Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

Wolfgang Franßen zu Cemile Sahin

Vergiss nicht, wer wir sind 

Der Roman „Alle Hunde sterben“, besprochen von Wolfgang Franßen                  

Der Tod lässt auf sich warten. Das Sterben nicht. Ein Hochhaus im Westen der Türkei. Versprengte Menschen, die unter Verfolgung leiden, sich nach einer Atempause sehnen, weil alles noch viel schlimmer kommen kann. 17 Stockwerke hoch, auf jeder Etage 6 Wohnungen. Zurückgelassen, ausgeliefert wiederholen sich in den Erzählungen von Cemile Sahin die Gewalt, die Folter, die Verschleppung, die ohnmächtige Hoffnung, dass da jemand zurückkommt, von dem es auch gut sein könnte, dass er bereits tot ist. Wer die Tristesse von Hochhäusern kennt, findet sich wieder in der Anonymität, den zufälligen Begegnungen im Aufzug, wundert sich nicht über die Entmutigung, die Gefühle von Scham, und ist ergriffen von der Furcht vor der nächsten Stunde. 

Die 1990 in Wiesbaden geborene Autorin sammelt in ihrem zweiten Roman „Alle Hunde sterben“ die Vergangenheit der Bewohner ein, als würden wir persönlich auf deren Türschwelle stehen. Ohne Filter, ohne Distanz. Und werden aufgefordert, uns etwas aufzuschreiben, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Als bewegten wir uns wie Chronisten von Etage zu Etage, als bemühten wir uns gemeinsam den Schrecken zu überleben, in dem sie als Terroristen gebrandmarkt sind. In einer Gegenwart, in der sie von Soldaten und Polizisten wie Freiwild vor sich hergetrieben werden. Deren Sadismus grenzenlosen Grausamkeiten sie ausgesetzt sind, da es so etwas wie Gerechtigkeit nicht mehr gibt.

Sahin erzählt von der Angst vor der Nacht, den zerstörten Familien, von der Erschöpfung. Necla im Erdgeschoss wohnt seit 11 Jahren dort und wird von namenlosen Soldaten drangsaliert, bloßgestellt, erniedrigt. Der Mann ist längst tot, die Kinder bei Verwandten in Sicherheit. Als letzten verliert sie ihren Hund, der erschossen wird. 

Sobald es dunkel ist, hören die Mieter die Schritte der Soldaten, die in die Wohnungen eindringen und ihr perfides Spiel der Einschüchterung und Bestrafung aufführen. Es wird Präsenz gezeigt. Die Staatsmacht ist allgegenwärtig. Angehörige von Aufständischen werden gnadenlos verfolgt.

So auch Nurten im siebten Stock. Sie hat vier Kinder, von denen eines bereits gestorben ist, während die drei übrigen Geschwister in verschiedenen Gefängnissen über die Türkei verteilt sitzen. Den Versuch, mit ihrem Mann Hasso den Sohn zu beerdigen, scheitert an einer Polizeikontrolle, die ihnen die Weiterfahrt verbietet, sodass sie die Leiche am Straßenrand im Nichts beisetzen müssen. Zuhause haben sie die Türen ausgehängt, weil ihr Mann nach seiner Zeit im Gefängnis es nicht mehr erträgt, nicht zu sehen, was in den anderen Zimmern passiert. 

In den Erinnerungen der Bewohner spiegelt sich ein gnadenloses Regime, das sich austobt und jenseits unserer Fernsehbilder von Gerichtsprozessen, öffentlichen Verhaftungen und Wasserwerfern, die Demonstranten auseinandertreiben, eine hemmungslose Hetzjagd auf Andersdenkende veranstaltet. Wer sich hier einem Verdacht ausgesetzt sieht, ist verloren. Sie alle werden als Staatsfeinde eingestuft. Ein falscher Blick, ein falscher Satz, ein Familienname genügt. Hoffnung auf mehr als inneren Widerstand, auf Zusammenhalt, auf Überleben ist eine Schimäre. Es bleibt nur die Aufforderung an uns, uns zum Zeugen zu machen. Wenn wir also nicht einschreiten, sollen wir zumindest davon wissen und uns schuldigmachen, nichts unternommen zu haben.

