90.000 Neuerscheinungen gibt es jedes Jahr auf dem deutschen Buchmarkt. Viel zu viele! Ein guter Grund für Michael Höfler, zu versuchen, sein neues Buchprojekt unter die Leute zu bringen. Ein Bericht.
„100 Gründe, keine Bücher mehr zu schreiben“. Diesen Buchtitel wollte ich auf der Leipziger Buchmesse an den Verlag bringen. Der Widerspruch darin sollte neugierig machen und die Branche die zur Veröffentlichung nötige Selbstironie aufbringen. Zur Sicherheit hatte ich aber auch gute Argumente dabei: Welche Bedeutung hatte es noch, ein Buch zu schreiben bei 90.000 weggedruckten Neuerscheinungen pro Jahr? Bei zusammengebundenen Seitenfolgen mit Namen wie „Eine Tussi wird Mama: neun Monate auf dem Weg zum Katzenbaby“ (Daniela Katzenberger, Plassen Verlag), „Das seiende Nichts“ (Verlag Andreas Mascha) und den Krimis von Ulrich Wickert. Und überhaupt: Gab es noch einen Prominenten, der noch keinen Roman publizieren durfte? Um die von derlei geplagten Lektoren jedoch nicht zusätzlich mit dem üblichen Papierstapel eines hoffnungsfrohen Autors zu belasten, hatte ich mein Manuskriptangebot im handlichen 7x4cm-Format parat. Darauf das ausgefeilte Exposé: „Geschenkbuch (eh nicht zum Lesen) mit 100 lesefernen Spaßthemen oder einfach 100 Beispielbücher/Promiautoren.“ Darunter meine Kontaktangaben für die Zustellung der „Garantiesumme (fünfstellig)“. Bloß nicht unter Wert verkaufen, sonst wirst du gleich nicht ernst genommen! Im Zug schnitt ich die mit dem erstbesten Layout aus dem Internet gestalteten Exposé-Kärtchen aus. Sie sahen professionell aus, ich war guter Dinge.
Doch bereits mein erster Gesprächspartner auf der Messe, Florian Ringwald von Kiepenheuer & Witsch meinte, dieser Titel ginge gar nicht. Dummerweise befeuerte ich seine Skepsis mit der rhetorischen Frage, ob denn sein Verlag etwas zu diesem Titel beigetragen habe (Fundstück aus dem aktuellen Programm: „Für nichts und wieder alles“). Selbstverständlich nicht! Aber doch wohl andere Verlage? Nein, meinte Ringwald. Ich probierte es mit einer rhetorischen Frage, die er nur verneinen konnte: „Sind denn alle Bücher auf der Messe es wert, gedruckt worden zu sein?“ Doch Ringwald bejahte auch dies mit überzeugtem Lächeln. Dito eine gestreng dreinblickende Dame von Wallstein („Das Liebesleben der Stimmen“) und Andreas Krauß vom Aufbau-Verlag („Auch morgen werden Rosen blühen“). Wenn es ein Überangebot gebe, dann „regelt das der Markt“, versicherte dieser ohne Anflug eines Augenzwinkerns. Ich lief weiter durch die Hallen, sah abertausende Cover von insgesamt 2200 Ausstellern, teils in Regalen aufgestapelt, die gefühltermaßen nur das Messedach begrenzte. „Du grillst es doch auch. Das Bild Grillbuch“ (Piper). „Finn-Luca, komm bei Fuß!“ (S. Fischer). Was für ein Versager muss der Markt sein!
Ich erblickte den großen Stand des Fachverlags für bewährte Witze, Eulenspiegel. Wenigstens die sollten Interesse an meinem Buch haben, schließlich dürfte Buchmarkt-Schelte so alt sein wie der Buchmarkt selbst. Doch wo ich den vorigen Gesprächspartnern während meiner Buchvorstellung wenigstens ihr Arbeiten hinter den Gesichtern angesehen hatte, verzog Dr. Matthias Oehme keine Miene. Immerhin stimmte er der Berechtigung meines Titels zu, verkündete jedoch mit der Lässigkeit des Humoristen: „Wir kennen die Gründe, aber sprechen nicht darüber“. Haben Satiriker bzw. Witzeverwerter keinen Bock, ihren Job zu machen, bloß weil sie selbst von dem Geschäft leben?
