Geschrieben am 5. Dezember 2015 von für DVD, Film/Fernsehen, Kolumnen und Themen, Litmag, News

Essay: Markus Pohlmeyer über Woody Allens „Midnight in Paris“

Allen_ParisFilm. Fiktion. Philosophie

Woody Allen und Philosophie. Ein Essay von Markus Pohlmeyer.

Kunst und Literatur, das ist gut vorzustellen. Aber Philosophie und Film?, also Philosophie im Film – und nicht eine Philosophie des Films –, während doch das genuine Forum der Philosophie: der athenische Marktplatz, der Hörsaal, der Seminarraum, das Symposion und vor allem das Buch vertrauter scheinen. Vittorio Hösle diagnostiziert, dass philosophische „Themen in Allens Filmen auf zwei unterschiedlichen Niveaus wichtig“ seien: „[…E]inerseits gibt es ständige Anspielungen auf philosophische Probleme in seinen Wortspielen und Witzen […]; andererseits konzentrieren sich einige seiner Geschichten in ihrer Struktur auf klassische philosophische Fragen wie das Identitätsproblem […] in Zelig […], die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Kunst in The Purple Rose of Cairo […], die Macht des Bösen in Shadows and Fog […].“[1] Und Hösle beobachtet weiter (was auch als eine Reaktion auf das Ende der Metaerzählungen und Metaphysik zu denken wäre): “In Allens Philosophie gibt es zwei, vielleicht drei Sphären, die miteinander wetteifern, um die Leere zu füllen, mit der moderne, authentische Menschen konfrontiert sind: die Kunst, die Moral und, mit Einschränkungen, die Religion. Sie haben dieselbe Funktion – konkrete Inhalte vorzuschlagen, ohne die auch die authentische Person zum Scheitern verurteilt ist […].“[2]

Poetologisches

In diesem Essay werde ich nicht eingehen auf Woody Allen und die Religion; dazu empfehle ich seine wunderbare Kurzgeschichte „Mr. Big“[3], in welcher in guter Dashiell Hammett-Manier der Detektiv Mr. Lupowitz im Auftrag einer unbekannten Schönen (mit wechselnden Identitäten) das Verschwinden Gottes aufklären und diesen Kerl für sie suchen soll. Die Polizei findet Gottes Leiche; es wird vermutet, ein Existentialist stecke dahinter, das sei eine Tat aus Leidenschaft, weil kein System vorhanden. Mehr soll hier nicht verraten werden.

Und Kunst werde ich hier einschränken auf einen Film Midnight in Paris aus dem Jahre 2011, in dem aber verschiedene Künste thematisiert werden. (Anmerkung: Moderne Kunst wird in Allens Filmen unterschiedlich kommentiert und ironisiert: von der Beschäftigung mit ihr aus purer Langeweile heraus bis zur Satire des Genie-Begriffs). Den Bereich Moral möchte ich erweitern zu einer ethischen Dimension, die via Fiktion mit dem Design und der Architektur dieses Films konstitutiv verknüpft ist. Und anstatt Definitionen zu Fiktion als unüberschaubare Begriffsgeschichten aufzutürmen, will ich an diesem Film entwickeln, wie Fiktionen funktionieren. Dazu ein kleiner poetologischer Exkurs:

„aut prodesse volunt aut delectare poetae,
aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.[4]
(Übersetzung v. M. Pohlmeyer:
Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen
Oder zugleich sowohl Nützliches als auch Angenehmes für das Leben künden.)

Allens Film (im Folgenden mit Midnight abgekürzt) passt wunderbar zur Funktionsdefinition von Dichtung, pars pro toto für Kunst zu lesen (ich tue so, als ob …), wie sie der augusteische Dichter Horaz in seiner ars poetica vornimmt – als einer Wahl zwischen drei Alternativen: entweder wollen die Dichter nützen oder erfreuen oder zugleich sowohl Angenehmes als auch Nützliches für das Leben künden. Letztere Alternative umfasst die beiden vorausgehenden. Das Kompositum prodesse ist spannend: ich würde es auch mit für jemanden dasein übersetzen, aber auch anstelle von jemanden, von etwas sein … Anstelle von: dies wäre eine gute Hinführung zu dem, was die Hauptfigur in Midnight erlebt – bis es ihr gelingt, ein authentisches Leben zu gestalten – ohne Stellvertretungen.

