Geschrieben am 27. September 2014 von für Bücher, Crimemag

Alice Goffman: On the Run & Katherine Boo: Behind the Beautiful Forevers

Alice Goffman_On the RunAlice in Horrorland

– Wenn US-Soziologen ihre Studien im Milieu von Drogendealern und Kriminellen betreiben und ihre Erkenntnisse veröffentlichen, wird es spannend. Denn Titel wie „Gang Leader for a Day“ oder „On the Run“ wären hierzulande undenkbar. Manche Feldforscher verlieren beim allzu intensiven Eintauchen in die triste Unterwelt aber auch den Überblick, weil sie sich während ihrer „Total Immersion“-Praxis zu sehr mit ihrer Klientel identifizieren. Teil 2 (lesen hier Teil 1)

Für Alice Goffman, Soziologin an der University of Wisconsin-Madison und Tochter Erving Goffmans, ist eigentlich alles ganz einfach: Die USA kerkern fast so viele Menschen ein wie weiland Stalin: Fünf- bis siebenmal mehr Einwohner als europäische Staaten, weitaus mehr als China und Russland , nämlich drei Prozent der Bevölkerung: 2,2 Millionen sitzen in Gefängnissen und weitere 4,8 Millionen sind auf Bewährung freigelassen. „Nur die Zwangsarbeiter-Camps unter Stalin erreichten solch enorme Inhaftierungsraten“, schreibt sie in ihrem Erfahrungsbericht „On the Run“, den sie als Mix aus soziologischer Studie und Reportage über ihre sechsjährigen Erfahrungen in einem Problemviertel in Philadelphia, angereichert mit vielen Fußnoten, jetzt veröffentlicht hat.

Den kriminellen Alltag von Dealern oder untergetauchten Typen, die wegen krimineller Delikte gesucht werden, kann sie zwar anschaulich und spannend beschreiben. Aber ihr hermeneutischer Tunnelblick, der von einer systematischen Jagd staatlicher Organe ausgeht, die nach der „War on Drugs“-Kampagne völlig überdreht wurde und aus dem Ruder lief, ufert schnell zu einer simplifizierten Verschwörungstheorie aus: Ihre Prämissen hatte sie schon in den einleitenden Erklärungen über die neue Superknastnation erläutert, dazu liefert sie dann – so stellt es sich wohl aus ihrer Sicht dar – die entsprechenden Beweise. Die Debatte um den Zusammenhang von Bildungschancen und Kriminalität sieht sie eher als Statistikproblem: Rund sechzig Prozent aller Highschool-Abbrecher landen später im Knast – basta!

Das ist ihr Argument, mit dem das totale Versagen staatlicher Instanzen belegt werden soll. Egal, ob jugendliche Täter ihre Bewährungsauflagen missachten und bei neuen Delikten geschnappt werden, ob jemand in eine Schießerei verwickelt war oder Frauen misshandelt wurden: entweder ist die Sozialbehörde, die Polizei oder irgendein Amt für diese Delikte verantwortlich. Und da sie ihre traurigen Erfahrungen mit deprimierenden Familiensituationen drastisch-realistisch, meistens auch in einem melodramatisch-tränenreichen Stil beschreibt, dürfte mancher Leser auch bald zum Taschentuch greifen.

Sie als Weiße, die ursprünglich nur Nachhilfeunterricht für die Kids gab, wurde von den Schwarzen, bei denen sie wohnte, wie eine gute Freundin aufgenommen. Und dementsprechend eng und intensiv wurden die emotionalen Bindungen an diese Gruppierungen. Aber ihr Schwarz-Weiß-Raster ist einfach zu offensichtlich; eine kritische Distanz gegenüber ihrem Umfeld, das sie ja unter soziologischen Aspekten untersuchen will, blendet Goffman systematisch aus. Einige junge Kriminelle bleiben im Bandenkrieg nach Attacken feindlicher Dealer zwar auf der Strecke. Aber Alice Goffman möchte mit ihrem Alltagsbericht aus dem Mikrokosmos krimineller Außenseiter dennoch ein Plädoyer gegen staatlichen Interventionsimus liefern: Offenbar schweben ihr intakte Drogenenklaven mit besonderem Schutz für Kleinkriminelle als optimale Lösung vor.

