Geschrieben am 30. August 2014 von für Bücher, Crimemag

Alissa Nutting: Tampa

Alissa Nutting_ TampaScharfer Noir mit Femme fatale

– Alisha Nutting und ihr unterschätzter Roman „Tampa“. Eine Rezension von Alf Mayer.

Dieses Buch hat nicht wenige Kritiker in Verlegenheit gebracht. Vielen Besprechungen ist das anzumerken. Maren Keller auf Spiegel online sagte es gleich in ihrem ersten Satz: „Hätte ich dieses Buch privat gelesen, ich weiß ehrlich nicht, wie weit ich überhaupt gekommen wäre. Vielleicht bis Seite elf, auf der steht: ‚Ich will riechen, wie du in deiner Hose kommst.‘“

Fünf Druckseiten sind es bis zu diesem Satz, ich finde sie furios wie selten einen Buchbeginn in letzter Zeit. Aber schreiben wir jetzt erst fünf Mal:

  1. Ja, es ist ein schmutziges Buch, dieses „Tampa“ – das fängt anscheinend schon auf dem Buchumschlag an, mit einer „Autorin, die unglücklicherweise Alissa Nutting heißt“, meint Maren Keller.
  2. Ja, es ist ein schmutziges Buch, dieses „Tampa“ – weil alleine schon das Cover einem Knopfloch die Unschuld raubt.
  3. Ja, es ist ein schmutziges Buch – weil es darin explizit um Sex geht.
  4. Ja, es ist ein schmutziges Buch – weil es aus der Ich-Perspektive einer Pädophilen namens Celeste Price geschrieben ist, die vierzehnjährige Jungs vernascht.
  5. Ja, es ist ein schmutziges Buch, dieses „Tampa“ – aber nur für Leute, die noch nie einen „Noir“ gelesen haben. Oder sich schämen, das zuzugeben.
  6. Es ist ein schmutziges Buch, weil diese Celeste Price eine ordentliche Latte schrecklich verkommener Vorfahren hat.
Galerie der schmutzigen Kleinode

Das war jetzt eine Zugabe zu viel, aber nur, weil ich von „Tampa“ begeistert bin. Dieses Buch kommt nämlich in meine kleine Galerie der schmutzigen Kleinode, zu jenen „guilty pleasures“, für die leider auf all die Jahre Lesen gerechnet in etwa die Finger beider Hände ausreichen. Jim Thompson ist darin mehrfach vertreten, James M. Cain und sein Postmann, Chester Himes mit der Wochenend-Orgie „End of a Primitive“, Charles Willeford mit „Women Chaser“ und „High Priest of California“, Iceberg Slim mit „Trick Baby“, Kent Harrington mit „Dark Ride“, Vicki Hendricks mit „Miami Purity“, John Gilmore mit „Festish Blonde“, Christa Faust mit „Hardcore Angel“, Larry Block mit „Small Town“ und „Getting Off“ und neulich Tamara Faith Berger mit „Pussy“ (hierzu siehe CrimeMag).

Doch der Reihe nach. Celeste Price hält schließlich wie alle transgressiven Missetäter viel vom Vorspiel. Die Lust der Planung und Vorbereitung, die Jagd und das Kino im Kopf „davor“ zählen da mindestens ebenso wie die Ausführung der Tat. „Doing it was the only thing that took my mind off wanting it, and a short time later the need would only be stronger“, weiß Sherri Parlay, das weibliche Raubtier in Vicki Hendricks schweißtreibendem Florida Noir. „Sexual heat was always a permanent in me, no escaping it“, steht da ebenfalls in „Miami Purity” (1995).

killer-inside-me-thompsonRapunzel, Rapunzel, denkt sie und lässt das Haar herunter …

Celeste Price ist von ähnlichem Kaliber. 26 Jahre alt, hat sie nur pro Forma und des Geldes geheiratet. Der tumbe Ford teilt nicht nur seinen Namen mit dem bösesten aller Jim-Thompson-Helden („The Killer Inside me“, er ist auch Sheriff, aber da hören die Gemeinsamkeiten auf. Alisha Nutting kann sich solch augenzwinkernde Referenzen erlauben, auf den Publicityfotos mag sie aussehen, als könne sie kein Wässerchen trüben, als Autorin hat sie es faustdick hinter den Ohren.

