Geschrieben am 1. Juli 2019 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2019

Wolfgang Franßen zu Joseph Incardona „Asphaltdschungel“

Atemlos

Rezension von Wolfgang Franßen

Es gibt viele klassische Schauplätze für Verbrechen. Es muss nicht unbedingt der Orient-Express sein oder sich als Massaker in einer Eisdiele zur italienischen Operette aufschwingen. Alle Keller sind längst von Wahnsinnigen besetzt. Raststätten beliebt für Geldübergaben, Hinrichtungen, Entführungen, Prostitution. Zumal im August, wenn Hochsaison ist, die Franzosen alle zur gleichen Zeit in Urlaub fahren. Jene Oase für den Coffee-to-Go, die Zigarettenpause, dem Nothaltepunkt bei einem dringenden Bedürfnis, wird als notwendiges Übel angesehen. Einem Ort, wo die Ehefrau vergessen oder der Hund ausgesetzt wird. Eigentlich zur Entspannung gedacht, treffen wir hier auf den Bodensatz menschlicher Abgründe. 

Der Schweizer Schriftsteller Joseph Incardona bringt in „Asphaltdschungel“, in der Übersetzung von Lydia Dimitrow, abseits aller Geschwindigkeit das Leben zum Stillstand und bietet Verzweiflung pur. 

„Bei jeder Entführung von Minderjährigen ist von einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben auszugehen. (Paragraph 26 des Gesetzes Nr. 95-73 vom 21 Januar 1995).“

Ein kleines Mädchen ist verschwunden. Incardona bedient sich bei dem genretypischen, krankhaften Serienmörder, bietet aber keinen mainstreamtauglichen Plot über ein Sexualverbrechen auf einer schlecht beleuchteten Raststätte. Zwar ist das erzählerische Setting bekannt, aber der Autor unterfüttert seine Geschichte mit Fakten und Statistiken und dennoch ist es kein True Crime. Einzelne Sätze, manchmal nur ein Wort schaffen eine sprachliche Dichte, in der ein Serienmörder, Pascal Folie, auf einen Rechtsmediziner, Pierre Castan trifft, dessen Tochter vor ein paar Monaten an gleicher Stelle verschwunden ist. Castan ist innerlich zerbrochen, irrt auf der Autobahn umher und sinnt nach Selbstjustiz. Die überhitzte Empathie, die uns als Leser ergreift, wird abgekühlt von nüchterner Abwägung der Fakten, als existiere außerhalb dieses Wahnsinns eine Realität, die sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zusammenfassen ließe. Da wird die Sauberkeit von Raststätten, wie der genaue Überblick über das französische Autobahnnetz zum Thema.

Julie Martinez, die die Ermittlungen betraut ist, sieht sich einer grausamen Statistik gegenüber, in der 44% Prozent der Kinder innerhalb der ersten Stunde, 74% innerhalb der ersten drei Stunden und 91% innerhalb von 24 Stunden nach der Entführung getötet werden. Was soll sie machen? Die Autobahn in beide Richtungen sperren? Jede Ausfahrt kontrollieren? Jeden Rastplatz stürmen? Obwohl den Eltern viel zu spät aufgefallen ist, dass ihre Tochter verschwunden ist, weil sie zu sehr mit sich beschäftigt waren.

Incardona, 1960 in Lausanne geboren, dessen Kriminalroman mit dem Grand Prix de littérature policiére 2015 ausgezeichnet wurde, hat einen rasanten Noir geschrieben. In all seiner Außenbetrachtung beleuchtet er Schicksale, die sich gegen das Dunkle zur Wehr setzen und das ganze Ausmaß ihrer Ohnmacht spüren. 

Die französische Originalausgabe: Grand Prix de littérature policière, 2015

Selbst für das Absurde besitzt er ein Gespür. Er beschreibt Schaulustige, die sich gegenseitig über Social Media informieren, um den Rastplatz anzusteuern, weil sie unbedingt einmal auf einem Tatort stehen wollen. Am besten dokumentiert mittels Selfie.

Indem der Autor den klassischen Erzählfaden zerreißt, ihn auf mehrere Perspektiven verteilt, überlässt er die Leser einem scheinbaren Chaos, in dem er die Karten mischt. Manchmal ist dies etwas zu verspielt, dem Eigensinn seines sprachlichen Gestaltungswillens unterworfen, doch zumeist so voller Drive und drastisch, dass das Perverse dieser Tat dazu führt, dass sich alle auf der Verliererseite empfinden.

Sie haben es nicht verhindern können. Sie waren nicht schnell genug. Sie machen Fehler. Zurück bleibt die Wut und der Gedanke an Rache, den Pierre Castans Leben seinem jenem Tag bestimmt, als sein Tochter Lucie verschwand. Auch seine Frau Ingrid, die jeglichen Halt verloren hat, glaubt nicht mehr an die Polizei, nicht an Anwälte, vertraut keinem Richter, keinem Psychologen. Was Ingrid will, ist nur eins:

„Sie wird solange durchhalten, wie es braucht, um ihm die Augen auszureißen, die Zunge, die Ohren, die Finger, die Nase. Den Schwanz. Alles, was sich an Lucie vergangen hat, was Lucie verschlungen hat, wird verprügelt verbogen gebrochen gehäutet zerstückelt vernichtet.“

Nach der langen Aufzählung, die ihre Rache stillen soll, weiß sie aber auch, dass ein kleiner Teil immer zurückbleiben wird. Wer da glaubt, dass eine Hetzjagd im Regen für Gerechtigkeit sorgt, unterschätzt die Langzeitwirkung solcher Verbrechen. Wie weiterleben nach einer solchen Tat? Pierre Castan findet keinen Weg zurück in sein Leben. Die Verstörung, die alle ergreift, die mit dem Verschwinden zu tun haben, gebiert nichts als Entsetzen.

Obsessiv treibt Incardona die Verzweiflung voran, indem rücksichtslos sediert. Seine Akteure bewegen sich in ihrem inneren Furor kaum von der Stelle. Der Täter ist bekannt, seine Vernichtung wird erwartet, aber was dann? Was danach? Was, wenn wir dem Täter Auge in Auge längst gegenüberstanden und ihn nicht erkannt haben?

Wir sollten „Asphaltdschungel“ nicht auf einer Raststätte aufschlagen. Es könnte sein, dass uns die Wut packt, und wir anschließend nicht mehr wissen, wohin damit.

Wolfgang Franßen

  • Joseph Incardona: Asphaltdschungel (Derrière les panneaux il y a des hommes, 2015). Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. Lenos Polar, Basel 2019. 340 Seiten, 22 Euro.

Wolfgang Franßen ist Herausgeber im Polar Verlag. Seine Texte bei uns hier.

Das Porträt eines anderen Westschweizer Autors im letzten CrimeMag – Alf Mayer über Quentin Mouron: Dandy, noir.

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