„On the Run“ seien Millionen von Amerikanern, weil sie permanent auf der Flucht seien vor Polizei, Sozialamt und anderen staatlichen Instanzen, meint Goffman. Diese Bürokraten würden eine Atmosphäre von Angst und Schrecken erzeugen, um so ihre Macht zu stabilisieren. Dieses Paranoiaraster wirkt doch sehr überdreht. Selbst Jack Reacher, der ja absolut allergisch auf Behördenwillkür und Cop-Brutalität reagiert, würde diese These als akademische Spitzfindigkeit in der Ablage mit dem großen „B“ wie „ Bullshit“ entsorgen. Aber er würde sicher auch – wie der Rezensent – den Hut ziehen vor diesen Grenzgängersoziologen, die den Elfenbeinturm verlassen, um direkt an der Basis zu sondieren und intensiv einzutauchen in schmutzige und gefährliche Gewässer.

Katherine Boo_behind-the-beautiful-foreversBoo in Bombay: Reporterin ohne aufgeblasenes Ego

Drei Jahre (von 2007–2010) verbrachte die „ New Yorker“-Reporterin Katherine Boo, die schon als investigative Journalistin bei der „Washington Post“ auf Außenseiter an der Armutsgrenze spezialisiert war, in einem indischen Slum, um die Lebensbedingungen von Müllsammlern zu studieren. Sie ist mit einem indischen Politikwissenschaftler verheiratet und beschloss nach ersten Besuchen in Bombay (offiziell Mumbai), im Müllsammlerghetto Annawadi direkt am Flughafen zu recherchieren.

Was sie interessierte, war der Alltag dieser Menschen in der Armutsfalle: Welche Möglichkeiten hatten sie, aus dieser Hölle auszusteigen? Wurden sie von Behörden gefördert, wie kamen die Hindus mit den Moslems klar? Boo war auf Dolmetscher angewiesen, lebte nicht direkt im Slum, begleitete die Müllsammler und Resteverwerter aber zu ihren Arbeitsplätzen und eruierte in ausführlichen Gesprächen, welche Sorgen und Hoffnungen sie hatten. Um die Vertuschung von Todesfällen und Misshandlungen, von Beamtenkorruption und staatlicher Willkür zu entlarven, analysierte sie 3000 Akten, die sie auf der Grundlage des „Right to Information Act“ anforderte. Sie ist eine knallharte Beobachterin, die auch übelste Noir-Szenen mit korrupten und prügelnden Cops unaufgeregt und nüchtern beschreibt und ihre eigenen Empfindungen weitgehend ausblendet – ein angenehmer Kontrast zum egozentrischen Melodram von Alice Goffman.

Im Mittelpunkt steht die unter völligem Kontrollverlust praktizierte Selbstverbrennung der Fatima Shaikh, für die ihr Ehemann von der Polizei verantwortlich gemacht wurde. Es geht Boo um die Suche nach der Wahrheit in diesem korrupten Sumpf, um die Frage, wo ethische Normen bleiben, wenn Tatsachen verdreht werden und Behördenwillkür offenbar keine Grenzen kennt. „Den einzigen, denen man vertrauen kann, sind die Kinder“, schreibt Boo. Sie macht sich nach der Räumung der Müllkippe und nach der Veröffentlichung ihres Buches auch keine Illusionen über Spielräume für indische Reformen und neue Gesetzesinitiativen zur Abfederung gesellschaftlicher Konflikte und Ungerechtigkeiten. Aber ohne so eine Studie, meint sie, würde sich eben auch nie etwas verändern. Zweifellos das bewegendste und eindrucksvollste Buch dieser Ghetto-Studien! Katherine Boo kann man getrost als Schwester im Geiste George Orwells bezeichnen.

Peter Münder

Alice Goffman: On the Run. University of Chicago Press 2014, 277 S.
Katherine Boo: Behind the Beautiful Forevers. Life, Death and Hope in a Mumbai Slum. Portobello Books, 257 S. London 2012. Zur Homepage von Katherine Boo.
Sudir Venkatesh: Gang Leader for a Day. A Rogue Sociologist Crosses the Line. Penguin Books. 302 Seiten. London 2009. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage des Autors.
Ders: Floating City. A Rogue Sociologist Lost and Found in New York´s Underground Economy. Penguin Books 2013.

 

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