Vergiss nicht, wer wir sind Der Roman „Alle Hunde sterben“, besprochen von Wolfgang Franßen Der Tod lässt auf sich warten. Das Sterben nicht. Ein Hochhaus im Westen der Türkei. Versprengte Menschen, die unter Verfolgung leiden, sich nach einer Atempause sehnen, weil alles noch viel schlimmer kommen kann. 17 Stockwerke hoch, auf jeder Etage 6 Wohnungen. Zurückgelassen, ausgeliefert wiederholen sich in den Erzählungen von Cemile Sahin die Gewalt, die Folter, die Verschleppung, die ohnmächtige Hoffnung, dass da jemand zurückkommt, von dem es auch gut sein könnte, dass er bereits tot ist.
Read More Bist du glücklich? Diese Frage stellt das Mädchen Clarice dem Feuerwehrmann Montag gleich zu Anfang von „Fahrenheit 451“. Eine Frage, die Ehen zum Einsturz bringt, Karrieren beendet, subversiv sich festsetzt und zu gleich naiv erscheint. Oft genug ist es danach nicht mehr so wie zuvor. Glücklich? Wer? Ich? Der blasse, an seinen Alltag gewöhnte Montag beginnt in den Himmel zu schauen. Montag. Hat es je einen besseren Namen für einen Helden gegeben? Dazu Feuerwehrmann. Nicht erst seit 9/11 die Verkörperung des wahren Heldentums. Nur löscht er keine Brände, er legt
Read More Sessel und Pantoffeln verderben den Mann! Wolfgang Franßen über „M“ von Antonio Scurati Im post-ideologischen 21. Jahrhundert kommen einem die politischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Sozialisten, Bürgerlichen und Faschisten im Italien nach dem Ersten Weltkrieg wie der Besuch in einem Museum vor. In Zeiten globalen Denkens haben Ideologien als Zukunftsvisionen ausgedient. Es gibt Reizthemen wie das Klima, aktuell die Gesundheit, soziale Bewegungen, die Gelbwesten in Frankreich, die Regenschirme in Hongkong, die als TV-Erlebnis ausgeschlachtet werden, bis jeder Platz in einer Talk-Show mindestens viermal von derselben Person besetzt wurde. „Der Sohn des
Read More Atemlos Rezension von Wolfgang Franßen Es gibt viele klassische Schauplätze für Verbrechen. Es muss nicht unbedingt der Orient-Express sein oder sich als Massaker in einer Eisdiele zur italienischen Operette aufschwingen. Alle Keller sind längst von Wahnsinnigen besetzt. Raststätten beliebt für Geldübergaben, Hinrichtungen, Entführungen, Prostitution. Zumal im August, wenn Hochsaison ist, die Franzosen alle zur gleichen Zeit in Urlaub fahren. Jene Oase für den Coffee-to-Go, die Zigarettenpause, dem Nothaltepunkt bei einem dringenden Bedürfnis, wird als notwendiges Übel angesehen. Einem Ort, wo die Ehefrau vergessen oder der Hund ausgesetzt wird. Eigentlich zur
Read More So ein Pech aber auch Kazuhisa Fukase, der bei Nishida Bürobedarf arbeitet, hat die wichtigsten Lektionen in seinem Leben verinnerlicht: Zurückhaltung, Demut und leiblichen Genuss. Fukase ist nicht gerade ein Wortführer, eher ein Mitläufer, eine Randfigur, der sich anderen gerne anschließt, ihnen zu Diensten ist und darunter leidet, übersehen zu werden. Die Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zuteilwird, als er einen Zettel unter seinem Scheibenwischer vorfindet, behagt ihm gar nicht. Er hat sich zu tief ins Vergessen eingegraben. Kazuhisa Fukase ist ein Mörder! steht darauf. Nicht nur er erhält eine solche Mitteilung auch einige
Read More Ein Hauch von Freiheit Rezension von Wolfgang Franßen Wer eine solche Tochter hat, sollte sich schon mal ein Grab im Garten aussuchen. Naomi findet nicht ganz freiwillig Zuflucht im Haus ihres Vaters auf der griechischen Insel Hydra. Sie hat als Anwältin in London gearbeitet und wurde wegen unrechtmäßiger Parteinahme für einen Mandanten vor die Tür gesetzt. London hasst sie inzwischen und Hydra ist für sie nicht mehr als ein Rückzugsort für Vermögende, die sich gerne von der Sonne verbrennen lassen und darin ein Zeichen ewiger Jugend erkennen. Alles ist perfekt.
