Über die Zeit
In der Zeit, die ich brauchte, um Luft anzuhalten
und unterzutauchen im Badewasser
(das Blut dumpf in den Adern pochen zu hören,
und dann zurück an die Oberfläche zu kehren),
waren meine Eltern gestorben,
war das Haus verkauft worden, wurde
es abgerissen um mich herum,
Wand um Wand, mit Kugel und Kette.
Ich mache einen Schwimmzug unter Wasser,
erreiche schnaufend die andere Seite –
da ist meine Ehe gescheitert,
sind die Töchter erwachsen, in festen Händen,
ist schlaffer die Haut
um Beine und Arme,
und mein Herz rackert sich ab,
als gäbe es keinen Morgen.
Aus dem Englischen von Jan Wagner
Man kann über das Vergehen der Zeit – von geschichtlichen Epochen über die Jahreszeit wie über die Lebenszeit – in Romanen, Theaterstücken, weit ausholenden Versepen schreiben. Man kann über das Verrinnen des Sandes in der Sanduhr meditieren, über die Zeit als Geschenk Gottes predigen oder in einer Sonntagsrede die Flüchtigkeit der Zeit beklagen. Alles gut und schön und tausendfach bereits getan. Aber was soll’s: Die Zeit rast weiter. Kein Gedicht, keine Meditation bei Kerzenschein, kein Seufzen hält sie auf.
Wie unglaublich profan, banal, lakonisch, alltäglich erscheint einem da das Gedicht über die Zeit des Schotten Robin Robertson. Da sitzt einer in der vermutlich angenehm temperierten Badewanne, taucht zum Spaß, so wie man es vielleicht als Kind auch gerne getan hat, den Kopf in das Wasser, hält die Luft an, taucht wieder auf – und dann sind die Eltern gestorben, ist die gesamte Kindheit vorbei, ist die Ehe gescheitert, haben die eigenen Kinder das Haus verlassen, ist die Haut gealtert und schlaff geworden.
Auch so kann man sich auf die Suche nach ‚der verlorenen Zeit‘ machen. Kopf eintauchen, Luft anhalten, wieder auftauchen … In dem von Jan Wagner, einem der wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Dichter, übersetzten Gedichtband von Robertson „Am Robbenkap“ sind natürlich noch viele andere, auch längere Gedichte zu finden, aber diese „Badewannen-Meditation“ hat mir ganz besonders gefallen.
So schreibt man über ganz große Themen wie „die Zeit“ und den Abschied in ganz einfachen Bildern ohne eine Spur von Kitsch, von Banalität, von Flüchtigkeit, von leicht eingängiger Ironie, wie wir sie etwa von Robert Gernhardt kennen.
„Heute morgen, im Farnkraut/ hinter dem östlichen Feld, fand ich/ die durchgebrannten Birnen des Sonnenuntergangs; auf nasser Wiese, nach dem Schnee,/ die Wirbelsäule des Schneemanns.“ Das Gedicht trägt den Titel „Mythos“. Auch so ein Thema, über das Philosophen, Schriftsteller, Prediger seit Jahrhunderten nachdenken. Robertson braucht dafür sechs Gedichtzeilen.
Geboren wurde Robin Robertson 1955 in Score, Perthsire, Schottland (nicht in England …). Jan Wagner betont in seinem Nachwort ganz besonders die „schottische Färbung“ der Gedichte von Robertson. „Kommen nicht die interessantesten poetischen Entwicklungen immer wieder von den Rändern her ins Herz des Vereinigten Königreiches …?“
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Robin Robertson: Am Robbenkap. Übersetzt von Jan Wagner. Edition Lyrik Kabinett 2013. 68 Seiten. Foto: Niall McDiarmid, Quelle.