In diesen Überlegungen erlaube ich mir eine Übertragung, eine Metapher: ich behandle, rein pragmatisch/heuristisch, den Film, als wäre er ein Buch (also ohne auf die Musik, Beleuchtung, den Schnitt usw. einzugehen); ich tue so, als ob, weil der Film auf viele literarische Prätexte anspielt und andere Texte wie Palimpseste im Sinne Genettes benutzt, überschreibt und sogar umschreibt – als Bedingung der Möglichkeit von Fiktionen. Und nach Hans Magnus Enzensberger – Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie – sei Lektüre ein „anarchischer Akt.“[5] Diese Einschätzung und Aufforderung ist durchaus dekonstruktivistisch und verhindert, dass das hermeneutische Geschäft keiner Anästhesierung und Verharmlosung unterliegt. Durch die technischen Möglichkeiten des DVD-Players verfüge ich im Grunde über die gleichen Optionen, mit diesem Film wie mit einem Buch zu verfahren (auch wenn ich eher selten meinen Player mitsamt DVD in die Ecke zu werfen pflege). Ein Buch in seiner schwarz-weiß Reduktion scheint zwar meiner Phantasie größere Freiheiten zu lassen als die vermeintlich eindeutigen Besetzungen und Kodierungen durch den Film – zudem auch noch eine wunderbare Musik das Geschehen emotional kommentiert und begleitet.

Dieser Film aber macht nicht nur die Hauptakteure und Paris sichtbar, sondern auch die unsichtbaren Toten: so könnten Hemingway, Picasso und Dali usw. ausgesehen haben. So könnte Paris ausgesehen haben. Paris ist eine Chiffre für europäische, internationale Kultur, ja fast ein Stereotyp. Der Film präsentiert ästhetische und touristische Highlights – ohne z.B. auf die sozialen Probleme der Pariser Vororte einzugehen. Paris selbst ist eine Fiktion, ein Chronotopos (im Sinne Bachtins), ein Labyrinth (im Sinne Ecos), worin sich die Hauptfigur verirrt.

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Exkurs

Woody Allens Paris funktioniert in etwa so wie z.B. die Welt des klassischen Athens eines Platon oder Sokrates. Darauf verweist Ricoeur in seinen Überlegungen zum Verhältnis Text und Diskurs: „Nur im Schreiben, in der Befreiung des Geschriebenen nicht nur von seinem Autor, sondern auch von der Enge der dialogischen Situation, enthüllt sich die Bedeutung des Diskurses als eines Entwurfs der Welt.“[6] „Das Schicksal des Textes aber entzieht sich dem begrenzten Lebenshorizont seines Autors völlig. Was der Text nun aussagt, zählt mehr als das, was der Autor damit auszusagen meinte, und jede Exegese entfaltet sich in einem Umkreis von Bedeutungen, die ihre Verankerung in der Psyche des Autors verloren haben.“[7] Das Schicksal des Films aber entzieht sich dem begrenzten Lebenshorizont von Woody Allen völlig. Auch soll hier keine Filmtheorie vorgelegt werden, weil es sich um ein Medium handelt, „[…] das nicht nur technisches Produkt ist, sondern als ästhetisches Instrument der Kommunikation ausgesetzt und in seiner Abhängigkeit von Produktion, Distribution und Rezeption ständigen, theoretisch nur schwer faßbaren Wandlungen unterworfen ist.“[8]]

Eine „bessere Metaphysik“?

