Lateinamerikanische Musik klischeefrei
Bei aller erfreulichen Begeisterung für lateinamerikanische Musik, die bei uns nun schon erklecklich lange anhält – manchmal könnte man den Eindruck haben, von Feuerland bis zur Baja würde non stop Salsa gespielt und Son. Fröhlich, flockig, uptempo. Falsch! Das dachte sich auch der mit lateinamerikanischer Musik nun wahrlich bewanderte Charlie Haden und präsentiert mit „Land of the Sun“ eine CD, die drei große zeitgenössische mexikanische Komponisten vorstellt: Agustín Lara del Pino, Armando Manzanero und – mit der Mehrzahl der Tracks – den 1995 gestorbenen José Sabre Marroquín. Sie alle sind fest in der musikalischen Tradition ihres Landes verwurzelt, aber sie liefern alle keine Klischee-Musik. Und Haden präsentiert sie nachgerade anti-folkloristisch, aber durchaus im Jazz-Idiom. Selbst da, wo er sich ganz streng an die notierte Vorgabe hält und keine Improvisation zulässt, wie bei Marroquíns „Añoranza“. Alle Titel sind Balladen, auch da, wo Boleros zu Grunde liegen, oder langsame Walzer oder einfache Lied-Formen. Gonzalo Rubalcaba am Piano erweist sich in diesem Kontext als Virtuose der Sparsamkeit, der Trompeter Michael Rodríguez haucht die mexikanische Mariachi-Tradition nur sparsam an und begeistert ansonsten mit einem unendlich warmen, vollen Ton, Miguel Zenóns Altsaxophon singt in schönem Kontrast zu dem robusten Ton von Joe Lovanos Tenor. Oriente López sorgt mit seiner Flöte (hin und wieder unisono mit der Trompete) für eine aparte Klangfarbe und der aus Benin stammende Gitarrist Lionel Loueke (der in den USA eine unglaubliche Karriere hinlegt) bringt das Kunststück fertig, mit seinem eigenwilligen Stil dem Ensemblesound – Stichwort: klischeefrei – kleine glitzernde Tupfer aufzusetzen. Nur bei einem Titel, „Sueño solo con tu amor“, für das eine klassische spanische Gitarre erforderlich ist, übergibt er seinen Part an Larry Koonse. Und hinter allem sorgt Ignácio Berroa für die nötige, unaufdringliche, aber manchmal extrem vertrackte perkussive Basis.
Man möchte den Gestus der CD behutsam nennen – so sorgfältig gehen alle mit dem Material um. An erster Stelle kommt klangliche Schönheit und Raffinesse. Hadens Bass lauscht oft geradezu hinter den Tönen her, jede Nuance, jede Schattierung wird ausgelotet, ausgespielt. Eine Art kreativer Respekt bestimmt den Umgang der hauptberuflichen Improvisatoren mit den durchkomponierten Titeln. Und dennoch (oder deswegen?) tut das Jazz-Idiom allen Songs nur gut, der swing sorgt für pulsendes Leben und bewahrt vor krachledernen Routinen. Haden, der sozialrevolutionäre Feuerkopf, ist dann am besten, wenn er innerhalb fester Formen agieren kann. Wir wissen das schon lange, so perfekt allerdings haben wir es selten bewiesen bekommen. Ein Meisterwerk.
Thomas Wörtche
Charlie Haden: Land of the Sun. Emarcy/Verve/Universal 982 082-5