Dieses Land frisst unsere Kinder, sagt Bürgel aus dem vierten Stock. 

Auch das Leben von Sara und Hêlîn, denen, nachdem sie gefoltert wurden, zwar die Flucht gelingt, aber die Hoffnung unerfüllt bleibt, aus diesem Land herauszukommen. Auf die Schlepper ist kein Verlass. Nicht selten stellen sie sich als Polizisten heraus, die, statt sie zur Grenze zu bringen, sie im Gefängnis abliefern. Ein hartes Buch, schonungslos der Verzweiflung übertragen. Väter wie Mütter trauern um ihre Kinder, die ermordet wurden oder verschwunden sind. Kinder sehnen sich danach, dass Eltern zurückkehren.

Zwischen den Geschichten hat der Aufbau Verlag ein Foto der Künstlerin von einem Parkplatz abgebildet und mit einer Uhrzeit versehen. Der Blick nach draußen, ist für viele, die dort drinnen eingeschlossen sind, die einzige Abwechslung am Tag. Nicht zuletzt treibt alle die Angst um, wann der nächste Militärtransporter auf der Straße hält und eine Strafaktion erfolgt, die vor allem der Einschüchterung dienen soll. Frei nach dem Leitspruch: Wir können euch nicht alle töten, wir können euch aber in Angst halten.

Sahin schafft es, den Filter wegzuziehen. Wir wissen, was dort geschieht. In einem Land, in dem wir Deutsche gerne unseren Urlaub buchen. Die Autorin fokussiert die Schicksale und beschreibt eine Traurigkeit, die in Lähmung erstarrt, der wir uns als Leser nicht zu entziehen vermögen. Die Bilder haften. Selbst, wenn Sahin in einer Geschichte zum Mittel der Versform greift, ist ihre Empathie für die Bewohner ergreifend.

Obwohl sie vereinzelt sind, kennen viele die Namen der Nachbarn, wissen um deren Schicksal. Die Staatsmacht übt jedoch einen solchen Druck aus, dass sie mit ihrer Kraft am Ende sind. Die Hoffnung ist längst verloren. Angesichts von Zetteln, die in den Wohnungen hinterlassen werden und auf denen steht: Wir kommen wieder

Unmut aus dem fünften Stock hat lieber sein eigenes Haus angezündet, als miterleben zu müssen, wie die Soldaten es entweihen und in Brand stecken.

„Ich dachte, wenn ich es tue, dann ist es etwas anderes. Dann bewahre ich einen letzten Rest Respekt und Anstand.“

So ist Sahins „Alle Hunde sterben“ neben der erschütternden Schilderung von Gewalt, auch der Versuch, etwas zu bewahren, zu schützen, sich nicht die letzte Würde trotz all dem Schmerz rauben zu lassen. 

Geschichten aus einem Hochhaus im Westen der Türkei, die wir genauso in Belarus oder all den Ländern finden, von denen wir uns abwenden, wenn sie oft genug in den Nachrichten aufgetaucht sind. Dass die Autorin sich unbeirrt einem erzählerischen Versatz, stellt, es oftmals wie eine Wiederholung eine Verdopplung klingt, ist bemerkenswert. Cemile Sahin gehört unbestreitbar, zu den bemerkenswerten jungen Autorinnen ihrer Generation.

Wir alle sind immer nur einen Herzschlag davon entfernt, dass Monster die Macht ergreifen, und wir alle werden uns wundern, wie schnell wir vergessen werden.

Cemile Sahin: Alle Hunde sterben. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 239 Seiten, 20 Euro.