An der Grenze zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort
– Carola Saavedras dritter Roman „Landschaft mit Dromedar“ (zur CM-Rezension hier) ist ein erfrischendes, auf allen Ebenen überzeugendes Werk. Anspruchsvoll, vielschichtig und intelligent – und ganz klar eins der Highlights der aktuellen Buchsaison. Doris Wieser hat sich mit der Autorin für CULTurMAG unterhalten.
Doris Wieser: In deinem Roman geht es im Wesentlichen um Kunst und Liebe. Das Thema hat also nicht direkt etwas mit Brasilien zu tun. Was ist der Grund dafür? Ist das eine allgemeine Tendenz in der brasilianischen Gegenwartsliteratur?
Carola Saavedra: Ich glaube, es ist eine von verschiedenen Tendenzen. Es gibt diese Richtung, aber es gibt auch eine Menge anderer Strömungen, z. B. die urbane Literatur, die das Phänomen der Gewalt thematisiert, oder Autoren wie Luiz Ruffato, die über die Welt der Arbeiter schreiben, oder wie Ronaldo Correia de Brito, die den Regionalismus neu erfinden.
Dass mein Buch nichts mit Brasilien zu tun hat, hat vor allem mit meinen Themen zu tun. Einmal hat mir eine Literaturwissenschaftlerin Folgendes gesagt – und ich denke, sie hat Recht: Ich habe eine bestimmte Erfahrung gemacht, die mit meiner Herkunft aus Chile zu tun hat. Meine Familie war immer eine Art bilinguale Insel. Auf dieser Insel hatten wir eine sehr familiäre, intime Verbindung untereinander und weniger diesen Weltbezug nach draußen. Wahrscheinlich spiegelt sich also meine Persönlichkeit in meinen Büchern. Es sind immer Bücher, die weniger mit bestimmten Orten zu tun haben, als damit, was im Inneren der Menschen passiert.
Dazu kommt, dass ich jahrelang unterwegs war. Als ich zum Beispiel in Guadalajara (Mexiko) war, wurde ich gebeten, über meine Erfahrungen in Chile zu sprechen. Aber ich habe gar keine Erinnerung an meine ersten Lebensjahre in Chile. Ich fragte mich also, was meine erste Erinnerung ist, und fand heraus, dass es der Flug von Chile nach Brasilien ist. Damals war ich drei Jahre alt. Ich erinnere mich ganz genau daran, was ich gegessen habe, wie die Stewardess angezogen war, dass ich etwas zum Malen bekommen habe … Das ist sehr symbolisch, weil mein Leben in meiner Erinnerung mit diesem Flug beginnt. Wahrscheinlich interessiert mich deswegen der Mensch an sich mehr als die besonderen Umstände eines Ortes. Denn ich habe selbst keine starke Verbindung zu einem bestimmten Ort erlebt.
DW: Das war also keine programmatische Entscheidung. Du hast dir nicht gesagt, dass das Thema der brasilidade in der Literatur bereits abgearbeitet wurde und es Zeit für etwas Neues wäre …
CS: Nein, und an so etwas glaube ich auch nicht. Ich glaube nicht, dass man etwas Gutes schreiben kann, wenn man so programmatisch denkt. Man kann nur über das schreiben, was einen bewegt. Deswegen ist es keine pragmatische Entscheidung. Man schreibt, was man kann und nicht, was man will, und das muss von ganz innen kommen.
DW: Auch beim Titel deines Romans springt einem ja sofort ins Auge, dass es nicht um Brasilien gehen kann, denn darin kommt ein Dromedar vor. Ich habe mich vor der Lektüre schon gefragt, für was dieses Dromedar stehen könnte. „Landschaft mit Dromedar“ könnte der Titel eines Gemäldes sein. Das ist sehr bildlich. Außerdem assoziiere ich Dromedare vor allem mit dem arabischen Kulturkreis oder mit einer gewissen Art von Exotik. Welche Rolle spielt für dich dieses Bild in der Romanhandlung?
CS: Es gibt viele Interpretationsmöglichkeiten. Erstens hat man in der zeitgenössischen Kunst oft Titel wie „Landschaft mit etwas“, und manchmal ist dieses „etwas“ auf dem Gemälde gar nicht zu sehen oder es ist nur irgendein kleiner, kaum erkennbarer Fleck, sodass man sich das Objekt vorstellen kann.
