In sehr loser Folge wollen wir an dieser Stelle an Live-Alben der Rock- und Popgeschichte erinnern, die zu Klassikern geworden sind. Heute schreibt Matthias Penzel über Nirvanas unplugged-Konzert in New York.
„Wie sollen wir uns verpissen, oh Herr?“
Kaum zu hören sind die einleitenden Worte Kurt Cobains: „Good evening, this is off our first record, most people don’t own it!“. Und damit sind wir voll in den Widersprüchen, die den Mann und seine Band zerrieben haben: Kurt, Generation-X-Sprachrohr, das nicht hohl sein wollte wie Sprachrohre, Megastar wider Willen, latscht blindlings in die Superstarfalle (Wer mich nicht kennt, ist es nicht wert, hier zu sein). Dann statt Nirvanas noise eine Stunde Musizieren mit Cellos, Schifferklavier und Akustikinstrumenten. Mitten in Manhattan, in den Sony Music Studios, West 54th Street. Nirvana, als Kids auf dem Schulhof aussortiert, dann Speerspitze des Grunge, Vorzeige-Outcasts aus dem Nordwesten, Punk und Rebellion und Underground, nun Dollar-Millionäre, weiter im Penner-Look, vor einer Schar handverlesener Modegecken und Trittbrettfahrer… Nirvana spielen bei einer der seltsamsten Ideen von MTV auf: Statt Konserven-Videos für die Endlos-Schleife des Shoppingkanals also authentische Livemusik, unverschnitten, ohne Verstärker. Im Sitzen und ohne Strom. Geht es anachronistischer?
Man könnte sagen, der Abend erfüllte alle Voraussetzungen, um als Disaster zu enden, im besten Fall als unvergessliches Disaster. Nasskalt im November in New York. Seit einem Monat unterwegs, Phoenix/Arizona, Kansas City/Kansas, Davenport/Iowa, Chicago/Illinois, Milwaukee/Wisconsin, Detroit/Michigan, Dayton/Ohio, Akron/Ohio, Verdun und Toronto in Kanada, Buffalo/New York, Williamsburg/Virginia, Philadelphia/Pennsylvania, Bethlehem/Pennsylvania, Springfield/Massachussets, Fitchburg/ Massachussets, Washington DC und jetzt seit einigen Tagen und durchgedreht und übermüdet im Big Apple. Nach Kurts freilich ironisch intendierter Ansage, witzig nur für Jünger, „About A Girl“ von „Bleach„. Mehr sensibel als sinnlich, gefolgt von dem weniger überraschenden „Come As You Are“, dem ersten von vier „Nevermind„-Songs, dann ein Song der Vaselines, einstige Labelkollegen bei SubPop, quasi gegenübergestellt der Coverversion eines Sängers, der sich von Widersprüchen nicht zerreißen, sondern antreiben lässt: Bowie, bzw. dessen „The Man Who Sold The World“.
Schon bei „Come As You Are“ – wo der Germs-Gitarrist Pat Smear Kurt den Rücken freihält, so dass der mit eingestöpseltem Effektgerät (Flanger) die MTV-Regeln unterlaufen kann, schon bei diesem lyrischen Fingern nach Freund und Verständnis, Freundin und Vergangenheit, spätestens bei den Zeilen „And I swear / that I don’t have a gun / no I don’t have a gun / no I don’t have a gun“ – läuft es einem kalt den Rücken runter. Der Abend wird kein Disaster, er zementiert, was für eine außerordentliche Band Nirvana wirklich war.
