Geschrieben am 1. Juni 2011 von für Musikmag

Live Klassiker: Nirvana – MTV Unplugged in New York

In sehr loser Folge wollen wir an dieser Stelle an Live-Alben der Rock- und Popgeschichte erinnern, die zu Klassikern geworden sind. Heute schreibt Matthias Penzel über Nirvanas unplugged-Konzert in New York.

Wie sollen wir uns verpissen, oh Herr?“

Kaum zu hören sind die einleitenden Worte Kurt Cobains: „Good evening, this is off our first record, most people don’t own it!“. Und damit sind wir voll in den Widersprüchen, die den Mann und seine Band zerrieben haben: Kurt, Generation-X-Sprachrohr, das nicht hohl sein wollte wie Sprachrohre, Megastar wider Willen, latscht blindlings in die Superstarfalle (Wer mich nicht kennt, ist es nicht wert, hier zu sein). Dann statt Nirvanas noise eine Stunde Musizieren mit Cellos, Schifferklavier und Akustik­instrumenten. Mitten in Man­hattan, in den Sony Music Studios, West 54th Street. Nirva­na, als Kids auf dem Schulhof aussortiert, dann Speerspitze des Grunge, Vorzeige-Outcasts aus dem Nord­westen, Punk und Rebellion und Under­ground, nun Dol­lar-Mil­lionäre, wei­ter im Penner-Look, vor einer Schar handverlesener Mode­gecken und Trittbrettfahrer… Nir­vana spielen bei einer der seltsamsten Ideen von MTV auf: Statt Kon­ser­ven-Videos für die Endlos-Schleife des Shoppingkanals also authentische Livemusik, unver­schnit­ten, ohne Verstärker. Im Sitzen und ohne Strom. Geht es anachronistischer?

Man könnte sagen, der Abend erfüllte alle Voraus­setzungen, um als Disaster zu enden, im besten Fall als unvergessliches Disaster. Nasskalt im November in New York. Seit einem Monat unterwegs, Phoenix/Arizona, Kan­sas City/Kansas, Davenport/Iowa, Chicago/Illinois, Mil­waukee/Wisconsin, Detroit/Michigan, Dayton/Ohio, Akron/Ohio, Verdun und Toronto in Kanada, Buffalo/New York, Williamsburg/Virginia, Philadelphia/Pennsylvania, Bethlehem/Pennsylvania, Springfield/Massachussets, Fitch­burg/ Massachussets, Washington DC und jetzt seit einigen Tagen und durchgedreht und übermüdet im Big Apple. Nach Kurts freilich ironisch intendierter Ansa­ge, witzig nur für Jünger, „About A Girl“ von „Bleach. Mehr sensibel als sinnlich, gefolgt von dem weniger überraschenden „Come As You Are“, dem ersten von vier „Nevermind-Songs, dann ein Song der Vaselines, einstige Labelkollegen bei SubPop, quasi gegenübergestellt der Coverversion eines Sängers, der sich von Wider­sprüchen nicht zerreißen, sondern antreiben lässt: Bowie, bzw. dessen „The Man Who Sold The World“.

Schon bei „Come As You Are“ – wo der Germs-Gitarrist Pat Smear Kurt den Rücken freihält, so dass der mit eingestöpseltem Effektgerät (Flanger) die MTV-Regeln unterlaufen kann, schon bei diesem lyrischen Fingern nach Freund und Verständnis, Freundin und Vergangen­heit, spätestens bei den Zeilen „And I swear / that I don’t have a gun / no I don’t have a gun / no I don’t have a gun“ – läuft es einem kalt den Rücken runter. Der Abend wird kein Disaster, er zementiert, was für eine außerordentliche Band Nirvana wirklich war.

Monate später ist Kurt tot. Und Nirvana werden größer und größer. Auch mehr als ein Jahrzehnt später kann man weltweit vorzeigen – mit Cobain-T-Shirt –, wie man die Welt so sieht. Wie viel in Nirvanas (generell Cobains) Songs steckt, dokumentieren die für Unplugged abge­speckten Inter­pre­ta­tionen so, dass es auch jedem ein­leuchtet, der zuvor mit der Band und Grunge und diesen Widersprüchen nichts anzufangen wusste. Wie die Band die Songs anderer er­klingen lässt, als wären es ihre eigenen, beweist sie ein Level, bei dem Vergleiche zu Dylan oder Beatles auf­kommen. Und doch…

