Geschrieben am 25. März 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Alf Mayer über Blockupy und die Hochhausstadt Frankfurt

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Mainhatten-Webcam, 08:00 Uhr

Die Zeichen am Himmel

Alf Mayer über die Blockupy-Proteste, die Hochhausstadt Frankfurt und Ausbeutung im Baugewerbe.

Die Skyline von Frankfurt am Main in schwarzen Rauch gehüllt, als wäre der Krieg in den Metropolen angekommen. Dieses Bild vom Mittwoch, 18. März 2015, dem Tag der offiziellen Eröffnungsfeier der neuen Türme der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt, war so heftig, dass es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bis heute in ihren Printausgaben nicht veröffentlichte. Keine Totale der Stadt, auf deren Türme man sonst so stolz ist, nur Nahaufnahmen der Blockupy-Proteste. Eine qualmende Kreuzung ja, ein Feuerchen auf dem Opernplatz, aber nicht dieses Breitwandbild der Stadt von Osten her, die Sonne im Rücken, wie am Mittwochmorgen zum Auftakt der Anti-EZB-Proteste himmelstürmend schwarze Qualmwolken die Skyline durchzogen, als brenne all das Geld der über 400 Frankfurter Banken, die aktuelle, sinnhaft kaum vorstellbare Billionen-Euro-Ausschüttung der EZB inklusive. (Eines der Sprachrätsel unserer Zeit, warum man das „Pumpen“ oder „Märkte überschwemmen“ nennt, hat es denn etwas mit Löschen zu tun?)

Fight

Quelle: twitter.com/fnhessen

Entschlossene und gut vorbereitete Aktivisten hatten da als Frühschicht gezielt und beweglich wie Wolfsrudel zugeschlagen, um den Protesttag zum Fanal zu machen. Am Ende der gleichen Morgenstunde griffen sie sogar ein Polizeirevier in der Innenstadt an, setzten Polizeiautos in Brand, in einem saß noch ein Polizist. Dieser Blitzkrieg überraschte die Ordnungskräfte ebenso wie vermutlich die meisten zum friedlichen Demonstrieren angereisten Kundgebungsteilnehmer – und natürlich veränderte dieser Gewaltritt die Wahrnehmung des Tages, wurde entsprechend getwittert und bestimmte die Kommentare.

EZB Demo am 18.03.2015

Foto Copyright: Alexander Paul Englert

Subversive Regisseure

Dieses eine ikonografische Bild, die rauchgeschwängerte Totale der Hochhausstadt Frankfurt – sein Erschütterungspotential verweist auf 9/11 – wurde in den offiziellen Medien unterdrückt und klein gespielt. Ebenso las ich nirgends Spekulationen darüber, wie es denn sein konnte, dass „zufällig“ an so vielen „geeigneten“ Stellen Lkw- und Autoreifen zum Abfackeln herumlagen, für eine rasend schnell in Brand gesteckte Barrikade sogar wirklich stapelweise; welche Chemiker wohl die Brandflüssigkeiten für die Stoßtrupps mischten, mit denen sich so schnell solch gewaltige Rauchwolken in den Himmel türmen ließen. Wenn da nicht medienkundige, subversiv-visuelle Regisseure einer neuen Revolutionsavantgarde am Werke waren und nicht der bloße Zufall …