Monate später ist Kurt tot. Und Nirvana werden größer und größer. Auch mehr als ein Jahrzehnt später kann man weltweit vorzeigen – mit Cobain-T-Shirt –, wie man die Welt so sieht. Wie viel in Nirvanas (generell Cobains) Songs steckt, dokumentieren die für Unplugged abgespeckten Interpretationen so, dass es auch jedem einleuchtet, der zuvor mit der Band und Grunge und diesen Widersprüchen nichts anzufangen wusste. Wie die Band die Songs anderer erklingen lässt, als wären es ihre eigenen, beweist sie ein Level, bei dem Vergleiche zu Dylan oder Beatles aufkommen. Und doch…
Und doch…
Und doch standen Nirvana zum Zeitpunkt der Aufnahme im Schatten einer anderen Grunge-Band aus Seattle, wie sich Chuck Klosterman klar und deutlich und korrekt erinnert. Klosterman ist einer dieser Amerikaner, von denen man Übelstes erwarten könnte: Aufgewachsen im Nirgendwo zwischen den Küsten, Autostunden entfernt von einer dieser Städte, die sich gleichen wie die Rückseiten von Kühlschränken. Mit Brille, einem für lange Haare wenig geeigneten Gesicht, aber mit einer Liebe für rockende Gitarren hat er sich irgendwann hingesetzt und ein Buch über seine Jugend geschrieben, erste Lieben und letzte Riten, in seinem Fall über Mötley Crüe und andere, die ihm – generationsbedingt – das Überleben ermöglicht haben. Sein Buch »Fargo Rock City« sorgte für eine kleine Sensation: Zwar schwärmte er über Bands, die mehr wegen dB als IQ auffielen, aber er schrieb intelligent darüber. Nachvollziehbar, lustig. Provokant aber auch klug und eigen – so ist Klosterman eben – präsentierte er in seinem zweiten Buch, »Killing Yourself To Live« (der Titel hierzulande nicht Black Sabbath entlehnt, sondern »Eine zu 85 % wahre Geschichte«), dass die Musikgeschichte kontinuierlich umgeschrieben wird. Klosterman erinnert, dass zu dem Zeitpunkt, als Kurt Cobain sein Leben beendete, Pearl Jam und nicht Nirvana die Band war, auf die die Allgemeinheit setzte.
Auf Nirvana hätten die wenigsten gesetzt. Die ersten Gigs in Deutschland, im Vorprogramm von Tad im November 1989, waren in den Augen und Ohren aller, die auch danach wach und ehrlich blieben (höchstens 5 %), äußerst ernüchternd. Dann „Nevermind„, Single-Hit dank MTV, und die Sache sah anders aus. Live, nun als Trio und mit Dave Grohl am Schlagzeug, hörte sich auch alles anders an. Live war das so, dass man entweder voll abtauchte und mitging – oder feststellte: WOW! Hier passiert gerade etwas Außerordentliches. Hier waren – endlich! –, abseits einer vor Trends und Moden trunkenen Daytime-Soap-Society, drei Typen, die alles kannten, die viel hassten (Kapitalismus, Gier, Werbung, Show, alte Macho-Klischees, Zynismus) und die viel liebten (unmodische Klamotten, Authentizität, keinen Showfirlefanz, Cheap Tricks Melodien, Black Sabbaths Akkorde und Power, auch Led Zeppelin… nur eben nicht die hirnlosen Texte dieser Acts). Alles nicht richtig nagelneu … und doch … postmodern, Generation X, von denen die alles sahen und hatten und doch nix Wichtiges bekamen. Voll im Groove der 90er-Jahre. („Was will er uns sagen? Was will er uns nicht sagen?“)
Auf die heavy rotation bei MTV folgte die der Band. Kurts Wünsche, kurz nach „Nevermind„, diesmal nicht bis zum Erbrechen auf Gastspielreise geschickt zu werden, in Europa bittebittebitte nicht jeden Tag in einer 800 Kilometer entfernten Stadt in einem anderen Land zu spielen, wurden vom Management erhört – und ignoriert. Gold Mountain Entertainment: der Firmenname ist Programm. Die Sache lief, der Rubel rollte, nächste Single-Auskoppelung, wieder ein Hit, nach vollen Häusern Zusatzkonzerte, Hysterie, alle zerrten und wollten mehr … bis der Sarkasmus, der Nirvana zu dem Zynismus der 80er eingefallen war, hohl, kalkuliert oder affig wurde. Oder alles zugleich. Dazu Tantiemen ohne Ende. Überall Mitmacher, Right-on-Typen, coole Grrrls, zum Relaxen ein Joint, etwas Speed zum Antörnen… und weiter auf dem Fliegenden Teppich. Wieder eine neue Stadt, kaum zu unterscheiden von gestern, oder war das vorgestern? Ins Mikro lauter gebrüllt vor lauter Wut? Stimmbänder futsch? Codein wird helfen, es betäubt die wunden Stellen. So effektiv wie wenn man seine Hand betäubt und dann ins Feuer hält: man merkt nix.
