Geschrieben am 17. November 2012 von für Bücher, Crimemag

Alf Mayers „Blutige Ernte“: Jack Reacher’s Rules

Tu’s einmal, und zwar richtig

– CrimeMag, wir geben es gerne zu, ist Jack-Reacher-Fan. Allerdings bietet die Figur von Lee Child auch genug Aspekte, um sich immer wieder mit ihr zu beschäftigen – voilà:

Tom Cruise war möglicherweise der erste Adressat dieses kleinen, 152 Seiten starken Handbuchs. Denn er, zwei Köpfe kleiner als die literarische Vorlage, wird ab 3. Januar 2013 in unseren Kinos „Jack Reacher“ sein. Nicht auf die Größe, auf die Haltung komme es an, meinte der Autor Lee Child zur Verfilmung seines Thrillers „One Shot“ (dt. Sniper), in dem Regisseur Werner Herzog einen Ultra-Bösewicht spielt. Erste Trailer geben einen Eindruck, wie Cruise die Herausforderung meistern wird.

Ein Held, überall aus dem Auto zu werfen …

Oh Mann, war meine erste Reaktion gewesen, als ich der Verlagsankündigung der New Yorker Delacorte Press für „Jack Reacher’s Rules“ begegnete: Jetzt auch noch Ratschläge und Erfolgsstrategien eines Action-Helden für Manager?

Das wie eine alte Kladde daher kommende Büchlein mit qualmendem Einschussloch aber bleibt netterweise bei seinen Leisten. Es geht ausschließlich um Jack Reacher und die Welt nach dessen Wille und Vorstellung. Das einzige an Theoriebildung liefert Reachers Erfinder Lee Child in einem etwas müden Vorwort. Wir alle gehören danach zu irgendeinem Stamm, sie alle hätten ihre eigenen Regeln, diese „tribes“; Reacher habe eben seine Regeln und seinen Stamm soweit zurückgestutzt und geschnitzt, dass es nur ihn gebe – als seinen eigenen Stamm, mit seinen eigenen Regeln. Die werden in 58 Mini-Kapiteln aufgeblättert, von „Sei vorbereitet“, „Ein Mann betritt eine Bar“, über „Wie man Hände schüttelt“ zu „Gesetze des Kaffees“, allerlei Militärpolizei- und Army-Internas, „Reisen ohne Gepäck“ oder „Achte deinen Gegner“ bis zu „Frauen“ und „Wie man die Stadt verlässt“. Die meisten dieser Infos sind wörtliche Zitate aus den bislang 17 Jack-Reacher-Romanen, die hier im CrimeMag schon mehrfach Thema waren, zuletzt die beiden jüngsten „The Affair““ und „A Wanted Man“. Die Kompilatoren Dot Youngs und Val Hudson haben einen guten Job gemacht, leider werden sie nur auf der Impressumseite und dort in 5-Punkt-Schrift erwähnt. Eine deutsche Ausgabe, erfuhr ich beim Lee-Child-Verlag Blanvalet, ist derzeit noch nicht vorgesehen (dazu ganz unten mehr.)

Lee Child (wirklicher Name Jim Grant), Jahrgang 1954, ist mit dem ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher auf eine Goldader gestoßen. Der in Birmingham aufgewachsene Brite mit Wohnsitz in Manhattan seit 1998, kam zum Schreiben, als der britische Privatsender „Granada Televison“ seine TV-Produzentenkarriere abrupt beendete und den als Betriebsrat auch gewerkschaftlich engagierten Liberalen feuerte. Mit Serien wie „Brideshead Revisited“ oder „Prime Suspect“ hatte Granada vorgemacht, dass Kommerzialität nicht den Verlust und Verrat jeglichen Niveaus bedeuten muss. Immerhin diese Erfahrung nahm Lee Child mit, allerdings auch einen gehörigen, bis heute nicht besänftigten Groll. Nicht umsonst ist Jack Reacher in seinem ersten Roman „Killing Floor“ (von 1997) gerade unsanft von der Armee entlassen worden. Nicht umsonst ist Reacher Anti-Establishment, nicht umsonst gibt es in den Büchern immer wieder Anläufe und Anstrengung zu Solidarität und Zivilcourage – am schönsten bisher in den noch nicht bei uns erschienenen „61 Hours“ und „Worth Dying For“, wo es jeweils ältere, im Herzen jung gebliebene Damen sind, die sich zum Widerstand entschließen.

Mit Jack Reacher hat Lee Child einen Action-Helden entwickelt, den er buchstäblich überall aus dem Auto werfen und Handlung aufnehmen lassen kann und zudem dem ehrwürdigen straight-forward-Thriller überzeugend neues Leben einzuhauchen vermag. Selbstreflektion, auch das zeigen die „Rules“, ist bei Jack Reacher stets handlungsorientiert – darin dem (für mich bis heute unübertroffenen) ultratoughen und uns Leser ständig in seine Aktionen & Überlegungen einbeziehenden britischen Geheimagenten Quiller von Adam Hall verwandt.

