Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Wolfgang Franßen: Roman über Mussolini

Sessel und Pantoffeln verderben den Mann!

 Wolfgang Franßen über „M“ von Antonio Scurati

Im post-ideologischen 21. Jahrhundert kommen einem die politischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Sozialisten, Bürgerlichen und Faschisten im Italien nach dem Ersten Weltkrieg wie der Besuch in einem Museum vor. In Zeiten globalen Denkens haben Ideologien als Zukunftsvisionen ausgedient. Es gibt Reizthemen wie das Klima, aktuell die Gesundheit, soziale Bewegungen, die Gelbwesten in Frankreich, die Regenschirme in Hongkong, die als TV-Erlebnis ausgeschlachtet werden, bis jeder Platz in einer Talk-Show mindestens viermal von derselben Person besetzt wurde.

„Der Sohn des Jahrhunderts“ lautet der Untertitel von Antonio Scuratis Roman „M“. Natürlich würden wir uns andere Söhne und Töchter wünschen, die ins Rampenlicht rücken, wenn wir auf das 20. Jahrhundert zurückblicken. Schon auf den ersten hundert Seiten erscheint Mussolinis Aufstieg in den Wirren der Nachkriegszeit, getragen vom Pathos der Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links angesichts der Sehnsucht verlorener nationaler Größe unausweichlich. 

Mussolini inszeniert sich als operettenhafte Gestalt, die zaudert, heimtückische Intrigen anzettelt, mal verliert, mal gewinnt, aber immer wieder den Kopf oben hält. Ein glänzender Selbstdarsteller inmitten einer Schar Egomanen wie D’Annunzio, der einen Aufstand in Fiume anführt, um den welkenden Ruhm zu erneuern. Kein niederer Instinkt ist abwegig genug, um nicht bedient zu werden. Keine Form der Verehrung unangemessen. Populismus in reinster Form und wir lernen, dass die Fake News unserer Zeit damals einen italienischen Namen trugen. Es kommt weniger auf den Wahrheitsgehalt einer politischen Aussage an, als darauf Leidenschaft zu entzünden, gefolgsame Anhänger um sich scharen.

Scurati gelingt mit seinem Roman der Spagat zwischen einer Fülle zeithistorischer Fakten und Namen und einem Narrativ, das uns vor Augen führt, wie leicht es ist, der Verblendung zu verfallen. Dies trägt mitunter absurde Züge, wenn Mussolinis Sarg von seinen Gegnern nach einer verlorenen Wahl durch die Stadt getragen wird, obwohl er sich in der Redaktion des Il Popolo d’Italiaversteckt. Jeder Autor der Commedia dell ‘arte hätte seine helle Freude daran gehabt. Doch es ist keine Komödie, die auf der Bühne vor italienischem Publikum aufgeführt wird. Es ist die Realität im vorfaschistischen Italien, das zwischen den unterschiedlichen politischen Strömungen auf der Suche nach Anhängerschaft ist und nicht vor Gewalt zurückschreckt. Scurati geht dem minutiös nach und konfrontiert uns Leser mit Unmenge an Namen und Schauplätze, so dass der Roman lange Strecken wie ein Sachbuch wirkt.

Der Palazzo dell’informazione an der Piazza Cavour im Zentrum von Mailand. Im Jahr 1942 Sitz von „Il Popolo d’Italia“.

Er beschreibt die Politik als irrealen Glauben, als Hochamt für eine bessere Zukunft, die hinter verschlossenen Türen nur auf eines abzielt, an die Macht zu kommen oder sie behalten. 

Die Vorfälle mögen ein Jahrhundert zurückliegen, die Vorzeichen heute anders sein, aber die Mechanismen, der Akt der Verführung bleiben hochaktuell. Finde die richtige Hetze, bediene die aufgestaute Wut, sammle Fanatiker um dich und schon führst du eine Bewegung an. In Zeiten existenzieller Notlagen ist die Sehnsucht nach starker Führerschaft ausgeprägter als sonst. 