Und doch…

Und doch standen Nirvana zum Zeitpunkt der Aufnahme im Schatten einer anderen Grunge-Band aus Seattle, wie sich Chuck Klosterman klar und deutlich und korrekt erinnert. Klosterman ist einer dieser Amerikaner, von denen man Übelstes erwarten könnte: Aufgewachsen im Nir­gendwo zwischen den Küsten, Autostunden entfernt von einer die­ser Städte, die sich gleichen wie die Rück­seiten von Kühlschränken. Mit Brille, einem für lange Haare wenig geeigneten Gesicht, aber mit einer Liebe für rockende Gitarren hat er sich irgendwann hingesetzt und ein Buch über seine Jugend geschrieben, erste Lie­ben und letzte Riten, in seinem Fall über Mötley Crüe und an­dere, die ihm – generationsbedingt – das Über­­le­ben ermöglicht haben. Sein Buch »Fargo Rock City« sorg­te für eine kleine Sensation: Zwar schwärmte er über Bands, die mehr wegen dB als IQ auf­fie­len, aber er schrieb intelligent darüber. Nachvollziehbar, lustig. Provokant aber auch klug und eigen – so ist Klosterman eben – präsentierte er in seinem zweiten Buch, »Killing Yourself To Live« (der Titel hierzulande nicht Black Sabbath entlehnt, sondern »Eine zu 85 % wahre Ge­schich­te«), dass die Musik­geschich­te kontinuierlich um­ge­schrieben wird. Klosterman erinnert, dass zu dem Zeitpunkt, als Kurt Cobain sein Leben beendete, Pearl Jam und nicht Nirvana die Band war, auf die die Allge­meinheit setzte.

Auf Nirvana hätten die wenigsten gesetzt. Die ersten Gigs in Deutschland, im Vorprogramm von Tad im November 1989, waren in den Augen und Ohren aller, die auch da­nach wach und ehrlich blieben (höchstens 5 %), äußerst ernüchternd. Dann „Nevermind, Single-Hit dank MTV, und die Sache sah anders aus. Live, nun als Trio und mit Dave Grohl am Schlagzeug, hörte sich auch alles anders an. Live war das so, dass man entweder voll abtauchte und mitging – oder feststellte: WOW! Hier passiert ge­ra­de etwas Außer­ordent­liches. Hier waren – endlich! –, abseits einer vor Trends und Moden trunkenen Daytime-Soap-Society, drei Typen, die alles kannten, die viel hassten (Kapitalismus, Gier, Werbung, Show, alte Macho-Klischees, Zynismus) und die viel liebten (unmodische Klamotten, Authentizität, keinen Showfirlefanz, Cheap Tricks Melodien, Black Sabbaths Akkorde und Power, auch Led Zeppelin… nur eben nicht die hirn­losen Texte dieser Acts). Alles nicht richtig nagelneu … und doch … post­modern, Generation X, von denen die alles sahen und hatten und doch nix Wichtiges bekamen. Voll im Groove der 90er-Jahre. („Was will er uns sagen? Was will er uns nicht sagen?“)

Auf die heavy rotation bei MTV folgte die der Band. Kurts Wün­sche, kurz nach „Nevermind, diesmal nicht bis zum Erbrechen auf Gastspielreise geschickt zu werden, in Europa bittebittebitte nicht jeden Tag in einer 800 Kilometer entfernten Stadt in einem anderen Land zu spielen, wurden vom Management erhört – und ignoriert. Gold Mountain Entertainment: der Firmenname ist Pro­gramm. Die Sache lief, der Rubel rollte, nächste Single-Auskoppelung, wieder ein Hit, nach vollen Häusern Zusatzkonzerte, Hysterie, alle zer­rten und wollten mehr … bis der Sar­kas­mus, der Nirvana zu dem Zynismus der 80er eingefal­len war, hohl, kalkuliert oder affig wurde. Oder alles zu­gleich. Dazu Tantiemen ohne Ende. Überall Mitmacher, Right-on-Typen, coole Grrrls, zum Relaxen ein Joint, et­was Speed zum Antör­nen… und weiter auf dem Flie­gen­den Teppich. Wieder eine neue Stadt, kaum zu unter­schei­den von gestern, oder war das vorgestern? Ins Mikro lauter ge­brüllt vor lauter Wut? Stimmbänder futsch? Codein wird helfen, es betäubt die wunden Stellen. So effektiv wie wenn man seine Hand betäubt und dann ins Feuer hält: man merkt nix.

