Durchs Zahnloch ziehts
Über den alten und modernen Lyriker Kurt Marti, einen der letzten noch lebenden und sich in den Gang der Welt noch einmischenden Schüler des großen Theologen Karl Barth, ein Meister der kleinen Form, der klugen Aphorismen und der räsonierenden Betrachtungen über „Gott und die Welt“.
Warum eigentlich erwartet man älteren Lyrikern immer beschauliche, konservative Werke und von jungen Autoren immer provokante, moderne Gedichte? Gibt es doch Autoren um die Dreissig, die fürchterlich betuliche, langweilige, mit der Welt zufriedene Gedichte schreiben. Und es gibt ältere Lyriker, die auch mit acht Lebensjahrzehnten auf dem Rücken keine Zeile, keinen Vers zu Papier bringen, in dem nicht etwas Neues, etwas ‚Modernes‘ oszilliert. Der über achtzigjährige protestantische Pfarrer Kurt Marti wäre hier als ein gutes Beispiel für eine auch im Alter anhaltende Modernität anzuführen. Seit Jahrzehnten schon schreibt der in Bern lebende Autor Gedichte und mit zunehmendem Alter erkennt man überhaupt keinen Rückzug ins Beschauliche oder in die Nostalgie früherer Zeiten, wo angeblich alles besser gewesen ist. Immer noch scheint er hellwach zu sein, registriert mit großer Empfindlichkeit die Veränderungen in der großen wie in der kleinen Welt, läßt er sich nicht in die oft so betuliche Form von Reimgedichten zwängen.
Kurt Marti, einer der letzten noch lebenden und sich in den Gang der Welt noch einmischenden Schüler des großen Theologen Karl Barth, ist ein Meister der kleinen Form, der klugen Aphorismen und der räsonierenden Betrachtungen über „Gott und die Welt“. Er vermag zu staunen wie sein Landsmann Robert Walser, zu erzählen wie Johann Peter Hebel und sich gelegentlich in seinen Gedichten zu ärgern wie Erich Fried. Marti steht in den besten republikanischen Traditionen eidgenössischen Selbstbewußtseins: aufrührend gegen die da oben und der Welt mit offenen Armen zugeneigt. So ungefähr muß man sich vielleicht jene weisen Großväter und onkel vorstellen, die man sich in seinen Träumen immer erwünscht. „Wer erkunden möchte“, schrieb Peter Bichsel einmal, „was literarisch, politisch und kulturpolitisch in den letzten dreißig Jahren in der Schweiz geschah, dem könnte als Information das Werk von Kurt Marti genügen“. Man kann Bichsel da nur zustimmen.
Scheiß Schädeldruck
In der Schweiz finde, so vernehmen wir es von den Wahlforschern, der chauvinistische Populist Blocher ganz besonders bei der älteren Generation Unterstützung. Es seien gerade die älteren Eidgenossen, die sich trotzig gegen eine weitere Weltöffnung der Schweiz sperren und einem Blocher ihr Vertrauen schenken. Er scheint genau jene engstirnige, letztlich intolerante Verbohrtheit eines Teiles der Schweizer zu repräsentieren, die jenseits der Schweizer Grenzen aus Vorurteilen oft Urteile machen.
In diesen Zeiten ist man besonders froh, dass es in der Schweiz auch noch Menschen und Schriftsteller wie den schreibenden Pfarrer Kurt Marti gibt. Auch er ist einer jener Alten, denen sicherlich Vieles an den Schweizer Verhältnissen maßlos ärgert, die aber für Politiker vom Schlage Blocher unerreichbar sind. Marti personifiziert noch jenen republikanisch gesinnten, liberalen und zur Welt hin geöffneten alten Schweizer, der im Ausland wie dazumal Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Jean Rudolf von Salis die ‚andere Schweiz‘ repräsentiert. Vielleicht gehört Marti nicht zu den ganz großen zeitgenössischen Schriftstellern, auch nicht in der Schweiz, aber die literarische Welt (und nicht nur die) wäre ärmer, wenn es einen wie ihn nicht geben würde. Sein neuer Gedichtband, modern im Layout, geheimnisvoll im Titel („Zoè Zebra“) ist nur ein weiterer Beleg für die erstaunlich anhaltende Modernität und Frische dieses scheinbar überhaupt nicht alternden Autors. Als habe es nie eine konservative, manchmal auch pathetische, raunende Wende in der Lyrik gegeben, schreibt der alte eidgenössische Christenmensch seine Gedichte weiter: „huch wimmerbein/ scheiß schädeldruck/ im bißwind trübt sich/ blick zu bluck/ liguster klirrt/ sanft pirscht die miez/ ein ämslein hockt/ durchs zahnloch ziehts“. So etwas möchte man auch hören und lesen und schreiben, wenn man sich einmal in dem Alter befindet wie Kurt Marti heute. Und die Gedichte, in denen sein christlicher Glauben durchschimmert, sind nicht einfach wiederholtes Anrufen Gottes oder Zitierungen biblischer Weisheiten. Von den kitschigen Jesus-Hymnen einmal ganz abgesehen. Wunderbar in dem vorliegenden Band das Gedicht
„glücklichpreisung“, in dem Marti mit Neid auf die Atheisten blickt, die alle diese verwirrenden, schmerzenden, widersprüchlichen Zweifel des an Gott Glaubenden nicht kennen: „gern wäre ich einer von euch/ jedoch jedoch: ich kann nicht.“ Kurt Marti ist einer der wenigen zeitgenössischen deutschsprachigen Lyriker, dessen Gedichte Alt und Jung, Konservative und Progressive, Ungläubige und Gläubige zusammenführen könnten. Wir hoffen auf weitere Gedichte des christlichen Republikaners, des alten Modernen, des rebellischen Menschen- und Literaturfreundes Kurt Marti.
Carl Wilhelm Macke
Kurt Marti: Zoè Zebra. Neue Gedichte. Nagel& Kimche, Muenchen – Wien, 2004. 84 Seiten. 13,90 Euro. ISBN: 3-312-00347-4