Der unheilbar romantische Hollywooddrehbuchschreiber Gil hält sich in Paris auf. Seine Verlobte und seine zukünftigen Schwiegereltern machen ihm das Leben schwer – mit einem gewissen Pragmatismus fürs Geschäftliche oder mit der Ausstattung der luxuriösen Wohnung in den USA, wo Gil aber keineswegs leben möchte. Die Ingredienzien für eine (Beziehungs)Tragödie wären gegeben: Mythos, kathartische Momente, Anagnorisis, Peripetie, wenn nicht all diese Bausteine aus der aristotelischen Poetik anders, gegenläufig besetzt würden. Außerdem kommt es zu einer interessanten Interaktion zwischen Poesie und Historiographie. Nach Aristoteles ist es nicht „[…] Aufgabe des Dichters […] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“[9]

Gil, auf der Flucht vor der Oberflächlichkeit seiner neuen Familie, verliert sich in Paris und Punkt 12 Uhr wird er mit einem unzeitgemäß aussehenden Auto auf eine seltsame Party charmant entführt, dort lernt er F. Scott Fitzgerald und dessen Frau kennen. Es folgen Hemingway und Gertrud Stein, auch Picasso, Buñuel, Dali und viele andere Berühmtheiten aus dem Paris der 1920er Jahre. Schon in dieser verkürzten Inhaltsangabe lässt sich erkennen, wie die Bestimmungen des Aristoteles transformiert werden. Das Poetische dieses Films zeigt gerade das Unmögliche – unmöglich nämlich gemäß unserer Erfahrung, dass wir keinesfalls nach Belieben mit Toten auf eine Party gehen können, sonst würde ich gerne einmal Platon, Cicero und Beethoven zum Essen einladen. Das Historische des Filmes ist in einer gewissen Hinsicht korrekt: diese Figuren existierten, aber eben nicht so, wie sie dargestellt werden. Darum wandert hier das Historische ins Poetische hinüber: so könnten möglicherweise Hemingway, Picasso und Dali ausgesehen, gesprochen, agiert haben – ebenso, wie es Gil fingiert.

Die Intertextualität des Filmes besteht also nicht nur in einer Montage von Zitaten, Literaten, Musik und Bildern, sondern auch in einer Mythopoetik, in einer kreativen Umgestaltung zu Metaphern und zu einer (kleinen, es folgt ein großes Wort:) Metaphysik. Im folgenden Zitat mag Literatur wieder durch Film ausgetauscht werden: Nach Gamm, Nordmann und Schürmann ist Literatur nämlich eine bessere Metaphysik, „[…] weil sie es sich von Anfang an aufgrund ihrer Performativität und Fiktionalität erspart, intentio recta die Dinge erfassen zu wollen.“[10] Dieses Nicht-Propositionale, diese Unschärfe erzeugt eine Art offenes, audiovisuelles Kunstwerk. Dies wird durch folgende Verfahren erreicht:

a) Gattungsmix

Ein klassisches Motiv des Horrorfilms, die Geisterstunde, wird für Gil das künstlerische Paradies schlechthin; ein klassisches Motiv des SF-Films, die Zeitreise, wird für Gil die Katharsis – eine therapeutische Reinigung von bedrohlichen Affekten, die letztlich den Selbstverlust bedeuten würden; ein klassisches Motiv des Epos (von Homer über Vergil zu Dante), die Reise in das Totenreich, wird zu einer Reise aus dem Reich des geistig-kulturellen Todes seiner Gegenwart. Doch es gibt keine Erklärung für die Zeitreise, nur Anleitungen, wie sie funktioniert: Gil muss genau um Mitternacht an einem bestimmten Ort in Paris sein, eben ein Chronotopos. Kein mad scientist oder irgendein Horrorwesen stehen im Hintergrund und führen Regie (außer Woody Allen). Diese Leerstelle bleibt unbesetzt – ist aber gerade der deus ex machina, der die Handlung überhaupt erst in Gang setzt.

b) Mythologie

Gil ist Orpheus, der Dichter: Literatur vermag, Unmögliches möglich zu machen, nicht nur Steine und Tiere durch Gesang anzulocken, sondern z.B. auch durch die Zeit reisen! Und auch eine Peripetie scheint gegeben: Adriana (Anagramm zu Ariadna), Geliebte von Picasso wie Hemingway und Gils Muse, entscheidet sich, in ihrer Traumepoche zu bleiben z.B. mit Edgar Degas im Maxim, während Gil sich umwendet (Peripetie) – in seine Gegenwart hinein. Er verlässt Adriana zwar traurig, kommt aber nicht wie Orpheus tragisch um, sondern gestaltet sein Hier und Jetzt, weil das Dort und Damals den fernen Toten gehört.