„Tampa“ ist ein Debüt, das jeden Trommelwirbel verdient. Literatur hat die Autorin, auf deren weiteres Wirken man gespannt sein kann, in Florida und Alabama studiert. Sie lebt zur Zeit mit Mann und Tochter als Assistenzprofessorin in Ohio, wo sie das Literaturjournal „Witness“ betreut und als Redakteurin der „Fairy Tale Review“ arbeitet. Die darin abgedruckten Märchen freilich sind nicht harmlos. Eine von Nuttings Kurzgeschichten erschien zum Beispiel in der Anthologie „My Mother She Killed Me, My Father He Ate Me“ (Meine Mutter war es, die mich tötete, mein Vater der, der mich fraß). Die von ihr herausgegebene Kurzgeschichtensammlung „Unclean Jobs for Women and Girls“ erhielt den „Stacherone Preis“ für „Innovative Fiction“.
Als Celeste in der neuen Schulklasse nach sorgfältiger Auswahl ihr Opfer gefunden hat, Jack Patrick ist sein Name, jubiliert sie innerlich: „Rapunzel, Rapunzel, dachte ich. Ich öffnete den Haarknoten, schüttelte meine Locken und tippte mir mit der Bleistiftspitze gegen die Zunge.“

Das Buch beginnt mit der Nacht vor dem ersten Unterrichtstag, in der Celeste „in einer erregten Endlosschleife lautloser Selbstbefriedigung“ auf ihrer Bettseite liegt und keinen Schlaf findet.

„Bevor ich mich hinlegte, hatte ich mir ein seidenes Negligé und einen durchsichtigen Slip angezogen, natürlich heimlich, unter meinem Bademantel, damit mein Mann Ford nicht über mich herfiel. Immer will er alles kaputtmachen. Es ist zum Totlachen, dass die Leute meinen, alleine wegen unseres Aussehens wären wir das perfekte Paar. ‚Ihr beide seid wie die Gewinner einer Gen-Lotterie‘, hatte Fords Bruder in seiner Trauzeugenrede bei unserer Hochzeit gesagt… Eigentlich sollte ich Ford umwerfend attraktiv finden, jeder tut das.“ Aber Celeste hat ein großes Problem mit Ford. „Wie die meisten Männer von Frauen, die wegen des Geldes heiraten, ist Ford viel zu alt. Mit sechsundzwanzig bin ich zwar nur unwesentlich jünger, aber als Einunddreißigjähriger übersteigt er mein sexuelles Beuteschema um rund siebzehn Jahre.“

Alissa Nutting (© Aaron Mayers)

Alissa Nutting (© Aaron Mayers)

Wenn die Libido die Wand hoch geht

Schon diese ersten zwei Buchabsätze machen klar, hier ist nichts so wie es scheint, das steuert auf einen Abgrund zu. In Absatz drei krallt sich Celestes Libido bereits wenige Wochen nach der Hochzeit kreischend in die Mustertapeten des wohlbehüteten Vorstadthauses. „Beim Abendessen presste ich meine Schenkel aneinander, aus Furcht, beim kleinsten Nachlassen könnte ein schriller Klagelaut hervorbrechen und die Kristallweingläser zum Bersten bringen. Die Lust pulsierte so heftig in mir und setzte meine Schläfen, Brüste und Schenkel derartig unter Dauerstrom, dass es nur einer Winzigkeit bedurft hätte, um meine Schamlippen wie eine Bauchrednerpuppe zum Sprechen zu bringen.“

In „Tampa“ geht es um weibliches Begehren, das sich nicht an bürgerliche Regeln hält. Mary Gaitskill und Susanna Moore, zuletzt Tamara Faith Berger und die Autorinnen des libertären Undergrounds und Punks haben schon in diesen Furchen gepflügt.

Celeste und ihre Muschi können nur an die Jungs denken, die sie bald unterrichten wird. Der, den sie sich aussucht, darf nicht „schon zu weit sein“, sie will ihn sich nicht nur hörig machen, sie will sein Leben prägen. Bis auf Seite 105 zieht das Präludium sich hin. Seiten voller Suspense, Erotik und Psychodrama, Monologen und Tagträumen. Seiten, die einer weniger verklemmten Patricia Highsmith würdig wären. Während Jack, der Auserwählte, sich dann an ihre Brüsten schmiegt, schwelgt Celeste in ihrem eigenen, ganz speziellen Vorwissen:

„Ich lächelte bei der Vorstellung, was für ein Liebhaber er werden und welche Dinge er mit mir zum allerersten Mal tun würde. Ich würde seine sexuelle Messlatte sein: Sein ganzes Leben würde er vergeblich versuchen, jenen Zustand wiederaufleben zu lassen, in der er nichts wusste und alles bekam. Jede zukünftige Partnerin würde an die Mautstation seiner Erinnerung kommen und sich dem chancenlosen Vergleich mit mir stellen müssen.“

Gore Vidal_Myra BreckinridgeEin Noir-Charakter reinsten Wassers

Jener Zustand, in dem er nichts wusste und alles bekam – was für ein toller Satz. Letztlich ist das ja auch der Glückszustand eines Lesers, der mit den vor ihm ausgebreiteten Ereignissen überrascht und verführt wird. Alissa Nutting spielt souverän auf dieser Klaviatur. Die Stimme Celestes kann es mit den Off-Erzählstimmen in den besten Noir-Filmen aufnehmen. Da weiß jemand von seiner eigenen Verkommenheit und seiner Verdammnis, von seinem moralischen Versagen, seiner Schuld und seiner Schwäche, genießt jeden Strohhalm an Souveränität, Hinrichtungsaufschub und Lustgewinn.

