past, present and future
– Für die letzte Ausgabe des Jahres stellt Julian Klosik ausführlich das seines Erachtens beste und wichtigste Reggae-Album des Jahres vor.
Ganz im Sinne von Peter Toshs berühmten Zitat “I’m a man of the past, living in the present, walking in the future” („Mystic Man“) legt Busy Signal pünktlich zum 50-jährigen Unabhängigkeitsjubiläum Jamaikas ein Album vor, dass verschiedene Stile aus der Geschichte des Reggae mit Dancehall-Vocals und aktuellen Texten verbindet und damit einen möglichen Weg für die Zukunft des Reggae vorzeigt.
Busy Signal, aufgewachsen in Tivoli Gardens, einem der härtesten Stadtteile Kingstons, hat sich einen Namen als Hardcore-Deejay gemacht, der präzise Beschreibungen der Ghetto-Realität („Jail“, „These are the Days“) ebenso beherrscht wie Liebeslieder, Dance- und Party-Hits („Wine pon di Edge“) und sogar Pop-Reggae-Coverversionen (etwa Phil Collins „One More Night“). Seine Vielseitigkeit, auch in Bezug auf Reim- und Flow-Gestaltung, sorgten dafür, dass er auch außerhalb des Hardcore-Dancehall-Markts, in dem er eine Vorreiterrolle bezüglich eines futuristischen Dancehalls mit Einsatz von Autotune einnimmt, bekannt geworden ist.
Diese Verbindungen zu Zuhörern unterschiedlicher Reggae-Genres nutzt er mit seinem vierten Studioalbum (nach „Step Out“, „Loaded“ und „D.O.B.“) konsequent, um einem seit Monaten diskutierten Verfall der Reggae- und Dancehall-Musik entgegenzuwirken, der sich u.A. durch extrem kurzlebige Dancehall-Tunes, die zwar einen schnellen Hype erzeugen, aber danach sofort vergessen, weggeworfen werden, bemerkbar gemacht hat. Roots-Reggae Musik (also die Musik, die sich die meisten nicht-jamaikanischen Hörer unter Reggae vorstellen) spielte auf Jamaika hingegen bis vor kurzem so gut wie keine Rolle mehr. Und auch Dancehall als jamaikanische Musik drohte, seine Identität zu verlieren, weil Beats mit allen möglichen Einflüssen gemischt wurden.
Doch pünktlich zum 50-jährigen Unabhängigkeitsjubiläum Jamaikas scheint eine Welle losgetreten, deren Auswirkungen noch nicht endgültig abzuschätzen sind: Vermehrt finden sich junge Roots-Reggae-Bands, die mit ihren Live-Performances auch eingesessene Dancehall-Fans und -Artists mitreißen. Einige scheinen damit zu beginnen, sich vom kurzlebigen Hype-System des Dancehalls loszulösen. Dass jetzt ein Dancehall-Deejay wie Busy Signal ein Roots-Reggae-Album macht, ist allerdings keineswegs ein billiger Versuch auf dieser Welle mit zu schwimmen. Dazu ist der Inhalt von „Reggae Music Again“ zu stark. Die Botschaft: „Reggae ist vielseitiger als schnellproduzierte Party-Musik und gewaltverherrlichende, aggressive Dancehall-Tunes. Reggae ist unsere Identität.“
Und angesichts der Tatsache, dass nach 50 Jahren Unabhängigkeit immer noch eine rassistische Gesellschaftstruktur von weitgehend hellhäutiger Oberschicht, brauner Mittelschicht und großer schwarzer Unterschicht herrscht, (organisierte) Kriminalität das tagtägliche Stadtgeschehen prägt, die Mordrate eine der höchsten weltweit und die jamaikanische Bevölkerung zutiefst zwischen politischen Parteien sowie Gangs einzelner Kingstoner Stadtteile, die beide mit Waffengewalt unterstützt werden, gespalten ist, ist das Album auch eine Frage: „Was haben wir in 50 Jahren erreicht?“ und ein Appell an die Jamaikaner: „Reggae mek we unite again!“ („Reggae soll uns wieder vereinigen!“ – aus dem Titelsong „Reggae Music Again“).
