Geschrieben am 5. September 2015 von für Litmag, Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Bertolt Brecht

ADN-ZB/Kolbe 9.4.1980 [Datum Archiveingang] Bertolt Brecht geb. 10.2.1898 Augsburg gest. 14.8.1956 Berlin, Dichter, Theatertheoretiker und Regisseur.Über die Bezeichnung Emigranten

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
Aufnahm

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Sunde täuscht uns nicht! Wir hören die
Schreie

Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.

 

Dieses Gedicht ist Teil des unter dem Namen „Svendborger Gedichte“ bekanntgewordenen Zyklus von Exilgedichten Bertolt Brechts aus den Jahren zwischen 1933 und 1939. Wenn in der Zeit während und unmittelbar nach der 68er Studentenbewegung überhaupt Lyrik gelesen wurde, dann gehörten diese von Brecht mit antifaschistischer Leidenschaft und Wut geschriebenen Gedichte ganz bestimmt zum Pflichtprogramm.

„Auf den Tod eines Kämpfers für den Frieden“, „Lied gegen den Krieg“, „Fragen eines lesenden Arbeiters“ oder „An die Nachgeborenen“ wurden immer und immer wieder zitiert, um an eine deutsche Tradition zu erinnern, die von den Nazis aus dem Land vertrieben wurde oder deren Repräsentanten in den Konzentrationslagern hingerichtet wurden. Auch auf den Kulturveranstaltungen der SED wurden gerne mit großem Pathos und Tremolo die „Svendborger Gedichte“ zitiert. „ („Appel an einen kranken Kommunisten: Wir erwarten dich baldmöglichst wieder auf deinem Posten, Genosse“…).

Einige Gedichte aus diesem Zyklus sind wegen ihre proletarischen Dekorationsformeln Jahrzehnte nach dem Ende des „antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaats“ nur noch schwer verdaulich und zu Recht vergessen. Andere Gedichte haben einen überzeitlichen Wert behalten, die aber auch gerade deshalb wie vergilbte Parolen und Mauerinschriften heute kaum noch zur Kenntnis genommen werden.

In einem ganz anderen historischen Kontext lebend und konfrontiert mit den vielen heute nach Europa flüchtenden Menschen aus den gegenwärtigen Weltkrisenregionen entdeckt man jedoch in einem Gedichten plötzlich einen aktuellen Wert. „Wir wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss wählend ein anderes Land…Wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.“ Dieses Gedicht sollte heute – wie einige andere aus dem Exilzyklus von Brecht – fester Bestandteil in jedem Kurs zur Erlernung der deutschen Sprache für Flüchtlinge sein.

„Derzeit rückt auf uns zu“, schreibt Hans-Albert Walter „was vor fast einem Menschenalter von uns aus die Grenzen anderer Länder zu überwinden, die Küsten fremder Kontinent zu erreichen suchte: menschliches Strandgut….Wie der afrikanische, der nah- und fernöstliche, der ist- und südosteuropäische Flüchtling heute, ist der aus Hitlerdeutschland ‚im Elend‘ gewesen. Spricht man von den einen mit Achtung und Trauer, so kann man von den anderen schlechterdings nicht mit Abscheu reden“ („Wo ich im Elend bin“ oder „Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling“, Ffm. 1992).

„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“. Was diese trotzig-ermutigende Zeile für die Generation von Brecht bedeutet hat, wissen wir heute. Aber was heißt diese Zeile für die heute nach Deutschland flüchtenden Menschen…?

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Bertolt Brecht. Svendborger Gedichte. Suhrkamp 1979. 112 Seiten. Foto: Wikimedia Commons, Autor: Jörg Kolbe, Quelle.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

Tags : ,