EZB Demo am 18.03.2015

Foto Copyright: Alexander Paul Englert

Dieser Rauch über den Frankfurter Türmen, er gehört nicht erst seit 9/11 sondern bereits seit dem biblischen Babylon zu jenen Reaktionen, Phantasien und Ängsten, die solche Bauwerke auslösen. Gerade das Christentum monopolisierte und unterdrückte alles vorzeitige irdisch-menschliche Streben nach oben, wenn es nicht in eigenem Interesse lag, die Hexenverfolgung, die Idee vom Menschenflug und das von Einsammeln von allerlei in Klöstern entstandenem experimentellem Fluggerät sind dafür Zeichen. Städtische Hochbauten in größerem Stil gibt es, seitdem ein Großfeuer 1871 Schneisen in den Moloch Chicago schlug. Die Erfindung des Fahrstuhls spielte eine wichtige Rolle. Der erste deutsche Büroturm entstand in den ersten Jahren des 20. Jahrhundert in Darmstadt für das Pharmaunternehmen Merck und war 40 Meter hoch. Über 50 Meter ging es erst 20 Jahre später hinaus, das Ullstein-Haus in Berlin (1925-27) war einer dieser ersten neuen Geschlechtertürme. Lange waren es Unternehmen, die hier Zeichen setzten, eine Fortsetzung der Geschlechtertürme aus Florenz und San Gimigniano. In Frankfurt speziell waren es die Kathedralen des Kapitalismus, die den Dom und die anderen Kirchen überflügelten. Hochhäuser als Glaubensmanifeste? Gewiss. Nur, so sehen wir sie vermutlich viel zu wenig an.

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Foto: A. P. Englert

Ross Thomas: „Frankfurt sieht aus wie von der US Armee wieder aufgebaut“

Eben jene FAZ, die das Skyline-Bild unterdrück, brachte jetzt nach den EZB-Ausschreitungen die an der Frankfurter Uni lehrende Protestforscherin und Politologin Nicole Deitelhoff mit einer Frage aus der Fassung. „Uns erinnern die schwarzen Tücher des Schwarzen Blocks ja ein wenig an IS-Kämpfer.“ So wörtlich will man das mit einem Glaubenskrieg in Europa aber selbst in Forschung und Lehre noch nicht verstanden wissen. „Wow“, antwortete die Professorin. „Das ist aber hart.“ Und flüchtet sich dann in „Schwarz als Farbe des Protests“. Tragen nicht auch Architekten und Geisteswissenschaftler gerne Schwarz?

Mir haben die Rauchwolken des 18. März noch einmal vor Augen geführt, wie kurz doch eigentlich erst die Zivilisationsform des zur Skyline verdichteten Hochhausbaus in Deutschland währt. Der in seiner Eleganz weder stilistisch noch von seinen Plots her bislang übertroffene amerikanische Autor Ross Thomas war nach dem Zweiten Weltkrieg öfter in Deutschland und auch in Frankfurt, sein sardonischer Kriminalroman „Der achte Zwerg“ spielt zu weiten Teilen in der vom Krieg heftig zerstörten Stadt (zur CM-Rezension). Nach einem Buchmesse-Besuch in den frühen 1980ern schrieb er in der „Washington Post“ über sein Wiedersehen mit der Stadt am Main: „Frankfurt was heavily destroyed in WW II and looks like rebuilt by the US Army.“

hochhausstad FrankfurtAll die Wolkenkratzer im Porträt

So will man das in Frankfurt natürlich nicht sehen. Höchste Zeit, auf eine bald auslaufende Ausstellung und ein zum Bleiben geeignetes Buch hinzuweisen. „Himmelstürmend. Hochhausstadt Frankfurt“ heißt die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (DAM), sie ist noch bis zum 19. April geöffnet. Der dazu erschienene Katalog heißt „Hochhausstadt Frankfurt. Bauten und Visionen seit 1945“ und hat es in sich. Er ist durchgängig zweisprachig, deutscher und englischer Text stehen sich gegenüber, machen das Buch so international wie die Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil der Republik. Wer das DAM und sein Erscheinungsbild kennt, wird sich über die strenge Gestaltung des Buches nicht wundern. Ob es nur Kostengründe waren, die für ein knapp kalkuliertes Format und den engen Satzspiegel sorgten, weiß ich nicht, jedenfalls ist das Buch ein Musterbeispiel verdichteter Bebauung. Und funktioniert natürlich. Es ist kompakt, liegt schwer in der Hand und bietet auf 320 Seiten und bester Papierqualität einen reich und kundig illustrierten Spaziergang durch die Frankfurter Hochhausgeschichte, porträtiert ALLE Wolkenkratzer, auch längst wieder abgerissene, umgebaute, ungebaut gebliebene oder noch geplante Projekte. Die Gebäude werden städtebaulich eingeordnet, anhand von Rahmenplänen wird die einzigartige Geschichte der Hochhausstadt Frankfurt erläutert. Die Hochhausentwicklung wird mit den gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontexten der jeweiligen Zeit verknüpft. Der Wiederaufbau nach dem Krieg, Spekulation und Häuserkampf, „Krankfurt“ & „Bankfurt“, Postmoderne, Wohnhochhäuser, Finanzmärkte und Krisen sind Thema. „Zwischen Planungswillen und Marktmacht. Aktuelle Entwicklungen im Hochhausbau“, ist der kundige Beitrag von Matthias Alexander überschrieben, Ressortleiter der Rhein-Main-Zeitung, des Regionalteils der FAZ, und vermutlich einer jener Redakteure, die „ihrer“ Skyline jetzt eine 9/11-nahe Anmutung nicht antun wollen.