Aber das Dromedar hat noch andere Bedeutungen. Érika sagt irgendwann, dass Dromedare wenig Wasser und Aufmerksamkeit brauchen. Sie können ganz lange in der Wüste allein überleben, wie auf einer Insel. Sie sind selbstständig. Ungefähr so fühlt sich auch Érika. Sie glaubt, es ganz lang in einer einsamen Situation aushalten zu können, ohne menschliche Beziehungen.
DW: Die Hauptthemen des Romans sind Kunst und Liebe. Wie bist du auf die Idee gekommen, diese beiden Themen miteinander zu verbinden? Diese Engführung lässt den Eindruck entstehen, dass Liebe etwas mit Kunst zu tun hat, also, dass es einer Kunst bedarf, um lieben zu können, und andersherum, dass man Liebe benötigt, um Kunst schaffen zu können.
CS: Ich glaube sowohl für Kunst als auch für Liebe braucht man Leidenschaft. Deswegen wollte ich, dass Érika eine Künstlerin ist. Wenn man ein Künstler ist, hat man eine leidenschaftliche Beziehung zur Kunst, das ist wie eine Ehe. Érika hat zwei Krisen: eine Krise mit ihrem Mann Alex und eine Krise mit ihrem Beruf, der Kunst. Beide sind eng mit ihrer Identität verbunden, die Liebe zu Alex und zu ihrer Arbeit. Diese Parallele wollte ich aufzeigen. Sie ist auf der Suche nach ihrer Identität und fragt sich: Was ist geblieben nach der Trennung von Alex? Was ist von ihr als Künstlerin geblieben?
DW: In der Beziehung zwischen Érika und Alex ist Érika die weniger begabte Künstlerin oder zumindest die weniger erfolgreiche. Also ist der Mann der berühmtere und gewissermaßen überlegenere in der Paarbeziehung. Inwiefern ist dieser Roman also auch ein Roman über Geschlechterrollen in der modernen Gesellschaft?
CS: Ich habe das nicht so geplant, aber vielleicht zeigt diese Konstellation etwas sehr Häufiges. Ich wollte mir das nicht direkt auf die Fahnen schreiben, sondern einfach von Dingen erzählen, die in unserer Welt passieren. Aber natürlich kann man das so lesen. Meine Absicht war, von einer Beziehung zu erzählen, in der Érika den anderen immer braucht, sodass sie nicht weiß, was ihr gehört und was sie wirklich kann. In unserer Gesellschaft passiert das wohl häufiger Frauen als Männern.
DW: Dahinter steckt also keine politische Agenda; die Konstellation entstand wohl mehr aus Beobachtungen.
CS: Ja, und ich glaube nicht an Literatur mit einer politischen Agenda. Ich glaube Literatur, die funktioniert, kann solche Dinge thematisieren, aber das ist nicht ihre grundlegende Absicht. Die Absicht ist immer die Literatur selbst.
DW: In dem Roman ist auch ein kunstkritischer Diskurs enthalten. Die beiden Hauptpersonen sind Installationskünstler. Es wird immer wieder diskutiert, inwiefern diese Art von Kunst auch konsumierbar ist für Menschen, die mit den kunsttheoretischen Diskursen weniger vertraut sind. Es fällt auch einmal das Stichwort Documenta; und ich denke, viele Documenta-Besucher kennen dieses Gefühl, dass man Kunsttheoretiker oder -historiker sein muss, um bestimmte Deutungskonzepte auf bestimmte Objekte anwenden zu können. Inwiefern bist du selbst dieser Art von Kunst zu- oder abgeneigt?
CS: Wenn ich eine Documenta besuche, gibt es Werke, die ich liebe und toll finde, und andere, die ich total idiotisch finde. Das ist immer so mit Kunst. Es gibt Dinge, die man gut findet, und solche, die man schlecht findet. Und natürlich ist nicht unbedingt das, was ich gut finde, auch für andere gut. Ich interessiere mich für zeitgenössische Kunst, für Konzeptkunst. Aber da gibt es auch viele Sachen, die total relativ sind und die ich überhaupt nicht verstehe. Was mich aber vor allem interessiert, ist diese Diskussion darüber.
DW: Läuft die Literatur auch Gefahr, in einen Bereich zu geraten, in dem der Leser nur noch Sinn konstruieren kann, wenn er bestimmte Theoriediskurse kennt, wie es bei der bildenden Kunst heute häufig der Fall ist?