Revolution heißt das Zauberwort. Mussolini schreckt lange Zeit davor zurück, weil Revolutionen kontrolliert werden müssen. Er ist kein Lenin, kein Trotzki, er ist ein Taktiker, ein Bauchmensch. In den Jahren nach 1920 wird Europa erleben, wie der Zusammenbruch der Sozialisten den Faschismus Vorschub leistet. Der Nationalismus ist jedoch kein italienisches Phänomen, er greift europaweit um sich.

Was das mit einer Gesellschaft macht, davon erzählt Antonio Scurati, in dem er streckenweise einem ähnlich pathetischen Ton verfällt, der die Reden und Zeugnisse prägt. In einem inszenierten Trümmerfeld gelingt Benito Mussolini ein nie dagewesener Aufstieg, indem er die Emotionen zu schüren weiß. Er ist weder Experte noch Visionär, er besitzt ein sicheres Gespür für das Machbare. Ein begnadeter Redner, der nicht vor den abgeschmacktesten Gesten zurückschreckt.

Nach dem Fall von Fiume und der Absetzung D’Annunzios weist Scurati einen schonungslosen Ausblick, auf das, was Italien erwartet:

„Hasserfüllte Kleinbürger: Aus ihnen wird ihre Armee bestehen. Die aufgrund von Kriegsspekulationen des Großkapitals deklassierte Mittelklasse, die jungen Fähnriche, die nicht damit klarkommen, das Kommando abgegeben und in ihren mediokren Alltag zurückkehren zu müssen, die kleinen Beamten, die kaum etwas so beleidigt, wie die neuen Schuhe der Bauerstochter, die Halbpächter, die sich nach Carpetto ein Stückchen Land gekauft haben und nun bereit sind, dafür zu töten, alles brave Leute, die in Furcht und Sorge verfallen sind. Alles Leute, die bis in ihr Innerstes von dem unbändigen Wunsch erfüllt sind, sich einem starken Mann zu unterwerfen und zugleich über die Wehrlosen zu herrschen. Sie würden jedem neuen Herrn die Füße küssen, Hauptsache, man gibt auch ihnen jemandem, nach dem sie treten können.“

Mussolini hat leichtes Spiel. Parallelen zu Wahlergebnissen in unserer Demokratie sind nicht von der Hand zu weisen. Das macht „M“ zu einem Roman, der wider gegen die Anfänge in der Neuzeit geschrieben ist. Wer etwas darüber erfahren will, aus welchen Löchern der Faschismus kriecht, sich ins Mark einer Gesellschaft schleicht, um hoffähig zu werden, sollte Antonio Scuratis fulminante Analyse Italiens nach dem Ersten Weltkrieg lesen. 

Ein Terrorregime taucht nicht zufällig aus der Geschichte auf. Zuvor nutzt es alle menschlichen Schwächen aus, bis blanker Hass um sich greift. Es finden sich immer Machtbesessene, die sich mittels Gewaltaufruf und Mahnung zur gespielter Zurückhaltung, dessen bedienen. 

Während die mörderischen schwarzen Hemden Strafexpeditionen auf dem Land gegen die Bastionen der Sozialisten durchführen, wechseln im Parlament die Regierungen, wandeln die Faschisten sich von einer Bewegung zu einer Partei. Mussolini schreibt am 25. Februar 1922: Das Jahrhundert der Demokratie stirbt!

Scuratis „M“ ist die Geschichte einer mörderischen Unterwanderung bei der sich die demokratischen Kräfte mehr und mehr in Flügelkämpfen aufreiben und aufgeben. Sie müssen erleben, wie die einst in sozialistischen Gewerkschaften organisierten Arbeiter und Tagelöhner zu den Faschisten überlaufen, weil Männer wie Mussolini ihnen vorgaukeln, eine Vision zu haben. Während Männer wie Italo Balbo den Schrecken in jedes einzelne Haus tragen, indem sie vor politisch motivierten Morden nicht zurückschrecken.

Wie schnell sich doch alles ändern kann, wenn eine in sich gesunde Demokratie in wirtschaftlich schweren Zeiten alleingelassen wird.