Geschrieben am 5. August 2019 von für Litmag, NATUR Special, Specials

Gedichte unter freiem Himmel

Foto © Ludwig Fischer

Gedichte von Ludwig Fischer, Ingrid Mylo, Roland Oßwald, Markus Pohlmeyer und Monika Geier featuring Christian Morgenstern

Zweige im Haar

Wer sprach
vom bitteren Schatten des Nußbaums?
Als wir mit Himbeeren wiederkamen,
vom Wald, und mit Holzböcken,
stolz auf die Kratzer,
verschmierte Lippen, Zweige im Haar,
als wir über Juckpulver lachten,
über Fahrradstürze, verlorene
Halmaspiele, als wir so taten,
als hätten Zettel unter der Schulbank
nichts zu tun
mit Verrat, nichts mit Tränen.
Schon damals. 
Schatten und Schmerz.
Und die Schärfe,
die sich verliert mit
den Metern, mit den Minuten.
Dort, wo die Grenze des Dunklen
nur noch ein Tändeln ist mit der Vegetation,
läßt sich vergessen,
woher die Traurigkeit rührt.

© ingrid mylo

Fernwo: Lupinen

Einst werden Gärten
zwischen den Worten liegen,
auf Asphalt und Abfallhalden:
und niemand wird
den Wind im Rittersporn hören.

Ein Sturzregen bösartiger Bilder,
Wissen und Wahn und
falsches Spiel und unter
den Fingernägeln der Zorn
aufgekratzter Schädel.

 „Lösch die Welt“,
sagt sie, selbst der
Tollkirschen müde.

© Ingrid Mylo

  • Die beiden Gedichte sind Ingrid Mylos im Herbst 2020 erscheinenden Gedichtband „Überall, wo wir Schatten warfen (edition AZUR) mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen. – Ingrid Mylo bei CulturMag hier.

kosmica

I
Tiresias

schaust du es an
ist er mann,
schaue ich es an,
ist sie frau,
schließ die augen:
dann
ist sie,
ist er
kind, das alles
sein kann: eine
haltung gefalteter
hände zum
hineinlegen von
gaben oder zu
der geheimnisse
verteilung,
öffne die augen:
des kindes bild
ist fort –
und da: leere,
eingerahmt von
leere

II
Ovid

am strand von malaga,
architektenmauer:
ein festes, auf dem wir stehen,
während unsere sehnsucht
rasch mit dem fliehenden
horizonte davonfliegt.
schaumkronen zerplatzen,
die wellentäler ziehen
mich sirenenhaft in
die ausweglose tiefe:
lass dich fallen:
säuselt amor,
einlullend, des
todesgottes anderes
gesicht; da, eine
möwe, kreischend,

erwachend erkenne
ich, dass ich so
traumlos tief schlief,
die architektenmauer
ist nur noch ein kreis
im raum, der kollabiert
auf die möwe zu und
amor und die sterbende,
abendliche sonne.

die körner der sanduhr:
sie fallen nach oben,
meine hand ist mauer
und welle: ich bewege
die mauer, und halte
die welle, bis ich sie
beide wieder lasse.

Auf Einer Meeresmauer
In Madeira, Wo Der
Sanduhr Körner Nach
Unten Rieseln:
Langsam, Langsamer …

III
Indra

Der die Meere schuf
Und das Wandern
Der Kontinente,
Die Vulkane in der
Höhe und in der Tiefe,

Das, ihr Menschen,
Ist der Kosmos.

Der unter dem Eis
Das Leben schuf,
Und die Vielfalt
Weckte und des
Hauses Bauplan legte,

Das, ihr Menschen,
Ist der Kosmos.

Der zum Gehen an Land,
Der zum Fliegen dazwischen,
Der zum Dichten hervorrief,
Verkündet es hier:

Das, ihr Menschen,
Ist der Kosmos.

Er, der Verse verwirft
Und ganze Strophen,
Neue Metren
Findet, Bindet,
Löst. Ein Sänger,
Blind, verbannt, in
Die Unterwelt, aber die
Toten dort nicht
Vergessen macht
Bei uns.

Das, ihr Menschen,
Ist der Kosmos.

Nur der Blinde sieht,
Und vollendet
Das Unvollendbare,
Nur der Verbannte
Kennt alle Orte
Und Nicht-Orte,
In vielfältiger
Ausfaltung der
Einfaltigkeit:

Das, ihr Menschen,
Ist der Kosmos.

