Kanun und Weltpolitik
– Kaum eine Zeit, kaum ein Ort ist von der Welle historischer Kriminalromane verschont, schließlich lassen sich aus den möglichen Kombinationen beider Parameter eine Menge Schmöker generieren. Diesmal also Albanien, 1924. Das ist ziemlich special, das gab es noch nicht. Allerdings ist der Roman der auf Deutsch schreibenden Albanerin Anila Wilms auch kein normaler Historienkrimi, sondern nicht nur wegen seines Titels „Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens“ ein sehr ungewöhnlicher Roman. Thomas Wörtche hat ihn gelesen …
Am Anfang hat man den Eindruck, man sei irgendwo in Gregor von Rezzoris Balkanien gelandet. Auf einer Brücke im bergigen Norden Albaniens sind zwei amerikanische Staatsbürger ermordet und ihr albanischer Fahrer schwer verwundet worden. Die Aufarbeitung dieses Skandalons zieht sich quer durch die verschiedenen politischen und sozialen Sortierungen des Landes. Diese grimmige Geschichte liest sich zunächst allerdings wie ein charmantes, durchaus auch leicht karikierendes Porträt eines drolligen Bergvolkes und dessen urbaner Variante in der einzigen großen Stadt, Tirana.
Aber nachdem die auf Albanisch und Deutsch (im vorliegenden Falle) schreibende, in Berlin lebende Anila Wilms, ihr Publikum sozusagen auf die leichte, die „maghrebinische“ Schiene gelockt hat, dreht sie zunehmend an der Komplexitätsschraube.
Der Mord an den beiden Amerikanern mutiert vom bizarren Zwischenfall in den Schluchten des Balkans zu einem hoch-politischen Ereignis. Aus der Mordsache, die schnell geklärt zu sein scheint – in der Tat werden erst einmal ein paar Leute erschossen und wie weiland Mussolini und Clare Petacci zur Ausstellung aufgehängt. Apropos Mussolini, der wird sich mit seinem faschistischen Italien bald in die albanischen Angelegenheiten einmischen.
Das albanische Öl
Der Mord an den beiden US-Bürgern lenkt die Aufmerksamkeit aller handelnden Personen – ein beeindruckendes Panorama albanischer Politiker und Machthaber aller Couleur sowie ein Ensemble diplomatischer Interessenvertreter fremder Mächte, einschließlich des frisch nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Völkerbundes – auf eine tatsächlich vorhandene Ressource des Landes: seine beträchtlichen Erdölvorkommen. Die übrigens bis heute nicht erschöpfend ausgebeutet wurden.

Anila Wilms
Anila Wilms zieht nun clever ihre Fäden – Kleines und Großes, Lokales und Weltpolitisches treten ab jetzt in sich ständig neu formierende Verhältnisse und Konstellationen. Es geht um britische Ölambitionen und um amerikanische (in den 1920er durchaus noch in scharfer Konkurrenz), es geht um autokratische und demokratische Strömungen in der albanischen Innenpolitik, die wiederum mit den Dialektiken von archaischen Strukturen im Bergland und aufkommender Moderne in der Stadt zu tun hat. Die balkanischen Verhältnisse (Serbien, Montenegro, die Verwerfungen des Ersten Weltkrieges und der Balkankriege, die türkische Vergangenheit und der italienische Imperialismus) schlagen ebenso zu Buche wie die Diskussionen in den Kaffeehäusern und die Beachtung des grimmigen Verhaltenskodexes, des berühmten albanischen „Kanuns“, in den ländlichen Regionen. Vielleicht leidet der Roman an solchen Stellen hin und wieder ein bisschen unter TMI (= too much information), aber Anila Wilms federt die Komplexität der Situation und der Figurenkonstellationen immer wieder durch kluge Porträts, witzige Szenen und viel Atmosphäre ab.
Auf 172 Seiten entsteht so ein Roman über eine uns fremde Welt, die uns aber, weil sie nicht als Insel ohne Bezüge zur Außenwelt gedacht und geschildert wird, doch bei genauerem Hingucken sehr bekannt vorkommt. Und genau hingeschaut zu haben, feine Verästelungen präzise erzählen zu können, ist die Qualität dieses feinen, erstaunlichen, charmanten und sinnvoll schrägen Kriminalromans resp. Polit-Thrillers aus den albanischen Bergen.
Thomas Wörtche
Anila Wilms: Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens. Roman. Berlin: transit 2012. 172 Seiten. 18,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.