Auch die Produktionsweise des Albums zeigt, dass „Reggae Music Again“ kein einfaches Retro-Album ist. Dann hätte Busy Signal klassische Roots-Riddims schlicht neu gevoict. Stattdessen hat er zusammen mit Produzent Shane Brown (dem Sohn von Engineer Errol Brown, der im Tuff Gong-Studio z.B. Bob Marley & The Wailers produzierte) eine Riege erstklassiger Studiomusiker zusammengetrommelt, die die 14 Tracks (auf dem Album befinden sich zudem drei Ansagen-Tracks, in denen Busy Signal seine Gedanken zum Albumkonzept äußert) im Tuff Gong-Studio live einspielten. Gegenüber der Tradition von Studiolegenden wie Dean Fraser, Robbie Lyn, Clive Hunt, Kirk Bennett, Lamont Savory, Robert Browne und Sticky Thompson, die seit Jahrzehnten die Reggae-Geschichte mitprägen, steht die Produktion mit modernster Studiotechnik in den Tuff Gong-, Birchill-, und Juke Boxx-Studios. Herausgekommen ist dabei eine warme, saubere und qualitativ sehr hochwertige Produktion, deren Songs man anmerkt, dass sie auf Langlebigkeit zielen.
Das Album zollt der großen Geschichte und Tradition von Reggae-Musik Tribut, in dem es verschiedene Stile und Epochen aus deren Fundus in seinen Songs beleuchtet. Dabei zeigt aber schon das Cover, dass hier kein bloßes Zurückblicken stattfindet: Busy Signal ist zwischen analogen Bandmaschinen und 7“-Vinylsingles – dem typischen Format für jamaikanische Musik vor der digitalen Ära – zu sehen, was den Respekt für die Musiktradition zeigt, modisch hingegen – mit Designerbrille und Bling-Bling – fest im aktuellen Dancehall-Style heimisch. Es geht darum, die Identität von Reggae zu bewahren, in dem sie auf kreative Weise mit den aktuellen Tendenzen jamaikanischer Musik verwoben wird.
Während der fröhliche, etwas poppig geratene Titeltrack den Vibe alter Zeiten mit klarem One-Drop-Riddim herauf zu beschwören versucht und mit Zeilen wie
“And it’s being so so so long we nah listen to some old time reggae song
play the music again, yes mek we unite again,
I remember when, way back then
Positivity was the message we sent
no man ah pretend from the roots to the stem
it used to be Jamaica no problem”(“Reggae Music Again”)
an sowohl positivere Inhalte, als auch an positivere Zeiten auf Jamaika erinnert – sicher etwas romantisiert – und sich damit von den aggressiven Gun- und Violence-Tunes der heutigen Dancehall abgrenzt, verweisen Tunes wie „Come Over (Missing You)“ und „Royal Night“ auf klassischen Lover’s Rock. Vor allem „Come Over“ ist allerdings sehr schnulzig geraten, auch wenn es nicht auf Dancehall-typische explizite Beschreibungen verzichtet: „mek love till we wake up di neighbah“. „119“ ist ein Tribut an den 80er-Dancehall und featured zwei seiner Veteranen, Joe Lickshot und Anthony Redrose. Typische Echo- und Filter-Effekte des Old-School-Dancehall finden hier ihren Einsatz, während auch textlich ein „Know your History“-Appell ausgesendet wird: „Some youth only know di Pro Tools and di trump drive, dem nah know reel to reel, LP an‘ 45. Ah talk ‘bout dub plate an‘ never see di steel plate, di real plate. Yes, we haffi keep di culture alive!”. Neben den Produktionsmethoden und Formaten des klassischen Reggae, die hier in Erinnerung gerufen werden sollen, ist der Song auch ein Statement gegen restriktive Gesetze, die in letzter Zeit dafür sorgen, die Kultur nächtlicher Dances in den jamaikanischen Straßen einzuschränken.
