Geschrieben am 6. März 2017 von für Litmag, LitMag-Lyrik, Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Alfred Margul-Sperber

fädenDie Wolken

Wo sind die Tage von gestern
die uns genommen sind?
Ich glaube: mit ihren Schwestern
treiben sie oben im Wind.

Die dunklen sind dunkel von Sorgen
und Leiden, die uns gekränkt,
die roten am Abend und Morgen
hat unser Herzblut getränkt;

die weißen aber, die schweben
wie Duft und zerfließen in Licht,
sind Tage von unserem Leben,
die lebten wir noch nicht.

 

Entnommen dem Band „Fäden ins Nichts gespannt“. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1991.

Es gibt Gedichte die sind einfach zu schön, zu vollkommen, um interpretiert zu werden. „Die Wolken“ von Alfred Markus-Sperber gehört zu jenen Gedichten, denen man die Bitte voranstellen möchten: „Bitte nicht interpretieren. Nur lesen, immer wieder…“ Aber der Autor sollte wenigstens vorgestellt werden – man bemerkt dann auch die Schatten in seiner Biographie.

Geboren wurde Alfred Margul-Sperber 1898 in Storozynetz (Bukowina, die politisch heute zur Ukraine gehört). Wie bei fast allen aus der Bukowina stammenden Schriftstellern ist es nicht ganz einfach, sie sprachlich-kulturell zuzuordnen. Sperber ist in einer deutsch assimilierten jüdischen Familie aufgewachsen. In den Jahren seiner Kindheitszeit gehörte diese Gegend zu Rumänien und seit dem Zweiten Weltkrieg ist sie in einen sowjetischen Nord- und einen rumänischen Südteil aufgeteilt worden. Bewohnt wurde die Bukowina zu Zeiten von Margul Sperber in der Mehrzahl von Ukrainern (Ruthenen) und Rumänen. Es gab aber auch eine bedeutende deutschsprachige Minderheit und zusätzlich noch Polen und Ungarn. Margul Sperber besuchte das Gymnasium in Czernowitz und Wien. Nach dem Abitur wurde er zum Militär berufen. 1918 kehrte er in seine Heimat zurück, um jedoch schon kurze Zeit später nach Paris überzusiedeln. Nach dem Krieg entschied er sich, sich im Amerika niederzulassen, blieb dort aber auch nur für drei Jahre in New York. Er kehrte wieder nach Czernowitz zurück, wo er als Journalist bei lokalen Zeitungen arbeitete. Zwischen 1934 und 1940 war er Beamter in Burdujeni/Suceava, ab 1940 in Bukarest als Privatlehrer für Fremdsprachen tätig. 1967 starb Alfred Margul Sperber in Budapest.

Seine in den Nachkriegsjahren geschriebenen und veröffentlichten Gedichte lassen nicht vermuten, dass ein so linientreuer stalinistischer Poet auch einmal ein so wunderbar leichtes Gedicht wie „Die Wolken“ geschrieben hat. Aber gilt das nicht auch für viele andere Schriftsteller, denen wir bleibende Gedichte verdanken und die gleichzeitig horrende Lobgesänge auf Diktatoren geschrieben haben? Und gehörte Sperber nicht auch zu den Freunden und Förderern von Rose Ausländer und Paul Celan, zwei der großen Portalfiguren deutschsprachiger Lyrik im 20. Jahrhundert, die sich zu Lebzeiten keinem totalitären Regime untergeordnet haben?!

Carl Wilhelm Macke

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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