu. »Interessieren Sie sich für ein bestimmtes Auto, Mr. Callese?« 
Darauf runzelte er die Stirn und starrte mich aus seinen dunkelbraunen Augen an, die merkwürdigerweise keinen Glanz zu haben schienen. Sie sahen trocken und tot aus, ich erwartete fast, es knistern zu hören, wenn sie sich bewegten. »Nein«, sagte er. »Ich interessiere mich nicht für Gebrauchtwagen. Palmisano meint, er täte es, tut es aber nicht. In Wirklichkeit interessiert er sich für das, was vor fünfunddreißig Jahren war, als er noch einen hochgekriegt hat, und er meint, der Caddy da draußen könnte helfen. Aber das kriegt man nicht durch einen sechsunddreißig Jahre alten Wagen wieder, obwohl ich sagen würde, dass wahrscheinlich eine Menge Ihrer Kunden das denken.« 
»Manche davon«, sagte ich. »Ich verkaufe viel Nostalgie.« 
»Nostalgie«, sagte er. »Ein Secondhand-Nostalgie-Verkäufer.« 
»Mir gefällt einfach der Wagen, Solly«, sagte Palmisano. »Verdammt nochmal, darf mir nicht mal ein altes Auto gefallen?« 
Callese ignorierte ihn. »Sie sind Cauthorne«, sagte er. »Edward Cauthorne. Hübscher Name. Wo kommt der her, aus England?« 
»Ich bin Italiener. Palmisano auch. Mein Alter war Itaker. Konnte nicht mal Englisch. Palmisanos auch nicht.«
Beide waren Ende Fünfzig oder Anfang Sechzig, und Palmisano sah trotz seines seltsam abgewinkelten Arms gut in Form und schlank aus und machte den Eindruck, als ob er ein oder zwei Tage schwerer körperlicher Arbeit gut aushalten könnte. Er hatte ein langes Spatengesicht und einen Mund mit dicken Lippen, der zu groß schien für die piepsige Stimme, die aus ihm herauskam. Seine Nase hakte sich schön in Richtung eines kräftigen Kinns, und seine schwarzen Augen wurden von langen grauen Wimpern schattiert, die viel blinzelten, als wäre er permanent überrascht. 
»Verkaufen Sie was oder sind Sie nur reingekommen, weil Sie aus dem Regen wollten?«, sagte ich. 
Callese ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und zerquetschte sie sorgfältig mit seinem gepflegten schwarzen Schuh. »Wie ich schon sagte, Mr. Cauthorne, ich bin Italiener, und Italiener legen viel Wert auf Familie. Onkel, Tanten, Neffen – sogar Vettern zweiten und dritten Grades. Wir stehen uns nahe.« 
»Eng verbunden«, sagte ich.
»Ganz richtig. Eng verbunden.«
»Versicherungen vielleicht? Ist nur eine Vermutung.«
»He, Palmisano, hast du das gehört? Versicherungen.«
»Ich hab’s gehört«, sagte Palmisano und lächelte beinahe. »Nein, wir verkaufen keine Versicherungen, Mr. Cauthorne. Wir tun nur einem Freund einen Gefallen.«
»Und Sie glauben, ich könnte helfen?«
»Ich glaube schon. Sehen Sie, dieser Freund von mir lebt in Washington und kommt langsam in die Jahre. Noch nicht alt, aber er ist auf dem besten Weg. Und so ziemlich alles, was er an Familie hat, ist dieser Patensohn.« 
»Das ist alles, was er hat«, sagte Palmisano. 
»Richtig«, sagte Callese, »Alles, was er hat. Nun hat dieser Freund im Lauf der Jahre ein schönes, seriöses Geschäft aufgebaut und er beabsichtigt natürlich es jemandem, der ihm nahesteht, zu hinterlassen, etwa einem Verwandten, aber das Einzige, was er an Verwandtschaft hat, ist dieser Patensohn, und der Patensohn ist nicht zu finden.« 

Callese schwieg und starrte mich weiter aus seinen staubtrockenen Augen an. Er hatte einen Schlitz als Mund, der sich an den Winkeln abwärts bog, sogar wenn er sprach. Zwei tiefe Falten zogen sich wie Klammern von seiner Nase um seinen Mund herunter, und eine dünne weiße Narbe wanderte vom rechten Auge über die Wange und zurück zum Ohrläppchen. »Sollte ich diesen Patensohn kennen?«, fragte ich. 
Callese lächelte; jedenfalls hielt ich es für ein Lächeln. Seine Mundwinkel gingen nach oben statt nach unten, aber dabei hielt er die Lippen geschlossen, als ob er seine Zähne nicht sehr ansehnlich fände. 
»Sie kennen ihn«, sagte Callese.
»Hat er einen Namen?«
»Angelo Sacchetti.«
»Was ist mit ihm?« 
»Sie kennen ihn also?«
»Ich kannte ihn.«
»Wissen Sie, wo er ist?«

Ich legte die Füße wieder auf den Schreibtisch, zündete mir eine Zigarette an und warf das Streichholz zu dem Stummel, den Callese auf dem Fußboden zertreten hatte. 
»Wie viel haben Sie über mich ausgegraben, Mr. Callese?« 
Der Mann mit den Gamaschen zog die Schultern zu einem ausdrucksvollen, italienischen Achselzucken hoch. »Wir haben uns hier und da umgehört. Wir haben ein bisschen was rausgefunden.« 
»Dann müssen Sie auch rausgefunden haben, dass ich Angelo Sacchetti vor zwei Jahren im Hafen von Singapur getötet habe.« 

Mit freundlicher Genehmigung des Alexander Verlags.

  • Thomas, Ross: Der Fall in Singapur (The Singapore Wink, 1969). Aus dem Amerikanischen von Wilm W. Elwenspoek, bearbeitet von Jana Frey und Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2019. 320 Seiten, Broschur, 16 Euro.

Dies ist der mittlerweile 20. Band der Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag. Wie immer handelt es sich um die erste vollständige deutsche Ausgabe in neuer Übersetzung.

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