  • Aus: Markus Pohlmeyer: Als ich zu den Sternen ging. Zweiter Teil. Gedichte. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Band 12. Igel Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2018. 112 Seiten. – Mit freundlicher Genehmigung von Christina Schmidt-Hoberg und des Igel Verlags. – Seine Essays und Gedichte bei CulturMag hier.
Aus Korbinian Aigners  „Äpfel und Birnen. Das Gesamtwerk“, Reihe Naturkunden Nr. 4, 2013

Pomologie

was, beim Teufel, diesen einen Apfel, himmelwärts
da ins Geäst gehängt, und röter, matt im Nebel,
leuchtend, fast ein Herz die Sorte, Herbstlaterne 
am entblätterten, gewissen Baum, als sei der Kiesweg, nasser
Glanz, wozu die Scham? gleich offen liegend jenes
Gartenbett, die schnelle Nummer, wie es knirscht,
das Obstgelände die Erotikmeile, und das Versprechen: 
kostenlos, einander zu erkennen, aber in der Höhe
nicht mit bloßem Arm zu greifen, jetzt noch hält,
da oben hält am Stiel, der Sollbruchstelle (Sela)

unerreichbar also diese eine, ganz prosaisch hinge-
keuchte Episode? als wäre nicht, die Wahrheit, längst
zum Teufel all die früh gefallenen Früchte, der
überkluge Wurm die kleine Raupe bloß des Apfelwicklers,
und jener schwebte ganz in Unschuld, rein genießbar,
ohne Biß gereift, da oben, wo sie sich umflattern, so
spät im Jahr, wie es die Art ist, noch begatten, 
wem gilt, von gut und böse, denn das alte Lied? (Sela)

mit einer neuen Strophe, wenn er fällt, von Gier gerüttelt
einer Amsel beispielsweise, und im Gezweig verlischt
das lockende Symbol, als wüßten wir, was zu erkennen
uns zueinander treibt, der angebissne Apfel, umgezüchtet,
mag uns auch noch so leuchten, schneller, als wir denken
können, das Paradies aus dem Verlorenen zitieren, im Garten
also hängen wir die Duftstoffallen, den schwärmerischen
Apfelwickler zu verwirren, ins Geäst, Betrug an der Begierde,
und doch, wir fassen schnüffelnd uns, wer redet nicht so
ahnungslos, seit jeher lenkt uns, wie wieder gänzlich nackte
Geschöpfe, an unsere eigene Nase, das erotische Organ,
im Herbstlicht, über uns, die wir im nassen Gras uns wälzen
würden, die unscheinbaren Teufel flattern in der Krone, wir
sehen, was uns von neuem narrt, und stöhnen, winzige Engel (Sela)

© Ludwig Fischer

Mahd, die sechste

nur das verrauchte Wasser, schwebend, aber
sage ich: das stieg aus den geschorenen Halmen?
ein heller Streif dort vor dem Wald, still, bis ich
ein Wort erkenne: Dämmerungslagune, abkühlend
nur der Atem einer Wiese, oder Wundgas
soll ich schreiben? vorgestern der Novemberschnitt,
anderntags in Schwaden, angewelkte, dünne
Zeilen, heute: das Raubzeug, stählern, jault, jagt’s
durch das Gebläse, Abtransport, die Nässe
in den tiefen Grätenspuren, zum Berg in diesem
Flachland, der vergärt, milchsauer. Bis in den Schlaf
die Turbofuder, sangen: die fünfte, was zähle ich!
die sechste Strophe des zerdehnten Sommers, Süd-
südwest, das Wärmewunder über aller Toten Feier-
tag hinaus: verirrte Falter, Nachblüte an den Zäunen,
nur abends mit dem alten Lied, dem unverstandenen,
dagegen, dem Frösteln, der Wiederkehr von Nebelgeistern,
von Schweifen Lichts, der Stimme, ortlos, automatisch,
Zwischenruf des Äthers, die uns warnt, die Melodie