Es gibt auch verschiedene Fährleute, die Charon ersetzten, z.B. T. S. Eliot; und der Kahn ist: ein Auto. Ebenso findet sich hier natürlich auch der antike Mythos von den vier Zeitaltern wieder, in denen das goldene das verlorene Paradies, das eiserne hingegen die destruktive, ungeliebte Gegenwart darstellt.

c) Real versus fiktiv?

Es wäre zu leicht, Midnight als romantisches Märchen abzutun. Obwohl der Film ein wenig vom Postulat Schlegels nach einer Universalpoesie beansprucht – mit einer Interaktion und Interferenz der Gattungen, die bisweilen weit über die Möglichkeiten eines Romans hinausgehen. Romantische Sympoesie wird performativ umsetzbarer in Synästhesie: während ein Text nur von Musik und Bildern und Städten schreibt, können wir im Film hier diese hören und sehen. Midnight spielt, weit über das Bühnentechnische hinausgehend, mit Konfigurationen von Raum und Zeit: neben den verschiedenen Epochen bewegen sich die Akteure in Hotels, auf Flohmärkten, in Versailles, vor Rodins Denker, auf einem Jahrmarkt und und und … Hugo Münsterberg bemerkte schon 1915: „[… Das Lichtspiel] zeigt uns weit mehr, als uns jede Bühne zeigen kann, oder genauer, es zeigt uns etwas grundsätzlich anderes. […] Das Kino erlaubt eine Geschwindigkeit des Szenenwechsels, wie sie kein Bühnenregisseur nachahmen könnte. […] Es ist, als seien die Naturgesetze überlistet worden, und durch diese Befreiung des Raumes wird eine Freiheit eröffnet, die der künstlerischen Phantasie neue Flügel verleiht.“[11]

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Exkurs

Gil, in einer Bar mit Dali, Buñuel und Man Ray; er gleite durch die Zeit. Man Ray: „Völlig korrekt. Du bewohnst demnach zwei Welten. Bis jetzt ist da nichts Seltsames dran.“ Gil: „Na, ja. Ihr seid Surrealisten, aber ich bin ein normaler Kerl.“[12]

Diese Überlistung der Naturgesetzte dient hier nicht einer tricktechnischen Effekthascherei, sondern zeigt performativ genau das, was Fiktionen leisten können. Dabei wird die Referenz zur Gegenwart beibehalten, denn hymnische Literatur-Romantik und schwelgende Paris-Nostalgie werden kritisch gebrochen durch Kommentare zum Irak-Krieg und zur Tea-Party, privat durch den Konsumismus der Schwiegermutter, das Misstrauen des Schwiegervaters (er heuert einen Privatdetektiv an, um das ständige Verschwinden Gils zu klären – eine Parallele zu „Mr. Big“); dazu das Betrogenwerden durch die Verlobte mit einem akademischen Besserwisser. In einem Museum kommt es zu einer paradoxen Situation: der Handbuchgelehrte kollidiert mit Gil, der nämlich ein Picasso-Gemälde authentischer interpretieren kann als jener, weil er Picasso und Gertrud Stein eben ja aus erster Hand kennt und mit ihnen schon über dieses Bild diskutiert hatte.

Die fiktionale Vergangenheit beeinflusst die reale Gegenwart. Auch wird Gil Buñuel auf einer Party ein interessantes Filmprojekt vorschlagen, das diesen erst einmal sehr irritiert (später soll daraus „Der Würgeengel“ entstehen). Und durch Zufall kauft Gil in der Nähe von Notre Dame ein Buch von Adriana, das die Geschichte über ihre Liebe zu ihm enthält – eine Zukunft, die aus Sicht der Autorin Adriana schon längst Vergangenheit ist, die aber im Laufe des Filmes aber noch stattfinden wird. Die Figuren durchlaufen Metamorphosen, sie werden selbst Intertexte. Die realen und fiktiven Geschichten konvergieren. Real und fiktiv werden darum als Zuschreibungen kaum noch mehr haltbar sein.

d) Biographie?

