In sehr loser Folge wollen wir an dieser Stelle an Live-Alben der Rock- und Popgeschichte erinnern, die zu Klassikern geworden sind. Und es geht gleich gut los:
Hey! Wir sind die Ramones, das hier ist „Rockaway Beach“!
1-2-3-4: 28 Absätze zu „It’s Alive“ von Matthias Penzel.
Anlegen will man sich mit Ramoniacs nicht. Aber man befindet sich auf einigermaßen sicherem Terrain, behauptet man mal so: So richtig angekommen sind sie hier erst mit einem Auftritt im »Musikladen«.
„It’s Alive“, aufgenommen Silvester ’77 in London. Das war der Ort, an dem man zu der Zeit zu sein hatte. Das war das Venue. Und das war der Sound: 28 Songs, vier Plattenseiten lang.
Nach weniger als einer Stunde ist alles vorbei.
Das mit dem »Musikladen«, das war 1978. Auch Konzert in der Hamburger Markthalle. Ist den Erinnerungen eines Berliners zu trauen, dann legten sie auf der Tour auch einen Stopp in Berlin ein. Im Neue Welt. Ja, ja, später Huxleys Neue Welt, zwischen Bowling-Center und Kebab-Stube. Davon erzählte gerade neulich Alex Hacke. Von den Neubauten. Nicht zu verwechseln mit Axel Hacke, dem von der SZ, dem mit »Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens«.
Im Sommer ’74 gegründet, ein Jahr später von Rick Derringers Blue Sky Records zu einem Vorspieltermin eingeladen, war im Sommer ’76 klar, wie die Ramones klangen, wie die Ramones klingen und wie die Ramones immer klingen sollten.
Andere machten Songs über Autos oder Girls. Wir, sagte einmal Johnny Ramone, konnten nicht darüber singen, weil wir keine hatten. Also machten die vier Ramones Songs über das, was sie kannten. Oder fürchteten. Oder zum Lachen fanden. Oder zum Kotzen. Klebstoffschnüffelei, Hirnwäsche, Eierköpfe und so.
Lutscher hieß ein Typ, den ich damals kannte. Der hatte an die 400 Platten. Jeder von uns hatte so um die fünfzig, höchstens hundert Platten. Lutscher hatte alles, Metal, Dictators, Stooges, Hardcore. Die meisten hatte er nie gehört. Keine von seinen Platten kannte Lutscher sonderlich gut. Nur die Sachen einer Band. Die erkannte er in Sekunden. Lutscher wusste, welcher Song, welches Album, welche Plattenseite. Manchmal erkannte er einen Song schon am 1-2-3-4.
Die Ramones hatten alle denselben Nachnamen, waren keine Brüder, behandelten sich aber wie welche: Sie redeten wenig miteinander. Viel spricht dafür, dass sie sich hassten. Der Sänger, der mit der Brille, der lange, Joey: starb 2001. Johnny, der Gitarrist, 2004. Dee Dee, der irgendwann ausgestiegen war, starb 2002. Heroin. Es gab auch andere, die ausstiegen, verschwanden und zurückkamen. Drummer. Zählen nicht. Und CJ, Ersatz für Dee Dee.
Für den Vorspieltermin ’75 vermittelte Blue Sky Records der Band einen Gig im Vorprogramm von Johnny Winter. Vor 20.000 (Waterbury, Connecticut).
Joey hat in dem Film »Hard Core Logo« einen seiner letzten Auftritte. »Hard Core Logo« ist die Story einer Band, mehr Longpoem als Prosa. Den Autor, Michael Turner, kennt man von »Das Gedicht des Pornographen«, mehr Roman als Gedicht. Zu „It’s Alive“ sagt er: „Hab ich immer noch. Wo ich sie mir jetzt noch mal angehört habe, fiel mir mehr dieses Schonungslose auf als die Songs selbst. Die Songs, wunderschön kompakt und simpel; einer nach dem anderen, unterbrochen, meistens, nur vom 1-2-3-4 am Ende jedes Songs, und dann der nächste. Wer Kubricks »Shining« gesehen hat, weiß, was ich meine, wenn mich das an den kleinen Jungen erinnert, der mit seinem Dreirad durch die Korridore des Overlook Hotels rast. Fußboden (laut), Teppichboden (leise), Fußboden (laut), Teppichboden (leise). ‚It’s Alive‘ hat etwas von diesem seriellen Pattern; und irgendwo ist immer auch das da, was der Junge irgendwann am Ende des Gangs vorfindet: die Zwillingsschwestern, ermordet von ihrem Vater, die ihn fragen, ob er mitkommt, in den Tod, als Toter.“
Als sie im Sommer ’76 erstmals in London auftraten, waren sie fast Synonym mit CBGB, dem Schuppen auf der Bowery. Ein Name, ein Logo, ein Laden voller attitude: 1-2-3-4 Buchstaben, auf T-Shirts in aller Welt zu bestaunen: Bumm-Bumm-Bumm-Bumm! Bei dem Auftritt in London waren wenige Zuschauer, darunter The Clash, Damned, Johnny Rotten. Die machten danach einfach los, schrieben Geschichte. In den Toiletten backstage teilten sich Dee Dee und Sid Vicious Betäubungsmittel. Ins Klo griff nur Sid, wie in der Jugendverschwender-Doku »Please Kill Me« nachzulesen.
