Und aus sieben Wörtern eine Welt
– „Dudenbrooks“ heißt das Buch gewordene Gesellschaftsspiel, das folgendermaßen funktioniert: Man nehme sieben Wörter mit denselben Anfangsbuchstaben, wie sie im Abstand von 10, 20, 30 oder 40 Wörtern im Duden stehen und baue daraus eine kleine Geschichte, die selbst nicht viel mehr als 50 Wörter umfassen darf.
Diese letzte Vorgabe zum Umfang hat dann mit dem Spiel weniger zu tun als mit der FAZ, in der das Resultat der „Dudenbrooks–Spielereien“von Jochen Schmidt und Line Hoven zuerst erschienen sind. Die „Dudenbrooks“ sind, dies vorneweg, ein weiteres Exponat der von diesem Blatt erfreulicherweise unermüdlich geförderten Experimente an der Schnittstelle zwischen Illustration und Comics, abstrakter und konkreter Poesie.
Ob der Sklave in Brasilien nicht lieber frei gewesen wäre, als auf dem Fußballplatz die Kunst des Dribblings zu erfinden, weil er seinen weißen Herrn nicht berühren darf, bin ich mir nicht so sicher. Ziemlich sicher bin ich mir dagegen, dass die historische Behauptung zur Erfindung des Dribbelns, die Schmidt in seinem Vorwort erwähnt, vom Autor frei erfunden ist. So oder so dient sie ihm dazu, eine andere Behauptung zu untermauern, die da lautet: „Freiheit ist keine notwendige Bedingung für Produktivität!“ Anders gesagt: Sach- oder in diesem Fall Vokabularzwänge können auch Freude bringen. Oder aber: Das Regelwerk der „Dudenbrooks“ wurde nicht erfunden, um eine schlimme Schreibblockade zu überwinden (das fragt man sich nämlich irgendwann schon). Das Ergebnis, woher auch immer die Motivation dazu kam, überzeugt, und das vor allem durch die Wahl der kooperierenden Künstlerin. Mit Recht jubiliert Schmidt darüber, dass die Comic-Künstlerin Line Hoven ein Vergnügen daran fand, seine Textminiaturen in ihre eigenen und höchst eigenständigen Bilderwelten überzuführen.
Hovens Schabkarton-Verfahren – das Kratzen weißer Striche in schwarze Kartons – gibt ihren Interieur-verliebten Umsetzungen etwas Rückwärtsgewandtes, selbst wenn die Szenarien ultramodern sind: Das liegt in der Technik begründet. Im Fall des „Dudenbrooks“-Unterfangens, das auch den Umgang mit halbvergessenem Vokabular erzwingt oder ermöglicht, passt dieser Zeitmaschineneffekt besonders gut. Hoven setzt jedoch keineswegs nur um. Fast immer sind die Texte durch eigene narrative Einsichten erweitert: Ein Apfel-Motiv beim Buchstaben A etwa, das nur im Bild, nicht aber im Text auftaucht, die mysteriöse Kruzifix-Werkstatt, die Fräulein Franziska vom Buchstaben F betreibt. So wird aus einem cleveren Umgang mit „Beschränkung“ im Text mehr: Der Schnappschuss einer Geschichte in Wort und Bild, eine Momentaufnahme einer narrativen Handlung, erfasst in medias res, deren Ausarbeitung aussteht und auch in Zukunft ausstehen wird.
Es muss nicht alles Graphic Novel sein
In der FAZ standen die „Dudenbrooks“ als angenehm rätselhafte Text- und Bildensembles zur Auszeit mitten in der Zeitungslektüre. Der kleine Berliner Verlag Jacoby & Stuart hat aus der Sammlung nun ein schönes Buch geschaffen mit liebevoll gestaltetem Vorsatzblatt, diversen hübschen Zusatzillustrationen und einem dunkelbraunen Cover mit zart gekratztem Blumengeranke. Der Ursprung der Kooperation im Zeitungsumfeld kommt nicht zur Sprache, stattdessen preist der Verlag sein Produkt als Graphic Novel an, was dann doch ein wenig wie Wunschdenken anmutet. So wenig wie aus dem Scharadenspiel im Freundeskreis ein publikumstaugliches Bühnenstück wird, so wenig sind diese 26 Tafelbilder mit Textbeilagen eine Novelle oder ein Roman.
Das müssen sie auch gar nicht sein, denn: Was ist dieses Buch? Das Dokument eines fruchtbaren Austauschs (der weitergeht: Schmidt und Hoven sind von der FAZ bereits für die nächste Kooperation verpflichtet) oder eine ausführliche Anleitung zum Gesellschaftsspiel für den Familienurlaub – oder aber ein Archiv der ungeschriebenen Geschichten, der Bild-/Text-Abstracts potenzieller (zukünftiger?) Graphic Novels, und damit der comicbezogene Beleg für Jorge Luis Borges’ Diktum, es sei ein „mühseliger und strapazierender Unsinn“, dicke Bücher zu verfassen, wo doch ein Resümee oder der kritische Kommentar es oft genauso täten – oder eben, in diesem Fall, der geraffte Einblick in 26 Handlungsterrains, die der Leser dann je nach Lust und Laune selber weiter ausspinnen kann.
Brigitte Helbling
Jochen Schmidt / Line Hoven: Dudenbrooks. Berlin: Jacoby & Stuart 2011. 64 Seiten. 19,95 Euro. Zur Verlagshomepage, zu Line Hovens Homepage, zu Jochen Schmidts Blog.
Releaseparty „Dudenbrooks“ am 4. November in Hamburg.