Read More „Der Stadt ist es egal, wen sie verbrennt“ Ein Roman über die Zeit der Watts Riots, besprochen von Wolfgang Franßen Da rasen die gelben Westen über den Champs Elysee, erreichen uns Nachrichten von neuen Riots aus den USA, die wir so gerne der Vergangenheit zuordnen würden. Selbst in Hamburg kommt es am Rande des G20-Gipfels zu Plünderung und brennenden Autos. Was ist bloß los mit dieser Welt? In Graffiti Palast von A. G. Lombardo stellt sich eher die Frage, können wir durch reine Beobachtung verstehen, was da geschieht? Wollen wir das
Read More „Ich finde, ein bisschen Sklaverei und Rassentrennung haben noch niemandem geschadet“ Allein schon ein Zitat aus dem Buch als Überschrift zu wählen, bringt einen bei Google in Gefahr, die falschen Leser anzuziehen. Paul Beatty hat für seinen Roman „Der Verräter“ in der Übersetzung von Henning Ahrens die Grenzen der political correctness weit hinter sich gelassen, indem der afroamerikanische Autor mitten in Amerika eine Enklave ausruft, in der die Bürgerrechte aufgehoben und die Rassentrennung wiedereingeführt wird. Vor allem spüren wir Leser hinter jeder Slapstickeinlage das über Jahrhunderte aufgestaute Entsetzen, das nur
Read More Was soll ein Toter mir schon anhaben können? Von Wolfgang Franßen Nach der sprachlichen Ouvertüre, die an Camus erinnert, liest sich „Farben der Nacht“ wie ein Melodrama von Douglas Sirk. Da haben wir Surab, den Hausmann ohne Job, der seine Nachbarn ausspioniert. Tina, die Ehefrau, die zu viel arbeitet und ihm und seiner Mutter die Kinder überlässt. Im gegenüberliegenden Mietshaus die verhängnisvolle Affäre um ein Mann von der Staatssicherheit und seinen jungen Liebhaber. Was hätte Verdi wohl für eine Musik dazu komponiert? Zumal das Ganze vor dem historischen Gemälde der
Read More Keinerlei Unschuld mehr Ava fährt zur Arbeit, nimmt die Metro, redet nicht viel, weil ihr das Sprechen nicht leichtfällt. Ihre Unsicherheit fühlt sich an, als würde sie auf Eiern gehen. Seit dem Massaker im Bataclan quält sie die Angst und trotzdem gefällt ihr die Vorstellung nicht, als mögliches Opfer gegängelt zu werden. Überall begegnen ihr Bewaffnete, die zu ihrem Schutz abkommandiert sind. Dabei glaubt sie, dass sie alle über die Toten hinweggehen müssen, damit die Toten nicht über sie hinweggehen. Statistisch gesehen stirbt sie eher bei einem Verkehrsunfall, als dass
Read More Äpfel sind Äpfel und Birnen sind Birnen Von Wolfgang Franßen Und die Debilen gehören in ein Heim für Debile. Kinder, die das Leben der Eltern stören, sowieso. Mag es gerade mal für Mahlzeiten reichen, das Mobiliar längst rausgetragen sein, es in den Schlafsaal hineinregnen, die Kinder auf Kleidersammlungen angewiesen sein, Hauptsache sie sind aus dem Blickfeld verbannt. Alle Jahre wieder sorgen die deutschen Buchmessen dafür, dass Autoren/Innen in unseren Blickpunkt rücken, die es auf dem deutschen Buchmarkt nicht leicht haben. Eine Geschichte aus der Ukraine über ein Kinderheim, das sich
Read More „Weil ich es so gut kann“ von Wolfgang Franßen Sie war ein Genie, schrieb die New York Times über Flannery O’Connor. Sie selbst litt nicht gerade an Understatement. Nicht selten treffen wir in ihren Erzählungen auf selbstbewusste Frauen, die sich ihrer Schwächen durchaus bewusst sind oder von der Erzählerin gnadenlos demaskiert werden. Flannery O’Connor ist zwar etwas in Vergessenheit geraten, aber mit Keiner Menschenseele kann man noch trauen hat der Arche Verlag in der Übersetzung von Anna und Dietrich Leube eine Neuauflage auf den Markt gebracht, deren Titel schon erwarten lässt,
Read More Echoes of my mind Wolfgang Franßen, Herausgeber im Polar-Verlag, wurde noch nie mit Cowboyhut gesichtet, der Essenz von Leo Herlihys „Midnight Cowboy“ nähert er sich dennoch entschlossenen Schrittes an. Wer John Barrys Titelsong aus Midnight Cowboy hört, bewegt sich schon mitten durch die melodramatische Interpretation eines Films, mit dem John Schlesinger 1970 einen Oscar für die Beste Regie abräumte. Blumenbar erinnert nun durch die Neuübersetzung von Daniel Schreiber an den famosen Autor James Leo Herlihy und seinen Joe Buck. Den großen, gutaussehenden, naiven Macho mit dem weichen Kern, den sein blinder
Read More Wolfgang Franßen: Anything goes Tabus sind allenfalls etwas für gerümpfte Nase, Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Tabus sind das Glanzstück der Empörung für die gehobene Gesellschaft und beruhen auf Absprachen, was gedacht, getan werden darf. Ich persönlich finde Tabus gut. An ihnen kann man sich reiben, sich gegen sie auflehnen, vor allem verraten sie viel über jene, die sie aufstellen und pflegen. Tabus üben einen unsäglichen Reiz aus, gegen sie verstoßen zu wollen. Es gibt also genügend Gründe, dem Tabubruch im Kriminalroman nachzuspüren. Einige werden behaupten, es gab nie welche,
Read More Wolfgang Franßen Working-Class Hero Werden Schriftsteller gemacht? Müssen sie wie ein mainstreamtauglicher Serienkiller eine öde, beschädigte Kindheit vorweisen? Mit Filmhelden wie Robert Mitchum, Kirk Douglas, James Cagney aus dem Alltag entfliehen? Nachts den Stapel literarischer Vorbilder abarbeiten? Im Genre am besten noch in einer Absteige schreiben, um den eigenen Mythos zu begründen? Wie wird jemand zum Klassiker? Gemeinhin gilt als Bezugsgröße für die Bedeutung eines Werks der Ausdruck: Ein Klassiker ist der, auf den andere sich beziehen, dessen Werk so bahnbrechend war, dass die nachfolgenden Generationen ihre Bücher in
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