Der beste Band-Bio-Comic in der Reihe »Hard Rock« („Unauthorized and proud of it“) ist der über die Ramones, Untertitel: »The Birth Of Punk«.
Ein paar Häuserblocks entfernt von CBGB, und doch Welten von den Vororten Queens und Forest Hills, wurden die Ramones am 18. März 2002 im Waldorf Astoria Hotel in die Rock And Roll Hall Of Fame aufgenommen. Die Festrede hielt Eddie Vedder. In den USA ist bis heute nur ein einziges ihrer Alben vergoldet worden: „Ramones Mania“, 1994. Die erste Gold-Trophäe, die Johnny erhielt, schickten Skid Row, die erste für Joey kam von den Toten Hosen – beide wegen Ramones-Coverversionen.
Dee Dee kannte Johnny aus der Nachbarschaft. Dee Dee wollte singen, Johnny hatte einen Bass. Johnny spielte mit Mickey Leigh in einer Band. Mickeys Bruder hieß Jeffrey und sang bei Sniper. Jeffrey nannte sich Joey – und sollte trommeln. Auf der Suche nach besseren Aussichten hingen Dee Dee und Johnny auf den Dächern der Häuserblocks rum. Rauchten und quasselten und schwiegen. Unten wollte eh keiner was mit ihnen zu tun haben. Schnüffelten Klebstoff. Joey war lang wie eine Bohnenstange, die Luft da oben ganz seine Welt. Er reagierte kaum, wenn man mit ihm sprach. Joey sah auch fast nix. In den Straßen und Hinterhöfen der Kindheit gab es keine Blumen, auch keine Blumenkinder. Joeys Band Sniper spielte so Glam/Glitter-Zeug; trat im Coventry auf, einem Schuppen in Queens. Im Village verkaufte Joey in Acryl getränkte Plastikblumen, Bilder mit Gemüse drauf und so Zeugs. Johnny spielte in der Highschool bei Tangerine Puppets. Deren Gitarrist war Tommy. Guter Typ, konnte einwandfrei bis vier zählen. Danach machte Tommy was anderes. Er bekam einen Job als Toningenieur. Bei Performance Studios. So eine Art Studio- und Proberaumkomplex, wo die Ramones erste Gigs spielten. Eintritt: $2,00. Außer Freunden kam so gut wie niemand. Dee Dee, der singen wollte, schrie sich schnell heiser, wechselte zum Bass, Johnny zur Gitarre, Joey ans Mikro, und der einzige Musiker wurde Trommler. Der lebt noch und stellt sich als Architekt der Ramones dar.
Dann kannte ich einen anderen Typen, der nannte sich Joey. Der fuhr für das Konzert in Hamburg 600 Kilometer. Den kann man heute noch anrufen, dann leiht er einem „It’s Alive“ aus. Weil er ehrlich, straight, wenig subtil ist, beschmipft er einen vorher noch, dass man das Album nicht selbst hat. Einmal, backstage bei den Hosen, traf er Dee Dee. Er ging zu ihm hin und sagte, diese Rap-Sache, die Dee Dee nach seinem Split von the brudders vorgelegt hatte, war scheiße. Zu einem weiteren Gedankenaustausch, so einer Art Gespräch zwischen Dee Dee King und Joey aus Heidelberg wollte es danach nicht mehr kommen. So ist der Typ halt: ehrlich, straight, wenig subtil. Warum kenne ich nur Typen wie Lutscher und Joey? Weit und breit keine Sheena, keine Judy oder Headbanger Suzy…
So wie Dee Dee und Johnny kam Joey in der Schule mit niemandem klar und in der Nachbarschaft auch nicht. Er war von Geburt an krank, litt an manischem Verfolgungswahn und allen möglichen anderen Hang-ups. Dee Dee litt an schizophrenen Schüben und Auto-Aggression – typisch für einen mit Papa aus der Army, blauäugige Mama aus Berlin. Joey und Tommy sprachen fast nie darüber, dass sie aus jüdischen Elternhäusern kamen.