Wenigstens hatte Oehme den Tipp für mich, den Gang hoch zu Schwarzkopf & Schwarzkopf zu laufen, dem Spezialverlag für – sogar – „111 Gründe“ für irgendwas. Tatsächlich hatte S&S es fertig gebracht, dass 2012 unter dieser Reihe London, Hamburg, Berlin und München nebeneinander im Buchhandel als „großartigste Stadt der Welt“ abgefeiert wurden. Widersprüche schienen also kein Problem darzustellen und war auch der Umstand keiner, dass „111 Gründe, Bücher zu lieben“ ebenfalls ein Titel von S&S ist. Entsprechender Hoffnung trug ich Thomas Kohle (!) meinen Buchvorschlag vor. Doch der sagte mir knallhart ins Gesicht: „Das Buch kauft keiner!“ „Wegen Nestbeschmutzung?“, frug ich kleinlaut und Sympathie heischend nach. Er nickte. Und stritt partout ab, dass sein Verlag an meinem Titel in spe kausal beteiligt sei. Nicht mal S&S! Also niemand? Mein Kärtchen steckte er mit einem Lächeln so echt weg, als hätte ich ihn mit dem Ausdruck eines 3000-Seiten-Epos beschwert. Hätte ich nur! Ich revanchierte mich mit einem herablassenden Gegenlächeln.
Angesichts der ungezählten Nulltitel hier, Büchern, die die Menschheit garantiert keinen Jota voranbrachten, ja: per zeitraubender Lektüre ihrer gar einem Fortkommen entgegenstanden, musste doch jemand unter all den Lesestoff-Herstellern zu ehrlicher Branchenkritik zu bewegen sein! Schließlich versprach mein Titel die Meinungsführerschaft unter den branchenkritischen Verlagen. Und in Zeiten, in denen Unternehmen um Profil kämpfen wie Autoren um Programmplätze, lieferte ich ihnen das Profil auf dem Silbertablett. Aber gab es überhaupt branchenkritische Verlage? Vielleicht unter den qualifizierten Kleinverlagen. Doch Volker Surmann vom Satyr-Verlag bedauerte lediglich, dass dieses Jahr weniger Aussteller da seien. Nicht mal dem sympathischen Vertreter des Alternativverlags Voland & Quist war eine Kollegenschelte zu entlocken. Warum hatte sich der Verlag dann 2004 gegründet? Stattdessen konstatierte der junge Mann wie ein Branchen-Dinosaurier, dass sämtliche Bücher durch den Geschmack des Lesers gerechtfertigt seien, einzige Ausnahme: das Angebot des rechtsradikalen Compact-Verlags, der einige Meter weiter von im Nacken rasierten Männern mit Finstermimik bewacht wurde.
Vielleicht konnte mir eine Literaturagentur helfen. Und voilà! Roman Hocke von AVA-International berichtete mir von tausenden austauschbaren Manuskripten, die in Zeiten, in denen niemand mehr genau sagen kann, ob sich eine sechs- oder siebenstellige Zahl Deutscher für große Schriftsteller halten, auf seinem Schreibtisch landeten. Dass die trotz bald hunderttausend Neuerscheinungen im Jahr nicht alle weggedruckt werden, könne auch seine Agentur nicht verhindern. Wer liest denn überhaupt, was es dennoch in eine Druckmaschine schafft? „Der Leser orientiert sich heute viel stärker an Bestseller-Listen. Das Neue hat da schlechte Chancen. Aber ich freue mich sehr darüber, wenn mal Figuren anders beschrieben und Geschichten anders erzählt werden.“ Ich freute mich umgekehrt, endlich einen Gleichgesinnten getroffen zu haben. – So dass ich glatt vergaß, ihn zu fragen, ob er einen Verlag für mich und mein Buch hat. Wenigstens habe ich ihm wie den anderen Gesprächspartnern mein Kärtchen dagelassen.