Eine Zeitleiste, diverse Register und 400 Abbildungen machen dieses Buch zu einem wirklichen Kompendium. Natürlich handelt es sich hier, herausgegeben von einem städtischen Museum, bevorwortet vom grünen Bürgermeister und Planungsdezernenten Olaf Cunitz, um offizielle Geschichtsschreibung. Gleich der erste Satz verkündet: „Das Finanz-, Dienstleistungs- und Messezentrum Frankfurt am Main gehört zu den führenden europäischen Unternehmensstandorten.“ Buch und Ausstellung wurden ausschließlich durch eingeworbene Drittmittel finanziert, nicht über jeden Bau liest man solch deutliche Klassifizierungen wie „brutalistisches Ensemble“ zum Sachsenhäuser Sonnenring, dessen Errichtungsgesellschaft längst pleiteging. Der Informationsgehalt des Buches ist dennoch enorm. Bisher hat so etwas gefehlt.

EZB Demo am 18.03.2015

Foto Copyright: Alexander Paul Englert

Brecht fragt: Wer baute das siebentorige Theben?

Jedoch ist dies nicht der Ort für Brecht-Gedichte, etwa jenes mit den „Fragen eines lesenden Arbeiters“, in dem es heißt:
„Wer baute das siebentorige Theben? …
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war die Maurer?“
In den Büchern stünden, sagt Brecht, die Namen von Königen. Ob sie es waren, die die Felsbrocken herbeigeschleppten? Wer denn das mehrmals zerstörte Babylon wieder aufbaute, in welchen der goldenen Häuser Limas denn die Bauleute wohnten, wer denn die Triumphbögen Roms errichtete?

Eine Zeitlang machte ich es mir – mehr als 30 Jahre in Frankfurt und davon viele im Westend wohnend, die letzten im südlichen, in der Savignystraße, nur 100 Meter bis zur hochhausgesäumten Mainzer Landstraße und zum DG-Hochhaus mit einem Wanderfalkenpaar im beheizten Betonkranz – zum journalistischen Sport, mindestens einmal auf dem Rohbau jedes der Jahr um Jahr in die Skyline wachsenden Türme gewesen zu sein. Es waren Reportagen für die Baugewerkschaft IG Bauen-Agrar Umwelt (IG BAU), bis solch eine Berichterstattung immer restriktiver und fast unmöglich wurde. Großbaustellen sind längst eine streng abgeschottete Welt, die Vorhaben imagepflegend und streng von PR-Agenturen bewacht, die zu weiten Teilen aus Osteuropa stammenden Arbeiter in Container-Ghettos kaserniert, Gewerkschafter und Arbeitsschützer bis auf die unumgänglichsten Kontrollbesuche ausgesperrt, erst recht Journalisten. Es müssen gehörig Verdachtsmomente vorliegen, bis der Zoll dort eine Razzia macht. Dabei habe ich dann erlebt, wie Bauarbeiter wie Hasen flüchteten, etwa bei dem im Volksmund als „Bembel“ bekannten schrägen Glasbau am Main. Warum wohl?