Der erste richtige Drummer (nach Proben mit Joey, der zum Sangesmikro wechselte) war also Tommy, geboren in Ungarn, Kind von Holocaust-Flüchtlingen. Dann kam Marky. Der hieß vorher Marc Bell, hatte mit Richard Hells Voidods „Blank Generation“ eingespielt. Davor, was nicht jeder weiß, zwei Alben mit Dust. Für ein Plattenlabel, Kama Sutra, dessen Teilhaber als Abzocker mehr berüchtigt als berühmt wurden und deren Vertrieb Buddah in Mafiaprozessen Erwähnung fand.
Nach Marky kam Ritchie, dann Elvis, der am meisten vergessene Ramone. Man kannte sich. Von CBGB’s und der Szene da. Elvis Ramone half bei zwei Gigs aus (Ende August 1987 in Providence, Rhode Island, und Trenton, New Jersey). Abseits davon nannte er sich davor und danach Clem Burke – und trommelte u. a. bei Blondie.
Als „It’s Alive“ aufgenommen wurde, waren drei Alben erschienen: „Ramones“, „Leave Home“ und „Rocket To Russia“. Dann „Road To Ruin“. Darauf war erstmals so eine Art Ballade („Questioningly“). Und so eine Art Gitarrensolo („Go Mental“). Danach erschien „It’s Alive“.
Die Ramones spielten über 2.000 Auftritte. Unter den irrsinngisten Bedingungen. Eins machten the brudders nie: fadderland US of A während der Baseball-Saison verlassen.
In dem Film »Bikini Bandits Go To Hell« mimt Dee Dee den Papst; gegenüber Maynard James Keenan als Teufel … und Jello Biafra als „Evil Porn Director“. Im selben Jahr, 2002, spielte Johnny in dem Low-Budget-Sci-Fi-Streifen »Stranded: Náufragos« mit. Kommt einem spanisch vor? War es auch.
Johnny schämte sich für die Anti-Reagan-Message in „Bonzo Goes To Bitburg“. Johnny, überzeugter Republikaner, beinharter Sammler von Baseballkarten (auch Nazi-Devotionalien) und Yankees-Fan, war nach frühen Gigs der Ramones beleidigt, als Lou Reed riet, er solle sich eine richtige Gitarre besorgen. Johnny behielt seine Mosrite, ein Modell, das außerhalb der Countryszene kaum Beachtung fand.
An den Auftritt im Savoy Tivoli, San Francisco, im August 1976, erinnert sich V. Vale, Macher von »Search & Destroy« und RE/Search-Herausgeber: „Dreißig Leute waren im Publikum, hinter mir ein wüster Haufen, seltsam gekleidete Musikertypen, zu dunkel für Kalifornien – wie Abkömmlinge von Warhols Factory. Später erfuhr ich, dass das Mitglieder der Nuns waren, einer der ersten Punkbands in San Francisco. Das war Jahre vor MTV. Wenn damals im Fernsehen Musik kam, dann so was wie ELP, wo einer hoch oben in der Luft an einem Konzertflügel Saltos machte. So was wie die Ramones hatte ich nie zuvor gesehen.“
Am 13.11.1978 spielten sie im Vorprogramm von Black Sabbath (und einer neuen Band aus L.A.: Van Halen) in Atlanta. Im Dezember spielten sie bei den vorerst letzten Sabbath-Shows mit Ozzy Osbourne (und ohne Van Halen in San Bernardino, Long Beach, Phoenix).
Jeder hat seinen Lieblings-Beatle, jeder hat seinen Lieblings-Ramone. Der Taufpate der Ramones war ein Beatle. Paul Ramone nannte sich sonst Paul McCartney, und er war der Bassist. Das mochte ja noch angehen, aber dass Ramones-Bassist und Namensfinder Dee Dee sich selbst den Vornamen eines Mädchen gab, das fand Johnny unmöglich. Hasste er.