Vom aufkeimenden Optimismus brachte mich Friederike von Dienst, Vertreterin des Branchenorgans buchmarkt.de, gleich wieder herunter. Zwar räumte sie die Existenz des Überangebots ein, wusste dieses aber als die schöne Herausforderung umzudeuten, die „Perlen darin heraus zu filtern“. Und die zarte Kritik in „Überangebot“ fing sie gleich wieder ein. Der individuelle Geschmack rechtfertige alles – und gar: „Es kann gar nicht genug Bücher geben!“ Aber ein Buch ist doch nicht schon deshalb gut, weil es ein Buch ist! Gab es keine anderen Ausnahmen als das neulich wieder aufgelegte „Mein Kampf“? Hat es die Schmuddeltitel „Jenseits des Protokolls“ (Bettina Wulff) und „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ (Heribert Schwan/Tilman Jens) nie gegeben?
Doch ich gab nicht auf. Florian Kessler von Hanser verstand mich: „Das Überangebot ist doch offensichtlich!“ Zusammen mit Wolfgang Tischer von literatrcafe.de empfahl er mir den Eichborn-Verlag: obschon 2011 von Bastei Lübbe aufgekauft, als Buchmarke immer noch dafür zuständig, gegen den Mainstream an zu schwimmen. Meinem Buch solle ich jedoch inhaltlich einen positiven Dreh verpassen. Bücher zu schreiben, in geringer Anzahl und guter Qualität, das habe doch auch weiterhin Sinn.
Abends dachte ich nach. Korrumpierte mich Eichborn anständig, wäre ich bereit zur Dialektik und von der Forderung nach 1:1-Umsetzung meines Titels zurückzutreten. Bücherschreiben ist erlaubt, falls sie von mir sind oder mir genehm. Damit und mit einer fünfstelligen Garantiesumme könnte ich gut leben.
Der folgende Tag begann prima. Morgens motivierte mich der branchenskeptische Facebook-Post des Qualitätsautors Rayk Wieland: „Nichts gegen Vesper, aber die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse war in diesem Jahr eine komisch altbackene, fast schon gravitätische, zwischen Oberlehrer- und Märchenonkelnsound oszillierende, tatsächlich über das Aussterben der eigenen Literaturkritikerkaste lamentierende steinerzlangweilige Veranstaltung – daß mein Glückwunsch von Herzen an alle geht, die diesen Preis nicht bekommen haben.“ Danke, zu denen gehörte ich auch!
Auf dem Weg zu meinem Ziel malte ich mir aus, dass Bastei-Lübbe Eichborn eine Parzelle seines Stands überlassen habe. Zehn Minuten nach Messereröffnung um zehn erblickte ich den Stand. Meine Augen suchten den Schriftzug Eichborn. Doch so sehr, wie ich den Kopf drehte und wendete, das einstige Humorflaggschiff existierte hier namentlich überhaupt nicht! Dennoch zog ich Atemluft vom Bauch hoch bis unter die Schulterblätter, legte all mein Trachten für ein geistreiches Buchwesen bzw. meinen eigennützigen Publikationserfolg in die Konzentration auf meine finale Rede. Doch am Stand blickten alle Augen zielgerichtet an mir vorbei. Bei einer Dame, die mit der Annahme von Bücherkartons beschäftigt war, erzwang ich schließlich Aufmerksamkeit, indem ich einfach in ihr Hantieren hinein nach einem Lektor von Eichborn fragte. Die Dame meinte, es sei keiner da, aber später komme bestimmt noch einer. Ich solle doch eine Runde drehen und dann einfach wieder vorbeischauen. Eine Stunde danach baute ich die gleiche Spannung erneut auf. Doch wieder war sie vergebens.
Ich fühlte mich der verbliebenen Marginalien meiner Illusionen beraubt. Auf dem Weg zum Ausgang der Buchmesse zog ich mich in mein kognitives Schneckenhaus zurück. Im Wirtschaftszweig des Verlagswesens ist Selbstkritik noch nicht mal als sich selbst bestätigendes Feigenblatt möglich. Tatsächlich gibt es überhaupt keine schlechten Bücher! In einem geeigneten Kopf ist auch die grauenhafteste Aneinanderreihung von Wörtern erfreulich. Doch darin steckte eine neue Erkenntnis: Wie das Buch, so der Leser! Und siehe da: Ich hatte den Titel für einen neuen Versuch im nächsten Jahr.
Michael Höfler
Fotos: Leipziger Buchmesse, Tom Schulze