Amanda Aizpuriete
Lass eine weiße Seite mir
in deinem Tagebuch,
dass ich mich eintrag
wie Schatten ins Licht.
Schreibst du kein Tagebuch mehr
lass eine Scheibe
im Fenster deines Zimmers frei.
Blick nicht hinaus bis zur
Stunde da ich vorbeigeh.
Ist kein Fenster mehr da,
rück beiseite und lass
den kleinen Rand mir in deinem Grab,
dass ich dort Wurzeln schlage.
Diese Erde hält mich nicht mehr.
Amanda Aizpuriete ( geboren 1956 in Jūrmala, Republik Lettland). Joachim Sartorius, einer der besten Kenner zeitgenössischer Lyrik, hat Amanda Aizpuriete einmal in einem Atemzug mit Emily Dickinson, Else Lasker-Schüler und Marina Zwetajewa genannt. Leider gibt es von ihr auf Deutsch bislang lediglich drei relativ schmale Gedichtbände: „Die Untiefen des Verrats“ (1993), „Lass mir das Meer“ (1996) und „Babylonischer Kiez“ (2000). Sie veröffentlicht außerdem Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Russischen, Deutschen, Englischen, Litauischen und Ukrainischen, unter anderem übersetzte sie Franz Kafka ins Lettische. Amanda Aizpuriete lebt in Kauguri (Lettland ).
Aus: Babylonischer Kiez. Gedichte. Übertragung von Manfred Peter Hein. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000