EZB Demo am 18.03.2015

Foto Copyright: Alexander Paul Englert

Bis in sieben und mehr Subunternehmerketten reicht die Verschleierungskette bei solchen Großbauten, gerade wird bei einem großen Prozess in Frankfurt geklärt, ob ein Bauunternehmer, der selbst noch zwei Firmen zwischenschaltet, um Arbeitskräfte zu rekrutieren, als Arbeitgeber anzusehen ist. Eigentlich gilt schon längst die Generalunternehmerhaftung, dass der ganz oben für alle Sauereien der Sub-Sub-Sub-Subs einstehen muss, die Praxis aber setzt das zu oft und zu leicht außer Kraft. Auf deutschen Baustellen lässt sich studieren, welche Augenwischerei unsere Vorschriften, Lohn- und Arbeitsschutzgesetze sind, welche zahnlosen Papiertiger und Bettvorleger. In (ja, in) einem einzigen Briefkasten in Bahnhofsnähe sind bis heute über 160 „selbstständige“ rumänische Fliesenleger gemeldet. Es ist nur einer von vielen „legalen“ Hüllen. Den Mindestlohn (von dem uns gesellschaftlich nun doch mehr Gerechtigkeit versprochen wird) gibt es auf dem Bau seit 1997. Ebenso alt und erfolgreich sind Umgehungsstrategien. In sie einzudringen, gar sie abzustellen, ist so gut wie unmöglich. Transparenz auf dem Bau würde helfen. Das Gegenteil ist der Fall.

Ausbeutung einkalkuliert_CoverAusbeutung einkalkuliert: Arbeitsmigranten auf dem Bau

Im Frühjahr 2009 bekam ich für einen Dokumentarfilm nach monatelangen Bemühungen bei einem Dutzend aktueller Großbauten in der Stadt nur eine einzige Drehgenehmigung, sie war auf eine einzige Nacht und auf eine einzige Baustelle beschränkt. Was ich dort dann vorfand, war zwar nicht illegal, für meinen Film aber signifikant genug. Wir sind hier die einzige Handvoll Deutschsprachiger, begrüßte man mich im Container der Bauleitung. Der Großteil des Turmbaus werde von straff geführten Trupps, vornehmlich aus Osteuropa, erledigt. Bei mir waren es an diesem Abend, weil noch Bauvorstufe und eine relative Facharbeit – Fundament betonieren mit 500.000 Euro teuren Hochdruckpumpen und einer Armada wie am Schnürband aufgereihter Fahrmischer – 30 eigenes für zweieinhalb Tage eingeflogene billige Portugiesen. Sie gossen in Zweier-Schicht binnen rekordverdächtiger 52 Stunden die Bodenplatte des Tower 185 an der Friedrich-Ebert-Anlage nahe an der Messe. Heute steht darauf das vierthöchste Hochhaus Deutschlands, Hauptmieter ist die Wirtschaftsberatung PwC.

Nein, niemand der feinen Mieter, Bauherren und Architekten all der hochwertigen, himmelstürmenden, als Anlagerendite so veritablen großen Frankfurter Bausubstanzen hat etwas damit zu tun, dass – wie jüngst zum wiederholtesten Male – der Bundesfinanzminister, die ihm unterstellte Hauptzollverwaltung sowie deren Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) feststellen musste:

„Auf fast jeder deutschen Großbaustelle stößt der Zoll bei seinen Kontrollen auf die Auswüchse von organisierter Kriminalität. Durch bandenmäßige und flächendeckende Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen entstehen dem Staat Schäden in Milliardenhöhe… Die international vernetzten Gruppierungen bestehen aus Kriminellen, die hochgradig konspirativ und abgeschottet vorgehen.“

Bundesweit 14.657 Ermittlungsverfahren wurden 2014 wegen solchen Verdachts eingeleitet, dazu 102.974 Verfahren wegen illegaler Beschäftigung, deutlich mehr als 2013, damals waren es 95.020 gewesen. Wer mit Beamten der FKS spricht, weiß, wie knapp besetzt ihre Dienststellen, wie eingeschränkt ihre Kontrollmöglichkeiten sind, wie breit ihr Aufgabenspektrum ist. Energische Bekämpfung eines gesellschaftspolitischen Skandals sieht anders aus, die FKS ist eine chronisch unterbesetzte Feuerwehr.

