Nina Ballerina und der Abgrund
– Von Henrike Heiland. Natürlich sitzt man immer wieder mal mit Leuten im Kinosaal, die eine vollkommen falsche Erwartung an das haben, was auf der Leinwand gezeigt wird. Manchmal stehen diese Leute auf und gehen unter gemurmeltem Protest. Manchmal bleiben sie sitzen, schlafen ein oder hoffen, dass doch noch alles ganz anders wird, es ist schließlich ein Film, da weiß man nie. Im Blankeneser Kino blieben sie bei Darren Aronofskys „Black Swan“ höflich und hoffend sitzen, die Getäuschten, um am Ende ausreichend verstört ins beruhigende Hell zu taumeln. Wäre das Blankeneser Kino kein kleines Programmkino mit Stammpublikum, hätten sich die Verstörten vielleicht schon deutlich früher aus dem Staub gemacht, aber so hatte sie wohl eine Art Pflichtgefühl im Sessel gehalten.
Ich weiß nicht, warum jemand auf eine Neuverfilmung von „Anna“ hofft oder so etwas wie „Billy Elliot“ erwartet, wenn „Ein abgefahrener, psychosexueller Thriller“ auf dem Plakat steht. Aber die Aussicht auf „Schwanensee“ lässt einen wohl so manches ausblenden, was auf Werbemittel gedruckt ist, und Ballett ist Kultur, Thriller verspricht eine Leiche, was kann da schon schiefgehen.
Offensichtlich eine Menge, denn auf die blonde Anna, die für die Schulaufführung probt, um dann ganz groß rauszukommen, wartet man vergebens. Natalie Portmans Nina will den weißen und den schwarzen Schwan tanzen, will Plakate mit ihrem Gesicht am Gebäude sehen, will perfekt sein. Die Story ist simpel: Eine als Tänzerin gescheiterte Mutter, die natürlich nur deshalb scheiterte, weil sie schwanger wurde, tut alles, damit Tochter Nina ihren Traum verwirklicht. Sie verhindert, dass Nina erwachsen wird, indem sie normale Verhaltensweisen junger Frauen desselben Alters unterbindet. So geht Nina nie mit anderen aus, sie hat keinen festen Freund, wirkt verhuscht und frigide, ihre Allgemeinbildung ist mangelhaft, ihr Zimmer ein rosa Plüschkinderzimmer, zu dem die Mutter jederzeit Zutritt hat. Nina, die sämtliche Tanzfiguren perfekt beherrscht, will nun also die Hauptrolle und muss dafür aber erst die dunkle Seite in sich entdecken. Na ja, nicht nur entdecken, sondern auch ausleben. Erst dann, findet der Choreograph, kann sie auch den schwarzen Schwan tanzen, denn dabei geht es um Ausdruck, nicht um die perfekte Technik.
Die dunkle Seite hat ganz viel mit Sexualität zu tun, und der Film spiegelt sehr hübsch das Schwanenseemotiv des dunklen Zwillings. Gezeigt werden die Härte des Ballettalltags, der Umgang mit den Tänzerinnen und Tänzern, die Material sind, das weder ermüden noch altern darf, und alle Klischees vom Übertrainieren bis zur Magersucht.
Innerer Krieg einer Tänzerin
Aber das Schöne an dem Film ist: Es ist überhaupt nicht schlimm, dass die Story dünn ist und die Charaktere oberflächlich sind. Im Grunde ist das alles nämlich nur Staffage, nur Kulisse, um den inneren Krieg dieser Tänzerin zu zeigen, und dieser Krieg ist es, der die Leute verstört aus dem Kinosaal taumeln lässt. Es ist ein Krieg, den in dieser Ausprägung vielleicht nur noch klassische Musiker kennen, und das will man ja alles gar nicht so genau wissen. Ein bisschen, ja, aber nicht so genau. So, wie man nicht wissen will, welche Medikamente Glenn Gould jeden Tag intus hatte. Oder dass die Erste Geige der Staatsoper drei Mal die Woche zum Therapeuten rennt, um in der Lage zu sein, ihren Beruf auszuüben.
Leistungssportler kennen das harte Trainigspensum. Sie wissen, wie es ist, sich jeden Tag zu überfordern und bis zur körperlichen Erschöpfung zu trainieren. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wissen, wie es ist, gleichzeitig noch bis zur psychischen Erschöpfung zu proben und den Anspruch haben zu müssen, nicht nur die Technik zu beherrschen, sondern am besten auch noch gleich mit dazu die richtige Ausstrahlung zu haben, Leichtigkeit zu vermitteln, Magie zu verströmen. Muss das ein Fußballer beim Elfmeter? Klar, es kann vorkommen, dass er leichtfüßig und mit enormem Esprit hunderttausende Zuschauer verzaubert, aber muss er das draufhaben? Da reicht es, wenn er das Ding in den Kasten hämmert. Beim Tanzen reicht es nicht, im richtigen Moment an der richtigen Stelle hochzuhopsen.
