Gelungenes Kompendium
– Christina Mohr mag eigentlich keine Pop-Anthologietexte, aber in dieser Woche macht sie eine Ausnahme: für ihre Kolumne hat sie über die Erfahrungen gelesen, die andere Autoren mit deutschsprachigen Liedtexten gemacht haben. Dabei kamen ihr sogar sofort Ideen für die weiterführende Textexegese…
Ich bin keine Pop-Anthologie-Freundin: zu oft schon habe ich mich durch höchstens mittelmäßige Zusammenstellungen von Beat-, Punk-, Rock- und Samstagabendstories gequält, die die eigentlich originellen Aufhänger durch schnarchige Dorfpunk-Rip-Offs und die ewiggleichen Jungsgeschichten zerstörten. Die wenigen Perlen bleiben in den 250-Seiten-Konvoluten auf der Strecke, überdies kommen immer dieselben üblichen Verdächtigen zu Wort.
Deshalb öffnete ich den bei Orange Press erschienenen Band „Lyrix – Lies mein Lied. 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte“ mit einer Mischung aus Skepsis und ennui. Und wurde – nicht in meinen Vorurteilen bestätigt, sondern zum überwiegenden Teil positiv überrascht. Es gibt auch in diesem Buch viele bekannte Namen aus dem Popjournalismus bzw. -Autorentum und Damals-im-besetzten-Haus-Geschichten: Spex-Autor Max Annas beschreibt eindrucksvoll seinen Erstkontakt mit den Sternen und ihrem Song „Fickt das System“, der gewiss radikaler war als die reggaehörenden Mitbewohner, aber auch so verwirrend, dass niemand nach der Band fragte, die ständig aus Annas‘ WG-Zimmer tönte.
Herausgeber Erik Waechtler fungiert mit seiner Udo Lindenberg-Neuinterpretation als Augenöffner: er präsentiert uns‘ Udo als echten gender blender, und das schon 1973. In „Ganz egal“ bewundert Lindenberg James Dean und Elvis Presley ganz offen wegen ihrer weiblichen Eigenschaften: Dean, weil er auf der Leinwand ganz unmännliche Tränen vergoss, und Presley, weil der seine Hüften „wie ’ne Frau“ schwang. Den Typen auf der Straße „einfach so“ zu umarmen, traut sich Udo zwar noch noch nicht, aber ein Anfang ist gemacht – ausgerechnet von Udo Lindenberg, wer hätte das gedacht.
Widersprüchliche Widersprüche
Auch die Goldenen Zitronen begaben sich – zu bierseligen Funpunk-Zeiten, wohlgemerkt – mit „Daniel“ auf heteronormativ dünnes Eis. Linus Volkmann wählte diesen Song, um endgültig und für alle Zeiten den Zitronen das verdiente Denkmal zu setzen. Ja klar, Bier tranken Schorsch Kamerun und Ted Gaier auch, aber sich 1986 im lederbejackten Macker-Umfeld zu schwulem Händchenhalten zu bekennen, war sicherlich mehr Punk als sich den schon damals längst mainstreamigen Irokesenschnitt zu scheren. Die Goldenen Zitronen kommen in „Lies mein Lied“ gleich nochmal vor: Ex-Mitglied Ale Dumbsky erzählt uns was zur Geschichte des Goldie-Evergreens „Für immer Punk“, den die Band aus guten Gründen bis heute nicht live spielen will.
