Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Sebastian Knauer über Stefan Wimmers Roman

Einer der größten Krimis, den das Leben zu bieten hat

Zum Roman „Die zwölf Leidensstationen nach Pasing“

Pizzeria Bella Sicilia, München-Pasing. Die „Prolls“ saßen im hinteren Teil des Lokals. Dann kam Banden-Boss Lothar, der seine Befehle „grundsätzlich vom Kampfstern Galactica empfing“, zu den vier Mitgliedern der „Kajal-Clique“. Kajal, eine laut Wikipedia „aus dem Ruß von Butterfett“ gewonnene schwarze Farbe, die als Lidstrich, manchmal auch bei Männern, zum Zweck der „Erweckung der Göttin“ aufgetragen wird.

Aha, erstmal wurde der stellvertretende Kajal-Chef erweckt. „Zwei Hände stützten sich vor mir auf den Tisch. Es waren harte, knotige Hände. Hände, die nur aus einer einzigen Muskelpackung zu bestehen schienen….ich wollte gerade etwas sagen, da packte mich Lothar und drückte meinen Kopf blitzschnell in die Pizza hinein…“ Es war des Erzählers Lieblingspizza „Frutti di Mare“, dementsprechend „verunstalteten Calamari-Tentaklen und Shrimps“ bald sein Gesicht.

„Ich spürte den warmen Teig und hörte die Worte, die sein geifernder Mund über mir schrie: ‚Es san zwölf LEIDENSSTATIONEN nach Pasing‘!“

Stefan Wimmer mit seiner verstorbenen Großmutter im Garten seines Onkels, 1985 © privat

So heißt denn auch das neue Buch des Münchner Autors Stefan Wimmer, der einen der größten Krimis beschreibt, den das Leben zu bieten hat: die eigene Jugend. Es gibt Täter, es gibt Opfer, es gibt Ungerechtigkeiten und tiefe Selbstzweifel, es gibt verhasste Lehrer und geachtete Autoritäten, es gibt den Kampf um die Macht in der Clique und den kleinen-großen Tod, wenn eine erste Liebe nicht erwidert wird oder zu Ende geht. 

Und das Beste: jeder Leser hat diese Zeit der Verwirrung, genannt Jugend, in dieser oder jener Form durchlitten. Die „Clique“, das war die Gegenwelt zu allem Erwachsenen und eine Art Forschungslabor fürs Großwerden.

Neben dem Erzähler Wimmer besteht die „Kajal-Clique“ noch aus seinen Freunden Roderick – einem Jungen aus gutem Haus, der wegen seines reichen Vaters immer flüssig ist – sowie dem Pechvogel Deibel und dem schönen Meindorff, mit dem sich Wimmer immer verbale Geplänkel liefert. Das Quartett mit Vorliebe für Gothic-Gesichtslook, Schminke und schwarze Kleidung hat seinen Lebensmittelpunkt rund um den Pasinger Bahnhof, in den frühen Achtziger Jahren, zu einer Zeit, als noch Walkmans üblich waren, an denen Roderick denn auch während des Unterrichts bei der – in „nobelmen“ vernarrten – Englischlehrerin Endress regelmäßig rumfummelt. Endress ist es auch, die dem Erzähler bescheinigt, „zu sehr von Frauen besessen“ zu sein, nachdem sie ihn dabei erwischt hatte, „wie er auf einem Schmierblatt eine nackte Frau mit Strapsen“ gezeichnet hatte.

Autor Stefan Wimmer bei den Telefonzellen am Pasinger Bahnhof, 1985 © privat

In „Hanni’s Kiosk“ im Stadtpark, beim Ausschank von Weißbier und Härterem wie den komplett ungenießbaren Sechs-Ämter-Tropfen, finden die Gymnasiasten ein zweites Zuhause. Die juvenile Vierer-Bande kämpft sich am humanistischen Karlsgymnasium Pasing Richtung Abitur durch und versucht, ihr verzweifeltes Bemühen um den Vollzug des ersten Geschlechtsverkehrs mit den schulischen Anforderungen und ihrem heftigen Alkoholkonsum unter einen Hut zu bringen. Schon damals hatte man in Bayern nicht nur Abitur gemacht, sondern das bayerische Abitur. Nix für Deppen, wie die Hamburger.

Wimmer mit Freund Moses Wolff, ebenfalls Schriftsteller und Drehbuchautor, im „Bella Sicilia“ © privat

Das Personal:
„Thorwald, Roderick (= der Boss)
Meindorff, Michael (= das Brain)
Deibel, Richard (= der Clown)
Wimmer, Stefan (= der Chronist)“

Das Hauptprogramm der Pasinger Romanfiguren, die auch in jeder 40 Jahre-Abiturfeier mitspielen könnten, hieß „PPP  Partys, Petting, Punkmusik“: „Die schlimmsten Gefahren für einen Heranwachsenden“  so die Englisch-Lehrerin Endress.

