Geschrieben am 12. September 2009 von für Bücher, Crimemag

Andrew Brown: Schlaf ein, mein Kind

Totenschlaflied

Starke Kriminalliteratur kommt aus Südafrika. Andrew Brown ist so ein Fall – Jahrgang 1966. Jurist und Schriftsteller. War während der Apartheid aktiv u.a. in der United Democratic Front und dem ANC, entging nur knapp dem Gefängnis. Heute Spezialist für Polizeifragen, Autor eines Sachbuchs über die südafrikanische Polizei und für Schlaf ein, mein Kind mit dem renommierten „Sunday Times Fiction Prize“ ausgezeichnet. Thomas Wörtche ist angetan.

Südafrika, heute. Stellenbosch, eine ganz normale Kleinstadt. Eine wunderschöne, aber tote Frau treibt im Fluss. Sie ist ermordet worden. Die Tote ist die über alles geliebte Tochter eines Universitätsprofessors, der zur Selbstjustiz am vermeintlichen Täter greift. Der zuständige Polizist scheint überfordert.

Ein paar hundert Jahre früher, im späten 17. Jahrhundert zur Zeit des berühmten holländischen Gouverneurs Simon van der Stel, Namensgeber von Stellenbosch, „Mischling“ und Initiator des Weinanbaus am Kap: Eine junge Sklavin wird von einem für die Kolonie unersetzbaren Weinanbauspezialisten vergewaltigt und gedemütigt. Sie wehrt sich.

Zwei Handlungsstränge, die Brown parallel laufen lässt, ohne auf eine der beliebten „Verknüpfungen“ von „damals“ und „heute“ zu setzen. Zwei Stränge, die erst ganz am Ende des Buches miteinander zu tun haben – aber das weiß nur der Erzähler und damit der Leser; die Figuren wissen es nicht. Daraus entsteht eine grausame Pointe. So etwas ist ungewöhnlich, weil explizit literarisch, nicht genre-üblich.

Ungewöhnlich …

Eigentlich ist gar nichts vordergründig genre-üblich an diesem Roman, obwohl er nur aus bekannten Elementen zu bestehen scheint: Dem heruntergekommenen Detective, der aufstrebenden Jungpolizistin, dem zwielichtigen Nachtklubbesitzer und anderen, einschlägig bekannten Figuren. Aber warum Brown z.B. die einzelnen Kapitel mit zunehmend ungemütlich und bösartiger werdenden Schlafliedern beginnt – am Ende hat man eine ganze Schlaflied-Anthologie von süß bis garstig –, oder wie er einzelne Figuren während der Handlung durch verschiedene Brennweiten seiner komplexen literarischen Linse betrachtet und wie sich dadurch diese Figuren ändern, das ist grandios. Auch deswegen, weil Brown Klischees verzwirbelt – so gilt keineswegs als ausgemacht, dass der abgehalfterte Cop am Ende zum Helden wird, oder dass ein Vaterherz nur schwer betrübt sein muss, wenn das Kind stirbt.

Und dann sind da noch die vielen kleinen Vignetten, die Andrew Brown in die Haupthandlungen webt – nämlich die vielen unschönen Details aus der Capkolonie von 1690 und aus der netten Stadt Stellenbosch am Anfang unseres Jahrtausends. Barbarische Sitten der Sklavenhalter damals, ekelhafte Gelüste der Oberschicht heute. Auch der Rassismus hat sich verändert von damals zu heute, aber schöner ist er nicht geworden. Aber das Doppelporträt der beiden Frauen zeigt auch, dass es immer und überall Widerstand gibt. Auch gegen jede Chance.

Brown nimmt in der südafrikanischen Kriminalliteratur sicherlich deswegen einen speziellen Platz ein, weil er nicht das Genre „bedient“, sondern weil er einen Roman geschrieben hat, der sich wie von selbst wegen seiner Themen zum Genre fügt. Ungeheuerliches und neues Grauen hat er nicht zu erzählen, das alte Grauen, das fortlebt, beschäftigt die Menschen noch genug. Auch wenn sie, wie bei Brown, gar nicht wissen, wie ihnen genau geschieht.

Thomas Wörtche

Andrew Brown: Schlaf ein, mein Kind (Coldsleep Lullaby, 2005). Roman.
Deutsch von Mechthild Barth.
München: btb 2009. 384 Seiten. 9,00 Euro.