„Ausbeutung einkalkuliert. Arbeitsmigranten auf dem Bau“ betitelte ich 2009 meinen damals zwischen Frankfurt, Augsburg, Essen und Hamburg entstandenen Dokumentarfilm. Rumänische Bauarbeiter, Gewerkschafter, Zollbeamte und Arbeitsschützer und jene betongießenden Portugiesen treten darin auf – Widerspruch gegen den Film und die in ihm enthaltenen Aussagen erhob sich bisher nicht.

„Es ist Sklaverei, mitten in Europa“

Verändert an den Zuständen hat sich ebenso nichts, wie die Zoll-Jahresbilanz 2014 erneut zeigt.

Einen ganzen Raum füllten bei der Hauptzollamt-Außenstelle Wiesbaden die Akten einer einzigen Nachverfolgung eines einzigen Firmengeflechts, das mit 70 Sub-Sub-Sub-Unternehmen die Ermittler zum Besten hielt. Ganze Rechtsanwaltskanzleien in Deutschland sind darauf spezialisiert, die Unterlagen solcher Geflechte „auf legal“ zu stellen. IMMER wird nach Papierlage genau der Mindestlohn bezahlt, werden alle im Arbeitsrecht vorgegebenen Pausen haargenau eingehalten, wird acht Stunden gearbeitet – und nicht die tatsächlichen zwölf bis vierzehn, von Pauschalauszahlungen, Werkzeuggeld, Unterbringungspauschalen und anderen fiesen Abzügen zu schweigen. Jeder weiß, dass die eingeschüchterten, sprachunkundigen Arbeiter wenn sie Glück haben, in Deutschland auf 1000 Euro netto im Monat kommen. Mehr als sie zuhause bekommen würden, ja, deutlich weniger aber, als ihnen und den bei solchem Dumpinggeschäft längst abhanden gekommenen einheimischen Kräften zustehen würde. Trotz gültigem Mindestlohn und trotz Kontrollen der FKS hat sich die Zahl der auf dem Bau existierenden hiesigen Arbeitsplätze von 1997 bis heute um mehr als die Hälfte reduziert. Die Arbeitsmigranten sind die billigere Lösung. Das Lohn- und Gehaltsgefälle zwischen den Boni-Empfängern und den ausgebeuteten Billigarbeitern, die ihnen die Fassaden hochzogen, ist schwindelerregend.

EZB Demo am 18.03.2015

Foto: Alexander Paul Englert

„Es ist Sklaverei mitten in Europa“, sagte mir der Pächter eines Kiosks in einer Wohnanlage in Frankfurt, in der über 2000 Lohnsklaven zu Matrazenpreisen von je 200 bis 300 Euro/ Monat untergebracht sind. Mehr als zehn Mal erlebte ich im Lauf der Jahre, wie einer, zwei, drei oder gar eine ganze Truppe von Verzweifelten, die sich an Kirche, Gewerkschaft oder Polizei gewandt hatte – nur dann wird solche Ausbeutung öffentlich – schon am nächsten Morgen außer Landes gebracht worden war. Das große Einkaufszentrum in Essen, das Textilmuseum in Augsburg, die Hochschulbauten auf dem Frankfurter Riedberg, die Hafencity in Hamburg waren Schattenorte meines Films von 2009. Auf zehn Millionen Euro schätzt die Staatsanwaltschaft den Schaden gegenüber Sozialversicherung und Finanzamt, weswegen in Frankfurt gerade ein Bauunternehmer vor Gericht steht: Bildung einer kriminellen Vereinigung, bandenmäßiger und gewerbsmäßiger Betrug, Untreue, Bestechung im geschäftlichen Verkehr und Steuerhinterziehung lauten die Anklagepunkte. Männer aus dem früheren Jugoslawien, aus Albanien und Portugal sollen zu Niedrigstpreisen die Rohbauten errichtet haben, mit Sub- und Scheinfirmen soll Schwarzarbeit in großem Stil verschleiert worden sein. Unter den so zustande gekommen Bauobjekten: das Überseequartier in Hamburg und die Deutsche Börse in Eschborn.

