BLEIB!
Gespeicherte Nachrichten. 2015. Kurzatmig klingt er. Die Koronargefäße sind entzündet, der Herzmuskel nur mehr ein Lappen, ausgelaugt vom Kampf. Gereiztheit und Dringlichkeit seiner Stimme ermatten. Ein melancholischer Unterton schleicht sich in jeden einzelnen Satz. Klick. Wenige Tage später ist er tot.

Es sind die Töne des Todes, die mich martern. Corona. Ein Porträt über einen Comiczeichner, eine Rezension, zwei Artikel, ein Auftrag, der mit all dem nichts zu tun hat. Ich blicke hinüber zu den Nachbarn. Ein enormer Kran ragt aus einer Baugrube heraus. Arbeiter rufen einander Befehle zu. Erde fällt auf Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.
Die Stimme eines Toten, klar und doch verstummend, noch drei Tage verblieben ihm, vier. Zeitliche Einheiten, die zerfallen. Wusste er darum?
Die Arbeiter packen ihre Stullen aus, lehnen sich an den Bauzaun und gestikulieren. Kaum ein Geräusch dringt hinter den Plastikplanen hervor. In meinem Ohr aber ein Rauschen, ein feines, gedehntes Säuseln, ein Bienenschwarm, der sich keck über die besten Quellen für Pollen und Nektar austauscht. Töne, die sich verselbständigen, die mich die drei Silben vergessen lassen, die noch keinen Klang haben, uns allen aber Furcht einflößen.
Schreib den nächsten Satz! Dumpfer, dunkler, ein Ton wie schlammiges Ocker, dunkelblaue Flecken, tiefer. Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse, fragte er mich, als ich fünf war. Mit der Fußspitze scharrte ich im Sand. Böse war nur ich, weil ich wieder einmal meine Schuhe schmutzig gemacht hatte. Denk nach! Der Ton wurde drängender, begierig nach Wahrheit. Verzweifelt war er an der Antwort, die er sich selbst gab. Kein Kommunismus, kein Anarchismus rettete ihn vor der Kleingeistigkeit und Verlogenheit dieser Bauern und Blockwarte, die seine Utopien mit Mistgabeln in der Jauchegrube versenkten.

19, Covid 19. 1982 hätte sich vermutlich eine Post-Punk-Band nach dem Virus benannt. 1982. Blondes Haar, ja ja, siebzehn Jahr, Jens, die androgyne Ausstrahlung Bowies, das goldene Herz eines norddeutschen Buben, blauäugig, und auch schon gequält als Kind vom prügelnden Vater, der sich im 7er-BMW den Schnaps hinter die Binde goss. Vier kleine Arierlein, im Wams und Knickerbockern, das Mädelein im Dirndelchen, Horst-Wessel in der Kehle. Siebzigerjahre. 1982 – Setzte er sich da den ersten Schuss? Verzweifelte er, weil ich ihn verlassen hatte? Maßlose Selbstüberschätzung! Wer bin ich schon? Ein Liebesbrief, gedruckt auf einen Kassenstreifen, kaum mehr leserlich, Wachs auf einer Camel-Packung. Du, mein Reh! Mein Reh? Das war nicht ich! 2003 war er tot. Ein Röcheln drang aus seiner Kehle, als ich ging. Er lag allein dort im Keller des Krankenhauses, Untergeschoss für die hoffnungslosen Fälle. Ich werde dich nie vergessen, sag ich, und weine, denn du warst gut zu mir. Das Beatmungsgerät auf seinem Gesicht, Nacht für Nacht und der Geruch des Todes. Bleib hier, sagte er, und brachte keinen Ton hervor, bleib hier und lasst mich nicht allein sterben. Hass ist der Retter in der Not, nichts anderes! Warum hat sie sich Heroin gespritzt mit ihrer miserablen Bagage, während er versuchte, ein neues Leben zu beginnen. Bleib hier! Nur einmal! Nur noch ein einziges Mal! Have fun! Fünf Stunden später war der Notarzt da. Zwei Zimmer im Krankenhaus. Links lag er, rechts meine Mutter. Epilepsie. Meningeom. Notoperation. Sie wachte auf, bevor es jahrelang zu Ende ging; er nicht mehr. Die letzten Worte: Bleib! Ohne Ton, ohne Klang! Erdacht wie das Surren der Bienen, die ihrer Königin den letzten Festschmaus bereiten.
Martha Argerichs Klavierkonzert aus dem Jahre 1966. Wie hatte mein Vater sie entdeckt, diese Argentinierin, die all das lebte, was er sich selbst verwehrte, was ihm verwehrt worden war? Um 1 Uhr nachts tat er den letzten Atemzug. Allein. Allein. Allein. Sie alle.
Im Garten erblüht die Forsythie. Die Silberweide entfaltet mutig ihre Blätter. Von der Magnolie weht ein zarter Duft herüber und die Kirschblüte lässt jetzt schon die Vergänglichkeit erahnen. Die Glanzmispel freut sich über die Berührung, die Rosen, diese zickigen Edelrosen, sträuben sich. Es ist ein scharfer Ton, der sich in meinen Gehörgang verirrt. Eine Warnung. Abneigung.
Noch einmal drücke ich die Taste, eine Nachricht aus dem Jahre 2015. Er warnte mich, nicht vor meinem eigenen Tod, nicht vor seinem und der vielen. Er warnte mich vor einem religiösen Zeitalter, einer Diktatur. Grün, grün, grün, schwarzbraun, eine Haselnuss. Draußen auf der Straße ein SUV, zwei maskierte Menschen mit Gummihandschuhen, schwer bepackt. Sie hieven Getränke auf das Trottoir, werfen ihre Handschuhe in den Garten und pfeifen hinter der Maske ein Lied, das mir bekannt vorkommt. Die Bienen wollen es nicht hören. Pssst, flüstern sie, psst! Morgen ist alles vorbei!
- Ute Cohens neuer Kriminalroman „Poor Dogs“ ist gerade im Septime Verlag erschienen. Eine Rezension finden Sie hier.