Richard Reinhardt nannte sich bei Velveteen Richie Beau. Am 13.2.1983 trommelte er das erste Mal für die Ramones. Als Ersatz für Marky. Befragt, was aus ihm geworden sei, sagten the brudders, er habe mehr Geld gewollt, werde sich jetzt wohl Led Zeppelin anschließen. Vier Jahre und 500 Konzerte später (am 12.8.1987) hatte Richie genug. Stieg aus. In dem Film »End of the Century: The Story of the Ramones« sieht er mit Krawatte und Hemd aus wie ein Banker. Dass er, so wie alle Ramones-Drummer überlebt hat, die anderen Drei nicht, dass das Ende so ist wie das Gegenteil von Spinal Tap: ärgert die besonders ernsthaften Ramones-Maniacs ungeheuer.
Joey und vielleicht auch Dee Dee waren das politisch gute, also linke Gewissen der Band. Joey der Beatnik. Tommy und Marky kaum auseinanderzuhalten, Drummer halt. Von seinen Fans wurde Johnny gern das Hirn genannt, also geschäftlich… Wie?!?! Ja, ja, also, rein geschäftlich. Johnny wählte nicht nur konservativ, er war das auch. Keine Drogen, keine Exzesse. Hätte er nicht die ganzen Gigs gebucht, wie sonst hätten sie je Kohle gemacht? Wie sonst hätte es Johnny geschafft, kein Footballmatch zu verpassen? Sie verdienten vor allem nach ihrem Tod sehr viel, vor allem mit dem Verkauf von Schlüsselanhängern, Handtäschchen und T-Shirts (auch im Angebot bei Tchibo, direkt neben den Motiven Rolling Stones und Beatles).
Matthias Penzel
The Ramones: It’s Alive. Sire Records Erschienen: 1979. Aufgenommen am 31. Dezember 1977 im Rainbow Theatre in Finsbury Park, London.
Besetzung: Johnny Ramone (Gitarre), Joey Ramone (Lead Gesang), Dee Dee Ramone (Bass), Tommy Ramone (Schlagzeug)
Songs:
1. Rockaway Beach
2. Teenage Lobotomy
3. Blitzkrieg Bop
4.I Wanna Be Well
5. Glad To See You Go
6. Gimme Gimme Shock Treatment
7.You’re Gonna Kill That Girl
8. I Don’t Care
9. Sheena Is A Punk Rocker
10. Havana Affair
11.Commando
12. Here Today, Gone Tomorrow
13. Surfin’ Bird
14.Cretin Hop
15. Listen To My Heart
16. California Sun
17. I Don’t Wanna Walk Around With You
18. Pinhead
19. Do You Wanna Dance?
20. Chainsaw
21. Today Your Love, Tomorrow The World
22. Now I Wanna Be A Good Boy
23. Judy Is A Punk
24. Suzy Is A Headbanger
25.Let’s Dance
26. Oh Oh I Love Her So
27. Now I Wanna Sniff Some Glue
28. We’re A Happy Family
THE RAMONES: IT’S ALIVE
Sire Records
Erschienen: 1979
Aufgenommen: Am 31. Dezember 1977 im Rainbow Theatre in Finsbury Park, London
Besetzung: Johnny Ramone (Gitarre), Joey Ramone (Lead Gesang), Dee Dee Ramone (Bass), Tommy Ramone (Schlagzeug)
Songs:
1.Rockaway Beach
2.Teenage Lobotomy
3.Blitzkrieg Bop
4.I Wanna Be Well
5.Glad To See You Go
6.Gimme Gimme Shock Treatment
7.You’re Gonna Kill That Girl
8.I Don’t Care
9.Sheena Is A Punk Rocker
10.Havana Affair
11.Commando
12.Here Today, Gone Tomorrow
13.Surfin’ Bird
14.Cretin Hop
15.Listen To My Heart
16.California Sun
17.I Don’t Wanna Walk Around With You
18.Pinhead
19.Do You Wanna Dance?
20.Chainsaw
21.Today Your Love, Tomorrow The World
22.Now I Wanna Be A Good Boy
23.Judy Is A Punk
24.Suzy Is A Headbanger
25.Let’s Dance
26.Oh Oh I Love Her So
27.Now I Wanna Sniff Some Glue
28.We’re A Happy Family