anders die Innenschaltung, das Verwachsene, beharrlich
wispernd, wie aus dem Hingezauberten, dem liegenden
Gewölk, Tanz der Verblichenen, daß ich im Dunst, im
Hinterleuchteten die Nachricht, am digitalen Epitaph,
noch einmal buchstabieren muß: die Behauchten,
verrenkt zum ahnungslosen Sterben in zwei ganzen
Atemzügen, der glasklar hingeflossene Geistersee, was
wird diktiert: Gebräu aus dem zerhäckselten Gedärm
von Schweinen, Tankfahrzeuge, hinterm Dorf, vier
Männer wie gefällte Bäume? noch immer dieses Glimmen
in der Landschaft, bodennah, qualmend wie
Trockeneis, vorchristliche Kulisse: was wird das
für ein Vers? die mißverstandene Erscheinung, weißlich,
der Natur, das Gras, das nie mehr blüht mit Rispen, nie
Körner trägt, das wolle selbst geschoren sein, ganz
kurz, die sechste! Schweigend nur der Wald

als leuchtete das Faulgas mir bis in den Kopf,
und nicht, der fehlt, der übergroße Mond, der
Bronzekuchen, der hinter Bäumen festhängt, wie
im Aberglauben, in der Elfenstunde, und ich wäre
schon erfüllt vom Unsichtbaren, der süßlichen
Ausdünstung toter Seelen: daß sie noch dichten!
kröche zum Rand hin, über die harten, abgemähten
Halme, die weggeräumten Zeilen, hörte mich, wieder
und wieder: dieser Wiesenatem, feucht und wunderbar!
ich habe sie gesehen! so als ob sie schliefen, nebelgleich

© Ludwig Fischer

III   Tutti, im Freien (uni sono)

Zugabe, draußen, wenn man ins Maiendunkel geht,
das Restlicht fließt am Horizont ins Meer, verklumpt
die finstren Schatten großer Bäume, kühl
haucht es die Netzhaut an, ein feines Knirschen
in den Nackenwirbeln, wenn das Gehör auf Ortung dreht

denn drüben, im verbotenen Wald, muß das schwarze Glas,
der Nachtschliff eines Tümpels liegen, polierte
Pfütze, ein Spiegel himmelwärts für diesen Ton
aus hunderten von Tönen, der nicht aufhört, 
wie um das Weltall aufzufüllen, vor allen Harmonien

Störsender wird das Hirn in seiner Kapsel: du hörst
den Balzlaut kleiner grüner Frösche, der Wettbewerb
um Gunst und tagelange Umklammerung, sie können
Wasser riechen, kilometerweit, und schwimmen
auf dem aufgeblasenen Bauch, dem Kehlsack, ihrem
Instrument, und kommen nie zum Anfang einer Melodie

bis Mitternacht und länger, wäre zu erwarten, immer
neu der Ansatz ungezählter Kehlen, stimmen sie sich ab
auf die Frequenz, nie ein perfektes Unisono, nie
sphärenrein, nie endend in der Stille vor
dem Einsatz, chorisch, die Partitur des einverleibten
Hymnus der Begattung, den wir nicht hören könnten. 
So füllen sie die Stunden mit der Vorbereitung, dem Abgleich
ihrer Stimmen, um den einen, den vollkommenen Ton
bis zum Zersprengen zu senden ihrer Leiber, als säße
irgendwo im schwarzen Raum schon die eisige,
erbarmungslose Jury, die kleine Ewigkeiten zuteilt

© Ludwig Fischer

Seegrund

da taucht einer, prustend, vom Grund her,
auf, Schlamm zwischen den Zehen, Entengrütze
im Haar, zieht am hängenden
Ufergestrüpp sich hoch und lästert,
wem gehöre dieser geöffnete, dieser grün gefüllte
Wasserkopf, samt Molchen und Weißfischen,
ruft schräg in den Himmel, frei
sei also das Gefäß, randvoll und spiegelnd

und er, noch jungstark, greift, den Helden
bei der Arbeit erheitern, mit Wort-
gewalt in die Landschaft, reißt
am Bewuchs (daß dies Wurzelwerk zusammen-
hält!) hoch die ganze, schwappende
Mulde, an den Mund, wie
ein barbarischer Fürst, Kriegs-
herr (eine Sage auch das), der die Fische lebendig
verschlingt, die zappelnden, hellbäuchig
zappelnden Leiber

leert, vor aller Augen: gekonnten Schwungs
den See, auf einen Zug, die schartige Schüssel wie
den scharfkantigen, aufgebrochenen Schädel
des Feinds, daß er auf den Grund käme,
den schlammigen, wo es dachte, denn so,
denkt er, bin ich die Reuse selbst, Wal-
verwandter, und klüger als alle
die Fische, die ich gemächlich verdaue

säuft also und säuft, säuft und gröhlt
dabei gurgelnd noch Verse. Schon läuft es,
das war der Sinn, durch ihn hindurch,
er pißt eine Flut, schlimmer als
Gargantua zu Paris, in die Stadt,
und füllt sich den Magen