Noir-Charaktere sind Zwangs-Charaktere, sie haben sich nur bis zu einem bestimmten Punkt im Griff, wie tabuisiert auch immer ihre Triebe, Süchte und Begierden sind. (Hier ist es Pädophilie, im Jahr 2014, eine weibliche Autorin über einen weiblichen Charakter; einen Mann hätte ich vermutlich deutlich problematischer gefunden.)

Viele Noir-Geschichten, im Film und im Roman, haben einen elementaren Antrieb: Gier oder Rachelust, Sucht oder Wut, Hunger oder Verlangen. Solchen Bedürfnissen sind die Protagonisten hilflos ausgeliefert, ihr Leben wird davon bestimmt. Bis hin zum Untergang. Dies auch gegen besseres eigenes Wissen. Oft gibt es Schuldgefühle, aber in den wirklich schwarzen Schwarzgeschichten haben sich die Akteure in ihr Schicksal ergeben – sie kämpfen nicht mehr dagegen an, bei Jim Thompson etwa umarmen sie ihre dunkle Seite.

Auch Celeste gehört zu dieser Kategorie. Jede sexuelle Episode, jede neue Variante, jedes neue Wagnis, auf dem Tisch, im Auto, im fremden Haus, alleine oder zu zweit, wenn sie Jack als Voyeuse im Fernglas beobachtet und masturbiert, ob real oder in der Phantasie, alles geschieht aus dem gleichen Antrieb: Das in mir ist unaufhaltsam, warum sollte ich es überhaupt aufhalten? Celeste weiß, dass sie anders ist, fast mitleidig schaut sie auf ihre Schülerinnen herab: „Wie ein Schatten würden ihre Bedürfnisse mit ihnen wachsen. Niemals würden sie glauben müssen, ihre Libido sei etwas Abartiges, das man in den hintersten Winkel des Bewusstseins pferchen musste und nur im Dunkeln füttern durfte.“

Bret Easton Ellis_american psychoEin Test für die Empathie des Leser

Alissa Nutting schreibt entlang einer dünnen Linie. Dem Mainstream und den Feuilletons erlaubt das Changieren zwischen geilen Details, echt scharfer Erotikliteratur und Satire, das Buch als angebliche Kreuzung aus Nabokovs „Lolita“ und Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ einzuordnen. (Mich wundert, dass Gore Vidals „Myra Breckinridge“ nicht bei diesen Schutzheiligen aufgezählt wird.) Ja, es gibt surreale Momente und Bilder, es gibt eine den Obsessionen Philip Roths verwandte Angst vor Tod und Älterwerden, was Celeste oft auf drastische Weise artikuliert. Anders als Ellis’ Patrick Bateman aber spielt bei Celeste ein ganzes Orchester an Sonderlingsgefühlen zur Polka auf, durchaus unterhaltsam und immer wieder mit neuen Volten überraschend. Es gibt einen Sinn für Situationskomik, etwa wenn Celeste anstatt mit ihrem Ehemann zu schlafen, sich lieber bei höchster Vibratorstufe mit dem Musikvideo einer Boygroup vergnügt.

Celeste ist eine sexy Heldin, eine femme fatale par excellence, eine verführerische Erzählerin, der die Autorin wie auch die hier ausdrücklich zu erwähnende Übersetzerin Verena von Koskull eine Stimme geben, die unter die Haut geht und lustvoll die feine Balance zwischen ordinärer und gewählter Ausdrucksweise auskostet. Etwa bei einem Voodooritual mit der Klassenliste:

„Ich befeuchtete meine Fingerspitzen mit dem farblosen Stempelkissen unter meinem Rock und schrieb ihre Namen auf die Bänke in der ersten Reihe, in der Hoffnung, irgendein Zauber würde sie geradewegs zu diesen Plätzen leiten und ihre Hormone die fürs Auge unsichtbare Aufschrift lesen lassen. Ich saß am Pult und spielte so lange an mir herum, bis ich wund und der Tisch feucht war …“

„Tampa“ ist ein Test auch dafür, wie weit die Empathie des Lesers zu gehen bereit ist – eines der Kennzeichen richtig guter Literatur, es sei an Patrícia Melos „Leichendieb“ erinnert (dazu siehe CrimeMag ). Ob das Buch auch mit einem Lehrer funktionieren würde, der vierzehnjährige Mädchen begehrt und verführt? Wäre es veröffentlicht worden? Haben wir hier einen Fall von Gender-Doppelmoral? „Sind die Jungs wirklich Opfer, oder haben sie einfach Glück?“, lautet der entsprechende Stammtischwitz. Diese Frage muss sich jeder Leser selbst beantworten.