Man denkt ja immer, der Laie im Publikum merkt die Unterschiede ab einem gewissen Leistungsniveau nicht. „Ich kann das nicht beurteilen“, sagen die Zuschauer gerne auch mal von sich selbst. Aber da bin ich mir schon lange sicher, dass das so nicht stimmt. Ich habe letztens erst eine Aufnahme von Lucia di Lammermoors Wahnsinnsarie, gesungen von einer x-beliebigen Stadttheatersopranistin, jemandem vorgespielt, der sagte: „Ich kann das nicht beurteilen.“ Er fand das ganz ordentlich, die Frau hatte immerhin alle Töne sauber getroffen. Ich spielte ihm als nächstes die Callas vor. Selbe Arie. Selbe Tonart. Jetzt weiß er, dass es einen Riesenunterschied macht, ob jemand nur die Technik beherrscht oder dazu noch große Kunst macht. Wobei „große Kunst“ nicht der richtige Ausdruck ist. „Magie“ klingt auch blöd. Aber es dürfte klar sein, was gemeint ist. Wenn die Callas die Arie singt, hat man eben nicht das Gefühl, dass sich da jemand Mühe gibt, viel geübt hat und alles sauber absolviert. Callas‘ Gesang wirkt so einfach und klar, und gleichzeitig reißt es einem das Herz raus, weil die Callas in dem Moment Lucia di Lammermoor nicht nur spielt und singt, sondern einfach ist. Die Callas ist wahnsinnig, sie hat gerade ihren Ehemann ermordet, wischt sich das Blut noch am Hochzeitskleid ab und wankt durch den Nebel ihrer Wahnvorstellungen, in denen sie den wahren Geliebten heiratet. Und so kämpft Portmans Nina eben darum, eins mit dem schwarzen Schwan zu werden. Den weißen kann sie schon, der ist sie längst, aber der schwarze …
Nach technischer Perfektion streben, bis der Körper streikt
Es mag ein weiteres Klischee sein, dass sogenannte „wahre Kunst“ nur entstehen kann, wenn der Künstler selbst zerrissen und abgründig und deutlich wahrnehmungsgestört ist. Aber Klischees kommen ja nicht von ungefähr. Deshalb wachsen Nina auch am Ende der Vorstellung Flügel, das ist eine tolle Szene, die zumindest im Blankeneser Kino nicht auf sehr viel Gegenliebe stieß. „Also ohne diese Spezialeffekte …“, so fingen hinterher die meisten Unterhaltungen an. „Ohne diese Spezialeffekte hätte mir der Film vielleicht gefallen können.“ Blödsinn. Die Visualisierung von Ninas Auseinanderbrechen und ihrer Verwandlung wäre dialogisch nun wahrlich fehl am Platz gewesen. „Oh Mutter, weißt du, als ich da auf der Bühne stand, da fühlte ich mich wirklich wie der schwarze Schwan!“ Äh, ja.
Wie sich die Wahrnehmung verändert, auch über einen längeren Zeitraum, ist in „Black Swan“ wunderbar dargestellt. Wie gesagt, klassische Musiker (ich war knappe 20 Jahre Pianistin) kennen das von sich selbst. Nach technischer Perfektion streben, bis der Körper streikt (sich abends zitternd am Badewannenrand festklammern und wundern, wo das wohl herkommt, ist erst der Anfang), um künstlerische Erleuchtung ringen, bis die Psyche streikt (Auftrittsangst, und ich meine nicht das übliche Lampenfieber, sondern wochenlanger selbstgemachter Psychoterror mit Folgen, von denen ein Bühnenblackout auf lange Sicht gesehen noch zu den harmloseren gehört). Meine Mutter hat schon komisch geschaut, als ich einmal nach dem Üben sagte: „Hast du denn nicht das Orchester gehört, ich hab das Orchester gehört.“ Wir waren zu Hause. Da gab es kein Orchester. Ich glaube, sogar Ninas Mutter, die verhinderte Primaballerina, hätte komisch geschaut, wenn das Töchterchen gesagt hätte: „Oh Mutter, ich fühlte die Flügel wachsen!“
Ja, all das zeigt der Film durchaus realistisch, sofern man bei der Darstellung von verschobener Wahrnehmung von Realismus sprechen kann, und wer auch nur einen Funken Abgrund in sich hat, wird verstehen, was mit Nina passiert. Deshalb muss man es nicht gleich mögen. Ich rede erst mal nur vom Verstehen. Was uns dieser Film allerdings sagen will – ich weiß es nicht. Kunst geht nur mit der dunklen Seite? Hoffmann und Poe schrieben nun mal besser, wenn sie dicht waren, dafür ganz schauderhaft in nüchternem Zustand? Alle wahren Künstler haben eine schwarze Seele? Ach, nein, der Film will uns sicher gar keine Hausaufgaben geben. Keine Pädagogik, keine Moral. Er will einfach nur eine Verwandlung zeigen und mit diesen fantastisch tragischen und banal universellen Schwanenseemotiven spielen. Ich frage mich, ob das verstörte Herauswanken nicht sehr der Figur Nina ähnelt, als sie noch ganz weißer Schwan ist. Und wie es um die Abgründe derer, die gerne Natalie Portman als „Anna“ gesehen hätten, in Wirklichkeit stehen mag.
Henrike Heiland
Natalie Portman Uncensored Rap (Saturday-Night-Live)
Black Swan. USA 2010. R: Darren Aronofsky. B: Mark Heyman, Andrés Heinz, John McLaughlin. K: Matthew J. Libatique. S: Andrew Weisblum. M: Clint Mansell. P: Cross Creek Pictures, Fox Searchlight Pictures, Phoenix Pictures, Protozoa Pictures. D: Natalie Portman, Mila Kunis, Vincent Cassel, Winona Ryder, Barbara Hershey, Ksenia Solo, Sebastian Stan, Toby Hemingway u.a.