Irgendwann irgendwo, mehr und minder betäubt, sahen sie vor sich eine Herde Schafe, die genau das repräsentierten, was Kurt Cobain und Krist Novoselic auf dem Schulhof hassten, was sie 1986 zusammengebracht hatte (zunächst für The Sellouts, eine Creedence Clearwater Revival Coverband. Motivation: Melvins strichen pro Abend $80 ein. Resultat: Nach wenigen Proben das Aus der Sellouts, ab da richtige Musik Cobains mit Novoselic). Irgendwann also, nach „Nevermind“ und MTV, rieben sie sich kurz die Augen: Die Leute, von denen sie in der Schule eins aufs Maul bekommen hatten, applaudierten, als wären Nirvana nicht eine Garagenband aus Seattle, sondern Superstars mit Villa und Swimmingpool im eigenen Jet. Die Band spielte härter. Sie wurde extremer. Es half nichts, war wie im Film. „Ich bin nicht der Messias! Würdet Ihr mir bitte zuhören? Ich bin nicht der Messias, versteht Ihr das? Ganz ganz ehrlich!“. Darauf das Mädchen: „Nur der wahrhaftige Messias leugnet Seine Göttlichkeit.“ Da aber sprach Brian: „Was? Ihr müsst mir doch ne Chance lassen, da rauszukommen! Also gut: Ich bin nicht der Messias!“ Jetzt alle: „Er ist es! Er ist der Messias!“
Nirvana sagten also, wie Brian in Monty Pythons bestem Film: Fuck off! („Und jetzt verpisst Euch!!“) Nach dem vor Lärm und noise und Krach und Wut verkochten „In Utero“ hätte es ruhiger und leichter werden können. Die Jünger aber blieben. Und sie fragten wie Arthur in »Das Leben des Brian«: „Wie sollen wir uns verpissen, oh Herr?“
Nun kann man das drehen und wenden, wie man will, man mag den Erfolg – wie die Band – für irrsinnig halten, mehr noch – mit Klosterman – den nach Cobains Selbstmord anschwillenden Status. Was bleibt, sind drei Studioalben, die Qualität der Kompositionen erschreckend und verwirrend, sowie dieses Livealbum, das bei den Vorzeichen und unter normalen Umständen hätte scheitern müssen – und das doch so voller Hoffnung klingt, so blue und zugleich optimistisch nach einem echten Entwurf für das würdevolle Älterwerden eines Indie-Rebellen, den der Mainstream auffressen wollte. Bei den Aufnahmen spielte die Band – zweifelsfrei als zähneknirschend sarkastischen Gag – ein paar Takte Lynyrd Skynyrd, um dann für zehn Jahre alte Meat Puppets-Songs deren Curt und Cris Kirkwood auf die Bühne zu holen (Track 10, 11, 12). Danach trommelt Dave Grohl den Start von „Scentless Apprentice“, alle spielen „All Apologies“ von „In Utero„, Cobain ein paar Takte „Negative Creep“, und mit einem Leadbelly-Song hört alles auf.
Die Unplugged-Session sollte Teil eines Livealbums werden. Kurt Cobains Tod weniger als drei Monate später vereitelte dies. Das schließlich 1996 veröffentlichte „From The Muddy Banks Of The Wishkah„ darf als zweite Hälfte des Vorhabens gesehen werden. In der fast exakt identischen Länge (5 Sekunden Unterschied) hat man hier die schädeldecken-sprengende Energie und Wucht von einigen der größten Momente des normalen Livesets von Nirvana. Die Vorderseite derselben Medaille. MTV Unplugged in New York schoss fast weltweit auf die Pole-Positionen der Charts, allein in den USA wurden während der ersten Woche mehr 300.000 Einheiten verkauft. Wahrscheinlich ist es eins der letzten wichtigen Livealben aus einer Zeit, als Alben noch Relevanz hatten.
Matthias Penzel
NIRVANA: MTV Unplugged in New York. Geffen. Erschienen: 1.11.1994. Aufgenommen: 18.11.1993. Das ganze Konzert ist hier zu sehen.
Besetzung: Kurt Cobain (Gitarre, Gesang), Krist Novoselic (Bass, Akkordeon, Gitarre), Dave Grohl (Schlagzeug, Gesang, Bass), Pat Smear (Gitarre), Lori Goldston (Cello), Curt Kirkwood (Gitarre), Cris Kirkwood (Gitarre, Bass, Gesang)
Songs:
1. About A Girl
2. Come As You Are
3. Jesus Doesn’t Want Me For A Sunbeam
4. The Man Who Sold The World
5. Pennyroyal Tea
6. Dumb
7. Polly
8. On A Plain
9. Something In The Way
10. Plateau
11. Oh Me
12. Lake Of Fire
13. All Apologies
14. Where Did You Sleep Last NightNIRVANA: MTV Unplugged in New York bei Facebook sowie auf Myspace.