Wenn dagegen eine historisch genaue Biographisierung der Figuren eingeklagt wird („Like Pound and Eliot, Stein supported Franco.“[13]), ist dieses Anliegen nach meinem Dafürhalten genauso berechtigt, wie es im gleichen Maße das Ziel verfehlt: Es handelt sich in Midnight um idealisierte Figuren: Fiktionen, Projektionen, Konstruktionen, die psychologische, therapeutisch-pädagogische Funktionen übernehmen. Hemingway ist beispielsweise der Psychopompos in Sachen übersteigerter Männlichkeit und Beziehungsberater, Stein die perfekte Mäzenin und Lektorin, Adriana die selbständige Muse und Gils romantisches Pendant und Eurydike usw.

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Fiktion und Ethik

Gil durchläuft einen Initiationsritus: weg vom Hollywood-Drehbuchautor zum Schriftsteller, weg vom Betrogenen zu einer neuen Beziehung; am Ende steht sein emphatisches Ja zum Paris seiner Gegenwart. Gil verändert sich vom neutralen Beobachter oder passiven Gegenstand seiner Braut und Schwiegereltern in spe zum aktiven Erzähler seines eigenen Lebens, zum authentischen Urheber der eigenen Lebensgeschichte, indem er die Möglichkeiten, die ihm seine Fiktionen eröffnen, selbstverantwortet ergreift, während Adriana wählt, in ihrem goldenen Zeitalter zu verbleiben. Natürlich spricht hier Woody Allen durch sein alter Ego, wenn Gil in der Belle Epoque z.B. Antibiotika vermisst. Aber Gils Erkenntnis reicht tiefer; er und auch Adriana, drohen abzustürzen in einen infiniten Regress der Verklärungen: vielleicht sei ja für Degas und seine Freunde die Renaissance das ideale Zeitalter usw.? Hier wird die Abstiegsdynamik der vier Zeitalter relativiert: jedes scheint wünschenswert und defizitär zugleich – je nach Geschmack. Und wenn Adriana eine autonom agierende fiktionale Figur ist, die sich auch zwischen den Zeitaltern entscheiden kann, dann, so die ontologische Schlussfolgerung, trifft dies ebenso für Gil und seinen vermeintlichen Realitätsstatus zu! Gil, vermeintlich vertrautes Koordinatensystem für uns Zuschauer ist im gleichen Maße real wie fiktiv.

Viel wichtiger scheint mir dagegen die Frage nach der Freiheit zu sein: Gil und Adriana vollziehen den Abschied von der Heteronomität in die Autonomität hinein. Fragmente der Vergangenheit werden spielerisch zu neuen Sinngefügen zusammengesetzt werden, eben um die Wahl der Freiheit zu ermöglichen, ein Motiv aus der Philosophie von S. Kierkegaard, wie der Theologe Th. Pröpper betont: „[…] Kants Begründung der Ethik, die wie keine andere auf Autonomie und unbedingte Geltung bedacht war, hing doch von einer Voraussetzung ab: vom Entschluß der Freiheit zu sich selber, von der – wie es Kierkegaard später nannte – »absoluten Wahl«, die als Wahl der Freiheit der Freiheit der Wahl vorausliegt und den Unterschied von Gut und Böse allererst eröffnet.“[14]