Die Herren des Friedens kommen aber
mit Wasserrecht, und roh sei die Landschaft
ganz ungenießbar. Es läge doch eingetieft
und spiegelnd der See (Einschlag vom Himmels-
körper, abgelenktem, aufgefüllt). Da
solle er ausreißen das Geschriebene und hinunter-
schlingen, nachspülen, Bier genug, barbarischer
Dichter, hätte also was zu verdauen

(Schreibt Karl Mickels Gedicht ‚Der See’ weiter. Als Mickel das Gedicht veröffentlicht hatte, traf ihn 1963 ein mehrjähriges Publikationsverbot in der DDR. © Ludwig Fischer)

Foto @ Ludwig Fischer

Erdbeben in Bayern

In steinernen Öden
ziehen wir den Hut
und grüßen Phantasien,
während der Boden bebt.
Weiße Fahnen treiben
unter einer blauen Decke
über unseren Köpfen.
Dunkle Fäden ädern
die Erdschollen im Untergrund,
in dem Schädel treiben,
Millionen Kreaturen trampelnd
zu ertragen.

Wurzeln schlagen ins nasse Braun,
windend ihre Wege zu erkämpfen,
brechen Stein und nähren Leben.
Und die Tiere jagen mit Wut
über den Hunger im Bauch
nach dem nächsten Mahl,
während der Wind durch
trockenes Geäst raspelt.

Und wir stellen den Kragen hoch
und fahren fort
keine Zweifel zu finden.

© Roland Oßwald

Seine Texte bei CulturMag hier.

Monika Geier empfiehlt Christian Morgenstern

Es gibt ja diese Ohrwürmer-Gedichte, die dich immer begleiten. Einmal gelesen oder gehört, vergisst du den Text nie wieder.  Für mich ist so ein Gedicht „Philanthropisch“ von Christian Morgenstern. Es handelt vom Umgang mit einer Wiese. Dieses Gedicht war mir schon oft ein Wegweiser, erstens, weil ich viel mit Wiesen zu tun habe, und zweitens, weil es auch insgesamt Verhältnisse zurechtrückt. Es ruft weder dazu auf, Insektenhotels zu bauen, noch den Garten zuzuschottern. Es erklärt dir nur einfach, dass du mal kurz rausgehen solltest, wenn du gerade nicht fähig bist, das Paradies zu ertragen. 

Philanthropisch

Ein nervöser Mensch auf einer Wiese
wäre besser ohne sie daran;
darum seh er, wie er ohne diese
(meistens mindstens) leben kann.

Kaum daß er gelegt sich auf die Gräser,
naht der Ameis, Heuschreck, Mück und Wurm,
naht der Tausendfuß und Ohrenbläser,
und der Hummel ruft zum Sturm.

Ein nervöser Mensch auf einer Wiese
tut drum besser, wieder aufzustehn
und dafür In andre Paradiese
(beispielshalber: weg) zu gehn.

Christian Morgenstern

  • Monika Geier lebt in der Pfalz, wo sie die Sitten und Gewohnheiten der pfälzischen Stadt- und Landbevölkerung literarisch aufbereitet. Sie studierte Architektur und hat drei Kinder (der dritte Sohn kam parallel zum fünften Kriminalroman). Für ihr Debüt Wie könnt ihr schlafen erhielt sie den Marlowe, den Krimipreis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. Mit Bettina Boll schuf sie die erste Halbtags-Kriminalkommissarin des Genres und wird immer weiter ausgezeichnet, so etwa mit dem Deutschen Krimi Preis für Alles so hell da vorn. Jeden ersten Samstag im Monat schreibt sie eine Kolumne namens „Geiers Giftlabor“ in der Pirmasenser Zeitung, in der sie sich mit einheimischen, nicht ganz ungefährlichen Pflanzen beschäftigt. 

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