Über den Blutkreislauf
Es ist wie im Blutkreislauf:
immer dasselbe Blut,
doch vorher kommt es, dann geht es.
Wir nennen es Hass, aber es ist nur Leid, die Vene bringt der Adern Gabe an den Ausgangspunkt.
Übersetzt aus dem Italienischen von Piero Salabè
Lyrik kann, wenn sie gut und bedeutend ist, unsere gewohnte Sicht auf die Welt, unsere Interpretation von Gefühlen, der eigenen wie die der Anderen, zum Schwanken bringen, vielleicht sogar ändern. Manchmal liest und liest man ein Gedicht immer wieder. Versteht bei der ersten Lektüre vielleicht kaum etwas. Aber dieses anfängliche Unverständnis kann sich dann beim wiederholten Lesen langsam, Wort für Wort, Vers für Vers, auflösen. Da kommt dann etwas in unserem Kopf in Bewegung, das uns nicht mehr loslässt, das uns weiter fragen, weiter lesen lässt.
So kann es einem auch bei der Lektüre der Gedichte von Valerio Magrelli ergehen. Dank der Editions- und Übersetzungsarbeit von Theresia Prammer und dem für Lyrik besonders sensiblen Hanser-Lektor Piero Salabè liegt jetzt wenigstens eine Auswahl von Gedichten des derzeit vielleicht bedeutendsten italienischen Lyrikers auch in deutscher Sprache vor („Vom heimlichen Ehrgeiz ein Bleistift zu sein“, München, 2016).
In dem ausgezeichneten Nachwort zu diesem Gedichtband schreibt Theresia Prammer über Magrelli: „Kein Befund der nicht trügerisch, kein Weg, der nicht irrtümlich wäre; keine Feststellung, die sich nicht früher oder später in den Netzen des Widerspruchs verfinge.“ In diesen Tagen einer für uns alle spürbaren und uns alle auch verwirrenden Neuordnung der Welt, die auch mit einer Neuordnung unserer Gefühle einhergeht, wird viel und zurecht über einen immer ausufernden Hass in unserem Zusammenleben geklagt. Zuletzt hat Carolin Emcke für ihr Plädoyer „Gegen den Hass“ viel Lob und Aufmerksamkeit erhalten.
Wir sind uns alle einig, dass man wo auch immer ‚gegen den Hass‘ sein Wort erheben muss, Zivilcourage zeigen muss, mutig sein muss. Liest man da das Gedicht von Magrelli „Über den Blutkreislauf“ gerät man aber bei einer Zeile ins Stolpern. „Wir nennen es Hass, aber es ist nur Leid“. Könnte es sein, dass sich hinter dem Hass eines Menschen auf „die Anderen“, auf „die Fremden“, auf „die Flüchtlinge“ auch ganz tief verborgen in den eigenen „Adern“ wie es bei Magrelli heißt, so etwa wie Leid verbirgt? Und an was leidet der hassende Mensch so sehr, dass er sich Befreiung von seinem Leiden nur durch den verbalen und häufig auch nicht nur verbalen Hass erhofft? Es ist nicht Aufgabe oder Mission der Lyrik Therapien, Lösungen, Weltverbesserungen zu bieten. „Gedichte“, so bekannte die italienischen Schriftstellerin Patrizia Cavalli einmal, „werden die Welt nicht verändern“.
Ihre Lektüre kann aber Risse in unser Weltbild einfügen, kann uns in unseren Urteilen, vor allem unseren Vorurteilen ins Stolpern bringen. „Alles verwickelt, alles verwirrt sich/damit Sehnsucht entsteht“. Auch so eine Zeile aus einem Gedicht von Magrelli, die einen nicht loslässt. Die Lyrik des Valerio Magrelli stiftet Verwirrung. Kann man von zeitgenössischer Lyrik mehr verlangen?!
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Valerio Magrelli: Vom heimlichen Ehrgeiz ein Bleistift zu sein. Hanser, München, 2016. 184 Seiten. 18.00 Euro.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).