Geschrieben am 20. Januar 2008 von für Litmag, Lyrik

Ludwig Steinherr: Von Stirn zu Gestirn

Unscheinbare Augenblicke

Einige dieser Verse von Ludwig Steinherr werden Bestand haben, weil sie uns heute schon sagen, was uns noch bevorsteht.

Ernst Bloch, von dem man Sentenzen zur Poesie nicht unbedingt erwartet, hat einmal in einem seiner frühen Essays zur Utopie geschrieben: „Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt und sagt, was bevorsteht.“ In dem neuen, so still und vollkommen unprätentiös erscheinenden Gedichtband von Ludwig Steinherr „Von Stirn zu Gestirn“ findet man diese Verse, von denen man glaubt, hofft, manchmal auch ihrer schwarzen Prophetie wegen befürchtet, dass sie Bestand haben werden, weil in ihnen etwas glimmt, was uns noch bevorsteht. Zum Bespiel in dem Gedicht „Jahre die kommen“:
„Jahre ohne Schnee/ Jahre mit abgetrennten/ Augenlidern-/ Wie werde ich sie ertragen/ die Schlaflosigkeit?// Im Eismeer/ von Caspar David Friedrich/ die meuchelnden Schollen-/ Ich möchte sie/ in die Hand nehmen/ beschützen/ wie seltene Vögel/ einer sehr bedrohten/ Art.“

Bezugnahmen auf Künstler und Kunstwerke findet man häufig in den Gedichten von Ludwig Steinherr, den man so gar nicht einordnen kann in aktuelle Trends, Moden und Schubladen. In einem längeren Gedicht, gewidmet einem Fresko von Pisanello aus dem frühen 15. Jahrhundert, heißt es:
„Hier herrscht/ Jahrhunderte zu früh/ die Finsternis/ nach Auschwitz-// Zwei Gehenkte/ halbverwest/ mit verdrehten Gliedern/ schaukeln vor dem/ ausgebrannten Himmel-…“

Mit meinem durch den Aufbruch der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geformten Anspruch an ‚engagierte Lyrik‘, dass sie immer auch die Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung, auf eine Utopie des Noch-Nicht oder die Erinnerung an die Schrecken (deutscher) Vergangenheit in Worte fasse, suche ich mir in den Gedichten von Steinherr immer die mir ‚passenden Verse‘ heraus. Fällt der Name Auschwitz, horche ich auf. Ich finde in dem Band sogar ein Gedicht mit dem wahrlich nicht poetischen, in den Zeiten der Studentenbewegung aber alle magisch anziehenden Titel „Theorie“. In einem Gedicht („Sekunden“) wird an einen Film erinnert, dessen Thematik tief eingelassen ist in das neue deutsche Geschichtsgerüst:
„Der kleine Junge/ schwarzweiß/ läuft los stolpert schlechte/ Filmqualität läuft/ auf seine Mutter/ zu-// Der SS-Mann packt/ seinen Arm schleudert/ ihn zurück in die / zweite Abteilung… “

Aber liest man die Gedichte von Ludwig Steinherr nur mit dieser inzwischen auch beschlagenen ideologischen Brille, wird man seinem Werk – das von der Öffentlichkeit kaum bemerkt schon in einer Reihe von Gedichtbänden vorliegt – überhaupt nicht gerecht. Soll man ihn dann einen ‚katholischen Lyriker‘ nennen, um ihn so in die von den liberalen Feuilletons ausgerufene ’neue Religiösität‘ einzuordnen? Gewiss, Ludwig Steinherr hat an einer jesuitischen Hochschule im Fach Philosophie promoviert und es gibt Gedichte, in denen ein christliches Echo unüberhörbar ist:
„Unscheinbare Augenblicke/ während du gerade/ einen Joghurt ißt/ oder in einer Zeitschrift blätterst-// da legt dir Gott/ im Vorübergehn/ die Hand auf den Scheitel/ und sagt:// Nun bist du/ wie ich dich wollte.“

Aber in diesem Gedicht berührt mich weniger der direkte Bezug zu Gott, sondern dieses, für alle Gedichte Steinherrs so typische, so anziehende Moment des im Vorüber-Gehen-Wahrgenommenen, des Staunens noch über die kleinste Geste, etwa bei spielenden Kindern, des bescheidenen, aber beharrlichen Insistieren auf einen verantwortlichen Umgang mit dem Wort in einer Welt der sich häufenden Sprachmüllberge und dumm-dreisten Werbespots. Und in einer Zeit, in der schon das Wort Denken die Menschen erschüttert, schreibt er an Gedichten, die eben das von seinen Lesern erwarten:
„ Ein leeres Zimmer/ in dem das Licht/ Schach spielt/ gegen die Finsternis-// Es herrscht die Stille/ eines Kreuzgangs-// Jeder Zug als käme er/ von Ewigkeit her-// Fast vergißt du/ daß hier gespielt wird/ um dein Leben.“

Von Cesare Pavese, an dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr zu erinnern ist, stammt der Satz, dass ein Gedicht noch nie die Dinge geändert habe. Und Gedichte, die mit Fanfaren und Fahnen zur Veränderung der Dinge blasen, sind fast ausnahmslos schlechte Gedichte, die das Reich, für das sie kämpfen, nicht überstehen. In diesem Sinne ist Ludwig Steinherr kein Gesellschaftsveränderer, Gott sei Dank – aber er ist ein guter Dichter, von dem einige Verse Bestand haben werden, weil sie uns heute schon sagen, was uns noch bevorsteht.

Carl-Wilhelm Macke

Ludwig Steinherr: Von Stirn zu Gestirn. Gedichte. Gebunden. Lyrikedition 2000, 2007. 116 Seiten. 19,50 Euro. ISBN 978-3-86520-268-0.