Dass auch rasant-schnelle Lyrics, scharf auf den Beat geflowt mit Roots-Reggae harmonieren, beweist Busy Signal eindrucksvoll in „Fire Ball“, einem straight nach vorne treibenden Song mit druckvollen Bläsern und dubbigem Riddim, in dem Busy in typischer Fire Bun-Rhetorik verdorbene und heuchlerische Kirchenmänner, die die Bevölkerung täuschen, lyrisch verbrennt. „Fire Ball“ ist dabei nicht der einzige Track, der nach der letzten gesungenen Strophe in freie Variationen der hervorragenden Studiomusiker übergeht, die an Live-Dub-Sessions erinnern. Dieses die, auch im Reggae häufig angewandte, Discomix-Praxis wiederaufgreifende Stilmittel, kommt auch in den beiden musikalisch wie textlich absoluten Höhepunkten des Albums vor: „Modern Day Slavery“ und „Kingston Town“. Das extrem bassige „Modern Day Slavery“ verarbeitet Ideen der schwarzen Freiheitskämpfer Marcus Garvey und Martin Luther King und erinnert in seiner Aussage an Bob Marleys „Emancipate yourself from Mental Slavery“ („Redemption Song“). Der Refrain
„Welcome to di Days of Modern Day Slavery,
Dem free up all a we shackles
But mi still see where dem chain we”(“Modern Day Slavery”)
ist ein tiefgründiges, politisches Statement – die Ketten und Fesseln der Sklaverei sind zwar abgelegt, aber die mentalen Male sind längst nicht verschwunden. Hier wird sowohl auf die angesprochenen Probleme der jamaikanischen Gesellschaft verwiesen, als auch auf immer noch vorhandene kolonialistische und rassistische Prinzipien in den Köpfen der Bevölkerung. Musikalisch unterstützt wird die bedrückende Stimmung des Tunes durch einen düsteren Dub-Riddim mit durchdringender Bassline, eingängiger Orgel-Melodie und multiplen Echos auf Gitarre und Keyboards. Zum Schluss des Stücks wird sogar mit hallenden Flöten bzw. Pfeif-Tönen experimentiert und eben wieder in einen Instrumental-Dub-Part übergegangen, dessen Hallräume und hypnotisierende Echos zum Nachdenken über das eben Gehörte anregen.
Noch expliziter ist „Kingston Town“. Eine präzise Beschreibung der dunklen Seite des Alltagslebens in der jamaikanischen Hauptstadt, die Busy Signal aus seinen eigenen Erfahrungen in Tivoli Gardens kennt. Zeilen wie
„The dark side of Kingston Town, Kingston Town,
Every man a fight fi wear di King’s Crown,
A when di moon full you hear dat sound,
A wild wild west shootdown”(“Kingston Town”)
gefolgt von hallenden Schussgeräuschen, veranschaulichen den täglichen Überlebenskampf in den Kingstoner Ghettos und üben Kritik an den sogenannten Ghetto-Dons (also den Anführern organisierter Gangs), die jeweils versuchen die Mächtigsten in ihrem Revier zu sein („fight fi wear di King’s Crown“). Großartig auch, wie Busy Signals Stimme nahezu versagt, als er die Trauer einer Mutter beschreibt, deren Sohn erschossen wurde. Dass der kriminelle Umgangston der Gangs dem von Straßenkötern gleicht, verdeutlicht nicht zuletzt das Hundegebell am Anfang des Tunes, welches perfekt in die schaurige Atmosphäre einführt, die sich wiederum in massiver Bassline und düsteren Hallräumen äußert. Die, für Roots-Reggae typisch, mit Tape-Delay versehenen Keyboards und Gitarre sowie das groovende Schlagzeug-Pattern mit lang nachhallender Snare bilden das Gerüst, das durch ein raumfüllendes Bläser-Sample von Barry Browns „Give another Israel a Try“ zusammengehalten wird. Hier wird ausnahmsweise – die einzige andere Ausnahme bildet der von Lee Perry produzierte „Beat Down Babylon“-Riddim, der sich für „Wicked Man“ geborgt wurde – direkt auf historisches Material zurückgegriffen.
Busy Signal, Shane Brown und den Studiomusikern gelingt insgesamt gesehen eine hervorragende Kombination von alt und neu. Sie deuten an, dass das riesige Vermächtnis jamaikanischer Musik auf interessante Weise mit aktuellen Styles harmoniert und strahlen dabei über das rein Musikalische hinaus in Richtung politischer Veränderungen – sowohl im Music-Business, als auch in der jamaikanischen Gesellschaft. Keiner der zahlreichen Sampler, die zur Feier des 6. August 1962 und 50 Jahren Unabhängigkeit erscheinen, um die Reggae-Geschichte zusammen zu fassen, wird derartige Wirkung erzielen. Vielleicht ist Busy Signal ähnlich wie einst Peter Tosh ein „Mystic Man“: Er bringt großes Verständnis und Respekt für die Tradition der vielfältigen Reggae-Musik mit („A man of the past“), ist dabei voll in seiner Zeit verankert („living in the present“) und hat ein Konzept parat, das taugt, die Zukunft jamaikanischer Musik – und hoffentlich noch viel mehr – zu verändern („walking in the future“).
Julian Klosik
Busy Signal: Reggae Music Again. VP Records. Zur Facebook-Präsenz.