Geschrieben am 1. Juni 2019 von für Crimemag, CrimeMAg Juni 2019

Thomas Wörtche zu Remigiusz Mróz

Verblüffend

Fresh blood aus Polen. Irrsinn und Verwirrung als kreative Prinzipien. Thomas Wörtche freut sich. 

Unausrechenbare Bücher sind was ganz Feines und was ganz Rares. Und dass ein Buch auf den allerletzten Seiten noch einen wirklich fiesen Dreh hinkriegt, das ist arg selten. Schon deswegen ist Remigiusz Mróz` „Die kalten Sekunden“ bemerkenswert. Die Story ist ziemlich irrsinnig: Alles beginnt im polnischen Opole, als Damian Werner und seine Freundin Ewa aus der Kneipe kommen und ein bisschen am Flussufer knutschen wollen. Da tauchen drei Typen auf; aggro und auf Zoff gebürstet, schlagen sie Damian zusammen und vergewaltigen Ewa. Als Damian wieder wach wird, ist Ewa spurlos verschwunden, einfach weg. Damians Leben fällt auseinander, er bricht sein Studium ab, fängt an zu trinken und sich zuzudröhnen, ist überzeugt, die seiner Meinung nach untätige Polizei stecke zudem mit in einem Komplott. Er wird asozial und dauerparanoid. Von Schuldkomplexen gepeinigt, sucht er erfolglos Ewa, seine große Liebe, quer durch ganz Polen und verfällt in eine Art resignative Stasis. Nach zehn Jahren allerdings taucht ein Foto von Ewa auf Facebook auf. Ein deutliches Signal an Damian, die Suche wieder aufzunehmen. Dazu heuert er ein Detektivbüro an, Reimann Investigations. Eine irgendwie seltsame Firma, die in einer Prachtvilla an der Ostsee residiert, angeblich gnadenlos effizient ist, und von Kasandra Reimann geführt wird, während Robert Reimann sich eher anderen Geschäften widmet.  

Die polnische Ausgabe

Twists galore

Bis hierhin ist alles klassisch schön undurchschaubar und routiniert rätselhaft. Aber jetzt mischt sich plötzlich neben Damian eine zweite Ich-Erzählerstimme ein – Kasandra Reimann. Und das Buch bekommt einen ersten, sehr beunruhigenden Dreh: Kasandra ist offensichtlich nicht nur wegen ihres gemeinsamen Sohnes an Robert Reimann gekettet. Der ist ein wahnsinniger Psychopath und ein veritabler Großgangster, der Kasandra aufs Brutalste schlägt, tyrannisiert und permanent von seinen Schergen überwachen lässt. Kasandra wiederum ist ihm, anscheinend, psychopathologisch-sexuell verbunden. Zwar nicht nur in Polen ein absolutes neuralgisches Thema, wie Mróz im Nachwort schreibt – aber dort werden jährlich geschätzte 1 Million Frauen (Dunkelziffer höher) Opfer häuslicher Gewalt, drei Frauen pro Woche sterben an den Folgen. An diesen Stellen wird das Buch beinahe unerträglich explizit, Mróz zieht keinen Millimeter zurück, und das ist, weil Einvernehmlichkeit oder Gewaltporn nirgends zu vermuten sind, an dieser Stelle sehr sinnvoll. Es geht darum, Kasandras Situation so ausweglos wie möglich darzustellen und damit eine Tragödie schmerzhaft plausibel zu machen, die sich genau aus dieser Konstellation ergibt. Denn Kasandra ist kein willenloses Dummchen, sondern sehr clever und sie braucht dringend eine Exit-Strategie. Und da kommen Damian und Ewa ins Spiel. Denn auch Damian braucht dringend eine Exit-Strategie, weil seine erneute Suche nach Ewa ein paar dunkle Gestalten, einschließlich der Polizei aufgestört hat, die jetzt alle hinter ihm her sind. Mehr spoilern geht nicht, weil der Höllentrip, den Mróz jetzt inszeniert, so ziemlich alle Parameter der Weltwahrnehmung virtuos ins Rutschen bringt. Die beiden Ich-Perspektiven kreuzen sich, sind manchmal gleichgerichtet, dementieren sich wieder – und werden immer giftiger. Das ist nicht nur Suspense pur, sondern auch von einer emotionalen Gemeinheit, die schon ziemlich atemberaubend ist. Obwohl ein toternster Diskurs zugrunde liegt, ist das Buch kein biederer Diskurs-Roman, kein Roman „über“ sexuelle Gewalt, sondern löst seine diskursiven Voraussetzungen schon fast vorbildlich in actionund thrill auf, ohne sie deswegen zu verraten. Crime fiction, pur.

Thomas Wörtche

  • Remigiusz Mróz: Die kalten Sekunden (Nieodnaleziona, 2018). Aus dem Polnischen von Marlena Breuer und Jakob Walosczyk. Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2018. 384 Seiten, 9,99 Euro.

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