Weiter im Text: Sonja Eismann rehabilitiert die Lassie Singers in ihrem Artikel über „Liebe wird oft überbewertet“ als ernstzunehmende Kritikerinnen der als normal erachteten Paarbeziehung und befreit Christiane Rösinger und Kolleginnen vom Ruch der leichtgewichtigen Spaßcombo. Die widersprüchlichen Widersprüche, die sich in den NDW-Klassikern „Kebabträume“ (Mittagspause, DAF) und „Der Mussolini“ (DAF) ergeben, werden auch im Text von Klaus Walter nicht gänzlich aufgelöst, aber immerhin angesprochen; Wolfgang Frömberg singt unter der Überschrift „Die mehrfach gespaltene Persönlichkeit“ ein Loblied auf Kristof Schreuf und sein „Bourgeois with Guitar“, Erik Waechtler dagegen – nochmals vertreten – zeigt sich offen enttäuscht von Blumfelds Werdegang: ausgehend von Blumfelds Song „Ich – wie es wirklich war“ resümiert Waechtler desillusioniert: „Die ersten zwei Alben von Blumfeld haben etwas versprochen. Sie hatten dieses anarchistische Aufbruchsmoment – diesen intellektuellen Anarchismus (…). Aber das war eben auch schon alles!“
So könnte man jetzt seitenweise weitermachen, z. B. erwähnen, wie sich Gunnar Mergner an Marcus Wiebusch (…But Alive, Kettcar) abarbeitet, Zita Bereuters Hommage an Gustav/Eva Jantschitsch und ihre sehr eigene Poetik nacherzählen oder anhand von Bernd Stieglers kundiger Betrachtung Tocotronic als philosophische Leichtgewichte entlarven, die aber ein Händchen für perfekte Pop-Texte haben. Man könnte aber auch einfach sagen, dass „Lyrix – Lies mein Lied“ ein gelungenes Kompendium ist, das sehr deutlich dazu aufruft, bei deutschen Texten mal wieder genauer hinzuhören. Und beides tun wir hiermit.
Zu den Autoren:
Erik Waechtler, geboren 1974 in München, Studium der Literatur, Philosophie und Geschichte. In seiner Jugend Sänger und Gitarrist diverser Rockbands. Über zehn Jahre Rundfunkjournalist. Seit 2006 Autor, Regisseur von Dokumentarfilmen und Fernsehjournalist (arte, BR, WDR u. a.). Erik Waechtler lebt in München.
Simon Bunke, geboren 1976 in München, Studium der Germanistik, Komparatistik und Theaterwissenschaft an der LMU München. 2006 Promotion in Germanistik. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Paderborn.
Erik Waechtler, Simon Bunke (Hg.): Lyrix – Lies mein Lied. 33 1/3 Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte (Orange Press, Klappenbroschur, 256 Seiten). Zum Verlag.
Gerade erschienen: Platten, mit denen man den oben aufgenommenen Faden weiter spinnen kann:
Zu ihrem 20-jährigen Bandjubiläum haben Die Sterne das Mini-Album „Für Anfänger“ aufgenommen: es beinhaltet sieben neu eingespielte Songs, zwei davon Coverversionen („Ich halt es nicht aus“ von Die Regierung und „Ich weigere mich aufzugeben“ von Superpunk) plus fünf Sterne-Klassiker wie „Universal Tellerwäscher“, „Was hat dich bloß so ruiniert“ und natürlich „Fickt das System“. Musikalisch kein Erdbeben, aber Grund genug, sich die TEXTE mal wieder genauestens zu Gemüte zu führen.
Die Sterne: Für Anfänger. EP, 7 Tracks. Materie Records (Rough Trade). Zum Label.
Cliquenedition
Linus Volkmann betreibt jetzt auch ein eigenes Label, auf dem er nur sich und seine besten Freunde featuret: in der „Cliquenedition“ sind gerade zwei von Meike Wolf wunderschön gestaltete Split-Singles erschienen, streng limitiert auf 300 Exemplare, versteht sich. Die Cliquenedition soll fünf Folgen (fünf Freunde?) lang werden, die ersten beiden werden bestritten von Bum Khun Cha Youth/Quasi Zombie (aka Felix Scharlau) und Bum Khun Cha Youth/Jens Friebe.
Beide werden an dieser Stelle heftigst empfohlen, auch wenn Jens Friebe ausnahmsweise englisch singt: „(Not Born For) Plot-Driven Porn“ heißt der Track, den er mit Chris Imler und Vera Kropf (Luise Pop) aufgenommen hat und mutmaßlich sein einziger Ausflug ins Englische bleiben wird, weil er laut eigener Aussage in Fremdsprachen noch komplizierter textet als auf Deutsch.
Friebe ist außerdem die nur unzureichend verschleierte Hauptfigur in Bum Khun Cha Youths‘ „Finger weg vom Aupair“, dessen Titelzeile auf ein Zitat von Jens‘ Mutter zurückgeht, die mit ihrer Warnung keinen Erfolg haben sollte…
Cliquenedition # 1: BKCY/Quasi Zombie. Cliquenedition # 2: BKCY/Jens Friebe (beide Tumbleweed Records). Zum Label.
Christina Mohr