CS: Wenn so eine Literatur produziert wird, wird sie gar nicht vermarktet. Der Unterschied ist, dass die Literatur an die Instanz des Marktes gebunden ist. Die Verlage entscheiden, was veröffentlicht wird. Daher ist das für die Literatur kein großes Thema. Aber denken wir an etwas ganz Radikales wie „Finnegans Wake“ von James Joyce. Das Buch kann man nicht wie einen normalen Roman von Anfang bis Ende einfach so lesen. Man liest und studiert ein Kapitel wochenlang. Diese Art Literatur ist sehr interessant, aber Erstens gibt es nur wenige, die etwas auf diesem Niveau produzieren können, und Zweitens ist das nur eine mögliche Erfahrung von vielen. Die Literatur braucht auch anderes, sie braucht Geschichten. Aber es ist wichtig, dass es so etwas gibt, auch wenn es nicht für jedes Publikum zugänglich ist.
DW: Dein Roman stellt sich im letzten Kapitel als das Manuskript für eine Installation heraus. Alles, was wir als Leser in schriftlicher Form vor uns liegen haben, ist am Ende die Vorlage für eine Installation in einem dunklen Raum in einem Museum, in dem ein Tonband läuft. Das ist eine ungewöhnliche Art, einen Roman aufzuziehen. Hast du das Gefühl, dass diese Extravaganz bei einem bestimmten Publikum Ablehnung oder Distanz erzeugt?
CS: Nach meiner Erfahrung stört das niemanden, weil es dahinter eine Geschichte gibt. Das Buch hat viele Ebenen. Es kann einen Leser interessieren, der gar keine Verbindung zu diesen Kunstdiskursen hat. Er kann das Buch lesen und darin eine Liebes- und Trennungsgeschichte sehen. Und natürlich hat jemand, der sich dafür interessiert und damit auseinandersetzt, auch Zugang zu anderen Ebenen. Aber die Geschichte funktioniert unabhängig davon.
DW: Die dargestellte Dreiecksbeziehung beginnt zunächst als Paarbeziehung. Anscheinend läuft sie schon mehrere Jahre und, als sie zu altern beginnt und zur Gewohnheit wird, kommt eine dritte Person ins Spiel, die der Beziehung eine neue Stabilität verleiht. Da es sich um ein Künstlerpaar handelt, könnte es vielleicht sein, dass das Paar für sein Schaffen eine Zuschauerin braucht, die sowohl ihre Kunst betrachtet als auch ihre Beziehung?
CS: Ja, ich finde, das ist so lesbar; ich finde, das ist eine schöne Interpretation. Die Figuren funktionieren wie Spiegel voneinander, aber auch wie ein Schutzschild. Karen ist da, weil sie Érika und Alex spiegelt und ihnen eine bestimmte Entfernung voneinander ermöglicht. Durch diese Entfernung können sie wieder miteinander kommunizieren. Es gibt eine Szene, in der die drei zusammen im Bett sind. Érika hat Karen vor sich und Alex sitzt den beiden gegenüber und liebkost Karen. Érika empfindet den Körper Karens wie ein Schild zwischen ihrem und Alexʼ Körper und trotzdem ist Karen das, was sie mit Alex verbindet. Es ist diese widersprüchliche Bewegung, die die Kommunikation ermöglicht.
DW: Erzähltechnisch gesehen ist der Roman experimentell. Érikas Erzählung setzt sich aus Tonbandaufnahmen zusammen. Die Geräusche, die man darauf hört, werden in Worte gefasst und in einer andern Schriftart gedruckt. Wie kam es eigentlich zu dieser ziemlich ungewöhnlichen Idee?
CS: Ein derartiges Beispiel kenne ich nicht aus der Literatur. Wenn jemand so etwas kennt, soll er es mir sagen. Die Idee entstand aus meinem Wunsch, etwas mit Intermedialität zu machen. Ich wollte zwischen Hörbuch und Literatur arbeiten, also machte ich ein Audiotagebuch. Ich wollte an der Grenze zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort einen Text entwerfen. Experimente interessieren mich im Sinne von, neue Formen zu finden, neue Wege, um dieselben Geschichten zu erzählen, neue Formate, neue Möglichkeiten. Ich denke, an den Grenzen zwischen verschiedenen Medien kann man so etwas finden.
Vielen Dank und viel Erfolg mit deinen Büchern in Deutschland!
Doris Wieser
Eine Rezension des Roman „Landschaft mit Dromedar“ finden Sie hier.