Bei aller schönen Kurzweil taugt das Regel-Buch so auch als ein witziges Kompendium des Actionthrillers, als eine Einführung in die Kunst der vorwärtstreibenden Erzählung, die hier ihre Gesetze offen legt und der man bei sozusagen offen laufendem Motor ins Gestänge schauen kann. Dem Genre und dem stets kurz angebundenen Jack Reacher angemessen, kann das Büchlein neben Patricia Highsmiths „Suspense“ bestehen.

„Bleib immer in Bewegung“

„Keep on the Move“ ist eines der wichtigeren Kapitel. Jedes Leben braucht ein Ordnungsprinzip, das von Reacher ist ein rücksichtsloses Vorwärts. Bleib immer in Bewegung. Mach nie dasselbe zweimal. Ein Drifter zu sein, bedeutet, du schaust nach vorn, nicht zurück. Du konzentrierst dich auf das, was auf dich zukommt. Und du organisierst jedes kleinste Ding in deinem Leben so, dass du von einer Sekunde auf die andere einfach die Fliege machen kannst. Der beste Schlafplatz für einen Nomaden ist ein Motel. Bezahle in Cash und gib einen falschen Namen an (Reacher nennt da gern tote Baseballspieler oder Präsidenten.) Reacher ist ein Landstreicher – kein Obdachloser, das ist ein großer Unterschied, darauf leg er Wert – sondern ein Hobo. Der nomadenhafte William T. Vollman hat über diese ehrwürdige Daseinsform ein schönes Buch gemacht (Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild, Suhrkamp 2009). 17 Bücher lang nun schon driftet Reacher durch die USA. Wenn es sein muss, kauft er neue Kleidung für die nächsten Tage und für die nächste Mülltonne. Nicht immer findet er das Richtige für einen Mann seiner Größe, und wer per Anhalter unterwegs ist oder läuft, weil ihm das Warten zu doof wird, hat nicht immer eine Mahlzeit im Bauch. Reacher trägt das alles mit Fassung. Er ist der letzte Stoiker.

Seine Maxime: Besitze nichts, schleppe nichts mit dir herum. Zwei Tage an einem Ort sind so ziemlich das Maximum. Kein Haus, kein Auto, kein Handy, kein Koffer, keine Tasche, nicht mal ein Hemd zum Wechseln. Denn „eine kleine Tasche zu füllen, heißt auszuwählen und zu entscheiden. Ziemlich schnell habe ich dann eine große Tasche, dann zwei oder drei. Und einen Monat später bin ich wie ihr alle.“ Den Leitfaden durchzieht eine kleine Sammlung von „Was du nie von Reacher hören wirst“. Darunter: Ich gebe auf, es ist hoffnungslos. / Meine Frau versteht mich nicht. / Ruf mich zurück. /Gehen wir zu dir oder zu mir?

A propos Reacher und die Frauen, die ihn in den Büchern wie auch als Leserinnen mögen, das ist ein eigenes Kapitel, eigentlich eine eigene Betrachtung wert. Zu seinen Regeln zählt: I don’t do permanent. Und weiter: Love them and leave them. / Ältere Frauen … sind es wert. Und: Nur sehr erfahrene Männer sollten versuchen, die BH-Größe einer Frau anhand ihrer Stimme zu erraten.

„Forget what’s legal. Do what’s right.“

Auf Seite 100 findet sich „Reachers’s Moral Code“. Darunter: Ich will die Welt nicht verbessern, aber ich mag die Leute nicht, die sie schlechter machen. Oder: Tu’s einmal, und zwar richtig. Und dann: Tu nicht, was das Gesetz sagt, tu, was richtig ist. Mit diesem eigentlich in jedem Reacher-Roman variierten Satz stellen Reacher und sein Autor Child sich in die Tradition des Vigilantismus (wozu man stehen mag wie man will, offenkundig gibt es dafür ein zivilisatorisch unvermindert starkes Bedürfnis).“Forget what’s legal. Do what’s right“, lautete 1982 der Werbeslogan für den Charles-Bronson-Film „Ein Mann wie Dynamit“, Clint Eastwoods „Dirty Harry“ gehört hier dazu und jüngst noch der Cop-Film „Rampart“, nach einem Drehbuch von James Ellroy.

Zu tun, was richtig ist – wenn wir als Leser dem zu folgen bereit sind –, sind dafür bei Reacher alle Mittel erlaubt. Gegen Reacher zu kämpfen ist, als würde einem eine laufende Motorsäge zugeworfen. Triff sie schnell. Triff sie hart. Und triff sie oft, ist seine Devise. Ein Kopfstoß (headbutt) verändert das Spiel. Niemand erwartet einen Kopfstoß. Das wirkt, als würde man eine Schrotflinte zu einem Messerkampf mitbringen.