Die durch die Peripetie initiierte Katharsis befähigt zu einer Entscheidung, diese führt zu einem bewussten Leben. Diese Katharsis ist erkenntnisleitend wie existentiell aufgeladen – im Sinne Henrichs: „Das Kunstwerk jedoch, und jedes Kunstwerk, organisiert um eine Fiktion ein imaginäres Ganzes, das seine Natur um so offener legt, je wirksamer die Signale sind, die seine fiktive Natur im Bewußtsein halten. Es stellt gerade damit dieses in der Fiktion selbst schon begrenzte Ganze, das es ist, in den eigentlichen Bereich der Wirklichkeit unseres Lebens, der durch Fiktionen so wenig wie durch Erkenntnis aufzuschließen ist. Gerade indem es offenlegt, auf Fiktion zu beruhen, verdeutlicht es indirekt die Ungegenständlichkeit dieser Wirklichkeit. Und sofern es aus bewußtem Leben selbst kommt und auch bewußtes Leben in ihm selbst erreicht, kann es in diesem Leben ein Bewußtsein davon freisetzen, was in Beziehung auf solche Wirklichkeit der Weg und die Aufgabe der Selbstverständigung von bewußtem Leben ist.“[15] Dieser Doppeldimensionalität von Wirklichkeit in der Deutung Henrichs, die durch Fiktion so wenig wie durch Erkenntnis aufzuschließen sei, wird in anderer Weise durch eine weitere Doppeldimensionalität im Sinne von Wolfgang Iser ergänzt: „Inszenierung wäre dann der unablässige Versuch des Menschen, sich selbst zu stellen […]. Die Inszenierungsnotwendigkeit bleibt letztlich von einer Duplizität durchherrscht, die diskursiv nicht aufzulösen ist. Gestattet die Inszenierung, wenigstens in der Vorstellung ein ek-statisches Leben zu führen, indem der Mensch heraustritt aus dem, worin er ist, um sich das zu erschließen, was ihm sonst verwehrt bleibt? Oder spiegelt sich in der Inszenierung der Mensch als die immer schon aufgebrochene »holophrase«, um unentwegt durch die Möglichkeiten seines Andersseins zu sich selbst zu sprechen, weil Sprechen immer auch ein Befestigen ist?“[16]

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Passage und Transformation

Der Beobachter konstruiert das Beobachtete. Persönlich: ich habe in Paris Monets Seerosen gesehen, kenne die Filme von Buñuel, die Gedichte von Eliot, Dalis Bilder, bewundere und genieße Woody Allens Filme usw. Die Momente der Anagnorisis, der Wiedererkennung aus einem kulturellen Weltwissen heraus, sind vielfältig und komplex: Der sich anfänglich als Touristenguide gerierende Film erfordert in seinem Verlauf eine immer höhere Dekodierungsleistung, obwohl Midnight auch ohne diese sehr gut funktionieren kann. Die Bücher, die Kunstwerke, die Musik sind metonymisch Personen und umgekehrt. So entsteht ein unüberschaubares Netz von Verweisungen. Am Ende der Metaerzählungen, in einem nachmetaphysischen Zeitalter bleibt in Woody Allens Film ein Lob der Fiktionen, ein Lob der Polymythie[17].

Gil durchläuft einen rite des passages im Sinne A. von Gennap, einer Denkfigur, die sich von Viktor Turner bis Erika Fischer-Lichte in den Kulturwissenschaften etabliert hat: „[…] 1. die Trennungsphase, in der der/die Transformierende(n) aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden; 2. die Schwellen- oder Transformationsphase; in ihr wird/werden der/die Transformierende(n) in einen Zustand »zwischen« allen möglichen Bereichen versetzt, der ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglicht; 3. die Inkorporationsphase, in der die nun Transformierten […] in […] ihrer veränderten Identität akzeptiert werden.“[18] Dieses Muster von Liminalitätserfahrungen entstammt zwar der Ritusforschung, wird aber in Midnight quasi säkularisiert und individualisiert – ein Bildungsroman im Filmformat: keine Großerzählung, kein Monomythos einer Kultur oder Religion steuert im postmodernen Paris eines Woody Allen via Ritualisierung den Prozeß solcher Initiationen, die ja auch nicht in eine neue, aber dennoch schon vorgegebene gesellschaftliche Kategorie bzw. Rolle führen soll. Gil trennt sich von seiner Familie, experimentiert in einem Möglichkeitsraum, findet dann seinen Weg, indem er seine eigene, neue Identität akzeptiert.