Wie schon in seinen Vorgänger-Romanen Der König von MexikoDie 120 Tage von Tulúm und Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas zeigt sich der Schriftsteller Stefan Wimmer von seiner stärksten Seite, wenn er Selbsterlebtes oder Recherchiertes in offenbar leicht abgewandelter Form fiktional verknüpft. Einmal Journalist, immer Journalist. Jahrelang arbeitete Wimmer, Jahrgang 1969, für  wie er selbst sagt  „Busenmagazine“, die das glitzernd gemachte Leben von Thronfolgern und Prinzessinnen, Superreichen und Sternchen sowie den Schrott anderer V.I.P.’s in Millionenauflage verwandeln. Drei Jahre lang berichtete Wimmer von Mexiko aus. Der Chronist muss kaum etwas erfinden, er hat alles selbst erlebt, gut beobachtet und detailreich, saftig, farbig aufgeschrieben. Das genügte jedenfalls auch für den Deutschen Radiopreis, der Wimmer verliehen wurde, und seine freien Tätigkeiten beim Deutschlandradio und bei den ARD-Sendern.

Schon die Kapitelüberschriften des neuen Buches lesen sich wie ein Fahrplan durch eine unbekannte Welt: Cunnilingus, Erich! – Pasing ist Kriegsgebiet –  Chapman will nur töten – H-a-t-t-e Christoffel schon?  Mit Baby Love im 34er –  Wer macht das Rennen bei Baby Love?  When the greek noblemen prepare for war  Sag der Clique nichts!  Jagd auf Deibel – It’s Just Survival.

Und dass mit den „Prolls“, den Widersachern der „Kajal-Clique“, nicht zu spaßen ist, erläutert der Autor schonungslos: „Immer wieder verschwand einer der Gang wegen Waffenbesitzes, schwerer Körperverletzung oder Widerstand gegen Vollzugsbeamte im Bau.“ Wenn einer der  trotz ihres jugendlichen Alters  schweren Jungs in Pasing festgenommen werden sollte, „musste die Polizei regelmäßig in Mannschaftsstärke anrücken.“

Als die Kajal-Clique ihre Umtriebe themenmäßig in Richtung Musik ausweitet und damit beginnt, im Pasinger Fachbetrieb Elektro Egger (teilweise auf Bestellung von Klassenkameraden) Gothic-, Punk- und Indie-Platten zu klauen, geht es wieder ins volle Risiko. Der „Belesene“ (so der Spitzname des Protagonisten) hat bei diesen Diebeszügen freilich noch anderes im Sinn: Die attraktive Verkäuferin an der Kasse, „eine circa 44-jährigen Blondine mit unglaublich schönen Brüsten und Bubikopf, die trotz ihres Alters fast so geil aussah wie Baby Love.“ Auch heute noch hätte Wimmer gerne einen Hinweis darauf, wo die Blonde zu erreichen ist. Also bitte melden!

Kurz nach den „Raubzügen im Elektro Egger“ erhält der Erzähler schließlich von seiner Angebeteten „Baby Love“ einen freizügigen Liebesbrief, und jetzt übernehmen die Schmetterlinge in seinem Bauch erst recht die Herrschaft. Die Musik dazu: „The Caterpillar“ von der Gruppe The Cure.

Gekonnt spannt der Autor mit Busenmagazin-Erfahrung den Bogen, ob ihm die verführerische, bayerisch-handfeste Baby Love seinen Herzenswunsch in Erfüllung gehen lässt. Am Schluss will man das Buch gar nicht schnell zu Ende lesen, um sich die schöne Erwartung nicht kaputt zu machen.

Der „Belesene“ trägt  wie stets  auch bei diesem finalen Date mit „Baby Love“ eine Reclam-Ausgabe des griechischen Philosophen Platon mit sich. Der zufällig in der Eisdiele aufkreuzende Prollschläger Märkl, dessen „braune Helmfrisur“ wie ein „Playmobil-Haarschnitt“ aussieht, verwechselt die Platon-Ausgabe jedoch mit einer Art Vietnam-Landserbuch, nachdem zur Zeit der Erzählung zunehmend grausame Indochina-Kriegsfilme wie Platoon in Wertschätzung stehen.

Wimmers neues Buch („Pasing ist eine Weltanschauung. So wie er all das erzählt folgt man dieser Weltanschauung gerne“, SPIEGEL digital, 1.4.2020) schreckt auch vor den heiklen Themen des Erwachsenwerdens nicht zurück. So stellt der Autor besorgt fest, dass er eventuell an Impotenz leidet, da er beim Masturbieren  in welcher Weise auch immer  nicht zum Samenerguss gelangt, nur ab und zu im Schlaf während „völlig abstruser Träume“. Ganz schlecht für einen Jugendlichen, der seine ersten Sexualerfahrungen mit allen Unsicherheiten gerade vor sich hat. So herrscht bei ihm nackte Angst, dass seine Angebetete „Baby Love“  angesichts eines „missglückten Pettings“ sagen könnte: „Was soll ich mich hier weiter abmühen, da geh ich lieber Wäsche bügeln!“ Geschickt hält der Autor den ungeduldigen Leser hin, ob es am Ende doch noch klappt mit „Baby Love“, die ihn an der Bushaltestelle empfängt, „mit korngelber Jeans“, „weinrot lackierten Fingernägeln“ und „einem Seidentüchlein um den Hals“, „fast wie ein Bonbon, das darauf wartet, ausgepackt zu werden“.

Das ganze Buch gleicht so einem Bonbon, das ausgepackt werden will.

Sebastian Knauer

  • Stefan Wimmer: Die zwölf Leidensstationen nach Pasing. Heyne Hardcore, München 2020. Hardcover, 256 Seiten, 18 Euro.

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