Irgendwann irgendwo, mehr und minder betäubt, sahen sie vor sich eine Herde Schafe, die genau das repräsen­tier­ten, was Kurt Cobain und Krist Novoselic auf dem Schulhof hassten, was sie 1986 zusammen­gebracht hatte (zunächst für The Sellouts, eine Cree­dence Clearwater Revival Coverband. Motivation: Melvins strichen pro Abend $80 ein. Resultat: Nach wenigen Pro­ben das Aus der Sellouts, ab da richtige Musik Cobains mit Novo­se­lic). Irgendwann also, nach „Nevermindund MTV, rieben sie sich kurz die Augen: Die Leute, von denen sie in der Schule eins aufs Maul bekommen hatten, applau­dier­ten, als wären Nirvana nicht eine Garagenband aus Seattle, son­dern Super­stars mit Villa und Swimmingpool im eigenen Jet. Die Band spiel­te härter. Sie wurde ex­tremer. Es half nichts, war wie im Film. „Ich bin nicht der Messias! Würdet Ihr mir bitte zuhören? Ich bin nicht der Messias, versteht Ihr das? Ganz ganz ehr­lich!“. Darauf das Mädchen: „Nur der wahrhaftige Mes­sias leugnet Seine Göttlichkeit.“ Da aber sprach Brian: „Was? Ihr müsst mir doch ne Chance lassen, da raus­zu­kommen! Also gut: Ich bin nicht der Messias!“ Jetzt alle: „Er ist es! Er ist der Messias!“

Nirvana sagten also, wie Brian in Monty Pythons bestem Film: Fuck off! („Und jetzt verpisst Euch!!“) Nach dem vor Lärm und noise und Krach und Wut verkochten „In Ute­ro“ hätte es ruhiger und leichter werden können. Die Jünger aber blieben. Und sie fragten wie Arthur in »Das Leben des Brian«: „Wie sollen wir uns verpissen, oh Herr?“

Nun kann man das drehen und wenden, wie man will, man mag den Erfolg – wie die Band – für irrsinnig halten, mehr noch – mit Klosterman – den nach Cobains Selbst­mord anschwillenden Status. Was bleibt, sind drei Stu­dioalben, die Qualität der Kompositionen erschreckend und verwirrend, sowie dieses Livealbum, das bei den Vorzeichen und unter nor­ma­len Umständen hätte scheitern müssen – und das doch so voller Hoffnung klingt, so blue und zugleich optimistisch nach einem echten Ent­wurf für das würdevolle Älter­wer­den eines Indie-Rebel­len, den der Mainstream auffressen wollte. Bei den Auf­nahmen spielte die Band – zweifels­frei als zähne­knir­schend sarkastischen Gag – ein paar Takte Lynyrd Sky­nyrd, um dann für zehn Jahre alte Meat Puppets-Songs deren Curt und Cris Kirkwood auf die Bühne zu holen (Track 10, 11, 12). Danach trommelt Dave Grohl den Start von „Scentless Apprentice“, alle spie­len „All Apologies“ von „In Utero, Cobain ein paar Takte „Ne­ga­tive Creep“, und mit einem Leadbelly-Song hört alles auf.

Die Unplugged-Session sollte Teil eines Livealbums wer­den. Kurt Cobains Tod weniger als drei Monate später vereitelte dies. Das schließlich 1996 veröffentlichte „From The Muddy Banks Of The Wishkah darf als zweite Hälfte des Vorhabens gesehen werden. In der fast exakt identischen Länge (5 Sekunden Unterschied) hat man hier die schädeldecken-sprengende Energie und Wucht von ei­ni­gen der größten Momente des normalen Livesets von Nirvana. Die Vorderseite derselben Medaille. MTV Un­plugged in New York schoss fast weltweit auf die Pole-Positionen der Charts, allein in den USA wurden während der ersten Woche mehr 300.000 Einheiten verkauft. Wahr­scheinlich ist es eins der letzten wichtigen Livealben aus einer Zeit, als Alben noch Relevanz hatten.

Matthias Penzel

NIRVANA: MTV Unplugged in New York. Geffen. Erschienen: 1.11.1994. Aufgenommen: 18.11.1993. Das ganze Konzert ist hier zu sehen.
Besetzung: Kurt Cobain (Gitarre, Gesang), Krist Novo­se­lic (Bass, Akkordeon, Gitarre), Dave Grohl (Schlagzeug, Gesang, Bass), Pat Smear (Gitarre), Lori Goldston (Cello), Curt Kirkwood (Gitarre), Cris Kirkwood (Gitarre, Bass, Gesang)

Songs:
1. About A Girl
2. Come As You Are
3. Jesus Doesn’t Want Me For A Sunbeam
4. The Man Who Sold The World
5. Pennyroyal Tea
6. Dumb
7. Polly
8. On A Plain
9. Something In The Way
10. Plateau
11. Oh Me
12. Lake Of Fire
13. All Apologies
14. Where Did You Sleep Last Night

NIRVANA: MTV Unplugged in New York bei Facebook sowie auf Myspace.