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Epilog

Was hier ausgeklammert wurde: eine Kritik der Fiktionen. Wir Menschen sind unheilbar an Fiktionen erkrankt oder in sie verliebt, in dieses Als-ob, im Guten wie im Schlechten. Für die Fiktion des Nationalismus mussten Millionen sterben, ebenso für religiösen Wahn. Gesellschaften geben Unsummen für das delectare der Medien und des Sportes aus, dahinter verschwindet das prodesse des Bildungssystems; und Institutionen umzäunen sich allzu bereit autoimmunisierend mit der Aura eines quasi-sakralen „Fiktionspanzer[s]“[19], um desaströse Täterschutzprogramme durchzuführen usw. Im Filmuniversum Allens könnte beispielsweise „Blue Jasmine“ als Gegenentwurf gelesen werden: die Hauptakteurin weigert sich bis zum Ende des Films (das ein Darüber-Hinaus signalisiert), trotz katastrophaler Ereignisse in ihrem persönlichen Umfeld, Verantwortung zu übernehmen und sich von ihren Fiktionen zu verabschieden, die als Selbstillusionen hohes Verdrängungspotential aufweisen: ihr Ehemann nämlich agierte als Betrüger in der amerikanischen Finanzkrise; und sie hat es nicht sehen wollen um des luxuriösen Lebens willen, das sie führte.

Midnight ist ein Film von einem Autor über die Genesis eines neuen, möglichen Autors, ein Film aus Leidschaft, ein wunderbares delectare und gleichermaßen philosophisch (prodesse), aber in einer gewissenweise ohne System: weitere Analysen müssten den Begriff der Fiktion schärfen, die ethischen Fragen erhellen, die damit verknüpft sind und die nach Dieter Henrich immer irgendwie in einer Metaphysik verankert sein sollten, so dass wir zurückkehren können zum Beginn und Allens herausfordernder Suche nach Inhalten in Kunst, Philosophie und Religion. Die Fiktionen in Midnight haben die Horazisches Funktion: anstelle von … sein, um experimentelle Lebensentwürfe durchzuspielen, die letztlich als Ausdruck bewussten Lebens zu den eigenen transformiert und angeeignet werden können, z.B. der Frage nachgehend: wie werde ich ein guter Schriftsteller, ein guter Künstler?

Markus Pohlmeyer, Europa-Universität Flensburg

[1] Beide Zitate: V. Hösle: Woody Allen. Versuch über das Komische, München 2001, 13.
[2] Hösle: Woody Allen (s. Anm. 1), 98.
[3][3] W. Allen: Mr. Big, in: Ders.: Alles von Allen. Storys, Szenen, Parodien, übers. v. B. Schwarz, 4. Aufl., Hamburg 2008, 133-144.
[4] Q. Horati Flacci Opera, hg. v. H. W. Garrod, Oxford 1986, 263 (ars poetica, 333 f.).
[5] H. M. Enzensberger: Scharmützel und Scholien. Über Literatur, hg. v. R. Barbey, Frankfurt am Main 2009, 358.
[6] P. Ricœur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Texte zur Theorie des Textes, hg. v. S. Kammer – R. Lüdeke, Stuttgart 2005, 187-207, hier 196 f.
[7] Ricœur: Text (s. Anm. 6), 194.
[8]F.-J. Albersmeier: Einleitung. Filmtheorien in historischem Wandel, in: Ders. (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, 5. Aufl., Stuttgart 2003, 3-29, hier 6.
[9] Aristoteles: Poetik, gr./dt., übers. u. hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1993, 29.
[10] G. Gamm – A. Nordmann – E. Schürmann: Philosophie und Literatur, in: Dies. (Hrsg.): Philosophie im Spiegel der Literatur, Hamburg 2007, 5-9, hier 8.
[11] H. Münsterberg: Warum wir ins Kino gehen, in: D. Liebsch (Hrsg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte, 2. Aufl., Paderborn 2006, 27-36, hier 30.
[12] Zitiert aus: Midnight in Paris, Drehbuch und Regie Woody Allen, © 2011 Concorde Home Entertainment GmbH.
[13] Vgl. dazu K. Fusco: Love and Citation in Midnight in Paris. Remembering Modernism, Remembering Woody, in: A Companion to Woody Allen, hg. v. P. J. Bailey – S. B. Girgus, Wiley-Blackwell 2013, 294-317, hier 306.
[14] T. Pröpper: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, 3. Aufl., München 1991, 24.
[15] D. Henrich: Versuch über Fiktion und Wahrheit, in: Ders.: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 139-151, hier 151.
[16] W. Iser: das Fiktive und Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1993, 515.
[17] … im Sinne von O. Marquard.
[18] E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2014, 305.
[19] A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2012, 324.

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