Brecht würde heute gewiss Frankfurt mit in sein Gedicht aufnehmen und fragen, wer denn die vieltürmige Stadt am Main in den Himmel gebaut hat und baut. Über 100 Gebäude Frankfurts sind mindestens 50 Meter hoch. Das „Wolkenkratzerfestival“ zieht jeweils über eine Million Besucher an. Die Türme Frankfurts haben ihre Faszination. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich kenne die Ecken mit den Fallwinden, die einen beinahe vom Fahrrad wehen, die Sonnenspiele in den Glasfassaden zu unterschiedlichen Tageszeiten, hatte und habe immer wieder ein New-York-Gefühl. Hochhausstadt Frankfurt. Man hasst sie und man liebt sie.

Alf Mayer

PS. Ikonografisch in den Himmel Frankfurts eingeschrieben hat sich eine Linie zwischen zwei der älteren Hochbauten in Frankfurt, die nicht in dem Prestel-Buch vorkommen, weil es erst Bauten nach 1945 erfasst. 30 Minuten lang – für die, die zuschauten, um vieles länger – lief am 12. Juni 1994 Philippe Petit auf einem eigens dafür gedrehten, 300 Meter langen Hochseil zwischen Paulskirche und Dom und stellte zum 1200jährigen Stadtjubiläum Szenen aus der Geschichte Frankfurts dar. Petit wiederholte damit sein kühnes Unterfangen vom 7. August 1974, als er 417 Meter über dem Boden illegal zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers balancierte. Der Schriftsteller Paul Auster war davon so beeindruckt und verzaubert, dass er darüber den Essay „Auf dem Hochseil“ schrieb. Von Petit, der in fremden Städten stets erst auf die höchsten Türme steigt und sich seine Linien in die Luft malt, gibt es ein schönes Buch: „To reach the Clouds − my high wire walk between the Twin Towers“ (2002), über ihn den Dokumentarfilm „Man on Wire“ von James March. Die Musik zum Drehseilakt: das Klaus Heidenreichquartett mit „man on wire“.

blockupy plakat_großPPS. Frankfurt, die Stadt der Dialektik, hat natürlich eine aktuelle Volte in Sachen staatlicher, legaler, illegaler, scheißegaler Gewalt zu bieten. Es operierten am Blockupy-Tag nicht nur fünf „bunte Finger“ gegen die EZB und „das System“, sondern auch kleine, anonyme, schwarze Rudel, eine Art internationale Einsatztruppe linker Gewalt. Sie verwüsteten nicht nur schon in der Nacht zum Mittwoch ein Büro der feinen Maklerfirma Von Poll im feinen Westend, sorgten am frühen Morgen für den „Rauch über Stadt“, griffen eine Polizeiwache an, setzten Polizeiautos und manchen braven Kleinwagen in Brand, griffen vielfach – dies ein Tabubruch – Rettungskräfte an, sondern schossen auch Feuerwerkskörper in offene Fenster des (noch) nicht gerade von Reichen bewohnten Ostends, richteten ihre Wut nicht nur gegen die Panzerscheiben von Banken, sondern zerlegten auch kleine Einzelhandelsgeschäfte oder böse Bushaltestellen. Etliche Familienunternehmen schrieben inzwischen an die Blockupy-Organisatoren, der Protest habe die Falschen getroffen. Im Frankfurter Stadtparlament – dafür gibt es den Dialektik-Orden am Absperrband – machte „Die Linke“ die Polizei jetzt für die Ausschreitungen „mitschuld, weil sie an vielen neuralgischen Punkten der Stadt nicht sichtbar gewesen“ sei.

Philipp Sturm, Peter Cachola-Schmal: Hochhausstadt Frankfurt. Bauten und Visionen seit 1945. (High-Rise City Frankfurt. Buildings and Visions since 1945.
Prestel Verlag, München/ Deutsches Architekturmuseum Frankfurt 2014. Hardcover, 320 Seiten. 231 farbige und 171 s/w Abbildungen. 49,95 Euro. Ein Blick ins Buch.
Die Ausstellung „Himmelstürmend“, noch bis zum 19. April 2015 im DAM Frankfurt. Alle Infos hier.

Foto Rauch über Frankfurt, Quelle: Mainhatten-Webcam. Foto „Fight EZB“, Quelle. Fotos Blockupy-Protest: Alexander Paul Englert.

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