Wie die Thriller von Lee Child ist auch das Regelbuch nicht zimperlich. Etwa die Ratschläge für einen Messerkampf: Da sollte man besser nicht zu früh einen Schnitt kassieren. Denn nichts macht dich schneller fertig als Blutverlust. Reacher rät: Ruhig auch die Faust einsetzen. Viele vergessen, dass man zwei Hände hat als Kämpfer. Und: Wenn du verletzt wirst, greif an, weich nicht zurück. Es hilft, wenn du um dein Leben kämpfst. Wenn du auf einen Gegner triffst, der keine Schwachstellen zu haben scheint, geh auf seine Augen los. Reacher beherrscht das Handwerk des Tötens. Überleben ist ihm alles. Auch der Endkampf in dem jüngst auf Deutschen erschienen „Underground“ (Gone Tomorrow) ist entsprechend explizit. Hier erwürgt er eine (böse) Frau, weil er anders als in früheren Romanen keine Messer (mehr) mag. Für solcherlei Skrupel aber sind in dem Handbuch keine Passagen vorgesehen. Dort heißt es lapidar: „Eine Kehle aufzuschlitzen, braucht nicht viel Zeit. Mit einer anständigen Klinge und genug Gewicht und Kraft dauert es gerade so lange, wie es braucht, deine Hand 20 Zentimeter zu bewegen. Das reicht.“

Reacher ist eine Kampfmaschine. Dazu ein Beispiel aus „Worth Dying For“: Zwei riesengroße, mit Hämmern bewaffnete Footballspieler, die eben ein Auto platt klopften, vier Kubikmeter Knochen und Muskeln, 600 Pfund Fleisch, gehen da auf ihn los – und er sagt: „Hey Jungs, ein Quizfrage. Ihr habt vier Jahre auf dem College zugebracht und gelernt, wie man ein Spiel spielt. Ich pfeife auf Regeln, war 13 Jahre in der Armee und habe gelernt, wie man Leute tötet. Wieviel Angst habe ich also vor euch?“ Es folgt ein maliziöses, auf fast vier Seiten beschriebenes Bewegungsballett samt Waffen- und Nahkampfkunde, an dessen Ende Reacher den beiden bewusstlos am Boden Liegenden methodisch alle vier Handgelenke bricht. „Die beiden Kerle waren jemandes Waffe, jemand hatte sie auf ihn gerichtet. Kein Soldat lässt eine feindliche Waffe benutzbar herumliegen.“

Splitterhaft setzt sich in den „Rules“ das pragmatische Weltbild Reachers zusammen: Etwa wie man an Informationen kommt: „Es ist eine Sache des freien Willens. Welche Entscheidungen man trifft. Du kannst es mir jetzt erzählen, oder nachdem ich dir die Haxen gebrochen habe.“

Gewünscht hätte ich mir in dem Büchlein eine kleine Sammlung seines trockenen Humors, der hardboiled-Tradition absolut würdig. Etwa diese Stelle. „Hast du dein Testament gemacht?“, wird Reacher gefragt, bevor der Schlusskampf losgeht. Die Antwort: „Wozu denn? Nachdem sie mir meine Zahnbürste zerbrochen haben, besitze ich nichts mehr.“

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Die Reacher-Romane von Lee Child:
Größenwahn (Killing Floor, 1997)
Ausgeliefert (Die Trying. 1998)
Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
Zeit der Rache (The Visitor/ US: Running Blind, 2000)
In letzter Sekunde (Echo Burning. 2001)
Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
Der Janusmann (Persuader, 2003)
Die Abschussliste ( The Enemy, 2004)
Sniper (One Shot, 2005)
Way Out (The Hard Way, 2006)
Trouble (Bad Luck & Trouble, 2007)
Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
Underground (Gone Tomorrow) 2009/ deutsch 2012
61 Hours (2010)
Worth Dying For (2010)
The Affair (2011)
A Wanted Man (2012)

„61 Hours“ wird bei Blanvalet im Herbst 2013 als „61 Stunden“ erscheinen. Astrid von Willmann, die Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, räumt auf Nachfrage unumwunden ein: „Wir hinken in der Tat seit Jahren den englischen Ausgaben weit hinterher (aufgrund einer einstmals sehr verspäteten Übersetzung des ersten Bandes, des Verlagswechsels drei Bände später und aufgrund unseres traditionellen Jahresrhythmus), aber nach „61 Stunden“ bietet sich erstmals eine Beschleunigung an, drängt sich sogar geradezu auf, da der Band mit einem krassen Cliffhanger endet. Der Folgeband „Worth Dying For“ (deutscher Titel noch offen) wird zügiger, genauer: bereits nach einem halben Jahr erscheinen, sodass wir so wenigstens ein bisschen ‚aufholen‘. Die „Rules“ sind derzeit noch nicht eingeplant, dem Lektorat aber durchaus bekannt.

Alf Mayer

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