Miami-Purity-660x1024Unterm Make-up lauert der Tod

Alisha Nutting unterlegt ihr wagemutiges Buch mit der unerbittlich tickenden Uhr des Alterungsprozesses, mit einer unterschwelligen Furcht vor Tod und Verwelken. „The Big Clock“, die verrinnende Zeit und was in ihr noch zu kriegen ist, auch das ein Thema des Noir. „Noir, das ist das Wissen um das, was man verliert“, zeigen die Bücher von Dennis Lehane (dazu siehe CrimMag). Siehe auch die Bemerkungen anlässlich der Besprechung von „Film Noir. 100 All-Time Favorites“.

Der Wahnsinn des Jugendkults erfährt hier eine schrille Spiegelung. Celestes Unersättlichkeit und Perversion ist nicht die Sucht nach Missbrauch von Schutzbefohlenen, es ist der pure Ennui, es ist die existentielle Angst vor dem Verblühen der Schönheit, vor dem frühen Tod im Leben, es ist die Angst vor dem Ü30. Es ist die Angst, keine Wünsche mehr zu haben, zu den Spießbürgern zu gehören, vor sich hinzurotten. Celestes Zeit mit Jack ist „ein Rennen gegen die Brandung der Sterblichkeit“. Wenn sie ihren 31jährigen Ehemann eine Zigarre rauchen sieht, macht ihn das „steinalt, als ob er seine eigene Asche rauchen würde“. Beim Anblick eines Toten, eine der heftigsten Szenen des Romans, muss sie ihre Lust bezähmen, sich Geld aus seiner Brieftasche zu nehmen, um sich zur Belohnung einen Schokoriegel zu kaufen.

Ab Kapitel 14, rund 50 Seiten vor dem Schluss, beschleunigt sich das Tempo, gibt es Vorgriffe wie: „Das schüchterne Auftreten von Jacks potenziellem Nachfolger täuschte über seine verborgenen Verderbtheiten so sehr hinweg, dass ich ihn zunächst völlig übersah …“

Hin und her gerissen war ich davon, wie die Autorin aus ihrer Geschichte herauskommt. Es ist brav und doch nicht, hat Bodenhaftung und doch genug Offenes, bleibt böse. Der Streit zwischen dem alt gewordenen Jack („seine Stöße wurde immer brutaler, als versuche er vergeblich, etwas zu spüren“) und seinem Nachfolger lässt die Sache auffliegen. Ebenso komisch wie albtraumhaft entblößt sich das verbotene Tun vor der ganzen Nachbarschaft. Celestes Schönheit hilft dieses Mal nicht mehr weiter, die Ermittlungsmaschine läuft. Die Familie ihres Ehemannes stellt ihr einen Anwalt, es kommt zum Prozess. Zwischen realitätstüchtigen und imaginierten Verteidigungsstrategien, Phantasmorgien noch im Gerichtssaal und der Reibung mit der Außenwelt – der Erdung der ganzen Geschichte – gelingt der Autorin ein beachtliches Kunststück. Celeste bleibt sympathisch. Wie das Noir-Heldinnen so an sich haben.

Megan Abbott

Megan Abbott (Quelle: meganabbott.com)

PS: Megan Abbott, eine der tiefgründigsten Vertreterinnen des neuen Noir, die ebenfalls von „Tampa“ angetan ist, erzählte, wie sie ihre Freundin, die Krimikritikerin Sarah Weinman fragte: „Is it really that dirty as they say?“ Weinman lächelte: „Only to people who don’t read crime novels.“

PPS: Alissa Nutting, das sagt eine kleine biografische Notiz, ging einst mit Debra Lafave in die gleichen Klasse. Diese geriet 2005 in die Schlagzeilen, weil sie später als Lehrerin wegen einer sexuellen Beziehung zu einem 14-jährigen Jungen vor Gericht kam. „Tampa“ aber ist keine Dokufiction, sondern eigenständige, sich über die Realität erhebende und in die Abgründe steigende Literatur.

PPPS: Chester Himes in seinem „End of a Primitive“: „Black son of a bitch has got to have some means of joining the human race. Old Shakespeare knew. Suppose he’d had Othello kiss the bitch and make up. Would have dehumanized the bastard.“

Alf Mayer

Alissa Nutting: Tampa (Tampa, 2013). Roman. Deutsch von Verena von Koskull. Hamburg: Hoffmann & Campe 2014. 292 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zur Autorin.

Tags :