Geschrieben am 2. November 2013 von für Bücher, Crimemag

Anja Jensen: TATORT

Jensen_TatortDieses geheimnisvolle Leuchten

– Ein großer Bildband mit den faszinierenden „Tatort“-Inszenierungen der Hamburger Fotografin Anja Jensen ist gerade erschienen. Von Peter Münder

Auch während ihrer Ausstellung „Tatorte“ im letzten Herbst im Museum Kunst der Westküste/Föhr (Vgl. CulturMag vom 31.10.2012 ) konnte Anja Jensen wieder einmal ein Phänomen wahrnehmen, das sie schon seit Jahren verblüfft und begeistert: Um ihre großformatigen Photos standen Besucher, die sich intensiv und begeistert die Bilder betrachteten und über ihre Eindrücke und Assoziationen ganz spontan diskutierten. Die Fragen, die sie umtrieben, kreisten meistens um die verfremdeten, geheimnisvollen Inszenierungen: Was treibt der grell ausgeleuchtete Mann mit der Pudelmütze im dunklen Schilf?

DŸnental, 2005

Warum hat die junge Frau mit dem kreidebleichen Gesicht, die vom Strand eine hohe Holzbrücke hochläuft, einen so gehetzten und verängstigten Blick? Was soll uns das kleine, hell angestrahlte Mädchen suggerieren, das so märchenhaft mit kleinem Eimerchen in den Dünen steht und uns so erwartungsvoll anblickt? Für die einheimischen Inselbewohner war es auch eine interessante Erfahrung, die in eine US-Fahne drapierte Nachbarin und Ex-Auswanderin Pauline Höfer zu betrachten: Die steht im Sand in einer Art Freiheitsstatuen-Pose, geschmückt von einem um ihre Füße geschlungenen Spruchband mit dem Slogan „Lever duad us Slav!“ („Lieber tot als Sklave!“)- keine polemische Attacke gegen den amerikanischen Big Brother, sondern eine engagierte, ironisch-pathetische biografische Aufarbeitung von Emigration und Heimkehr. Denn die auf die Insel zurückgekehrte Pauline Höfer schwelgt viele Jahre nach ihrer Rückkehr auf die Insel immer noch in nostalgisch eingefärbten Erinnerungen und verklärenden „Go West!“- Pioniergeist-Impressionen.

Plaza de Armas, 2008

Auratisch

Die in Hamburg und Münster lebende Fotografin kann mit ihren auratischen Bildern so geschickt Diskussionen und Spekulationen in Gang setzen, weil sie nicht irgendeinen Trend bedienen will, sich an keine herkömmlichen ästhetischen Muster hält, keine berühmten Vorbilder akzeptiert und damit auch alle Debatten hochkarätiger Kunst- Experten unterläuft. Der Abbildcharakter oder die Affinität zur Alltagsrealität einer Photographie spielt für sie ebenso wenig eine Rolle wie die Debatte über die Rivalität zwischen Malerei und Photographie, weil die Künstlerin ihre Bilder ganz bewusst inszeniert, mit großer Finesse und überraschenden Effekten ausleuchtet und dabei dann doch alle Fragen hinsichtlich eines „Tathergangs“ offen lässt. Das auf vielen Bildern angedeutete Überwachungs-und Beobachtungs-Thema ist auch keineswegs eine Reaktion auf Whistleblower und Big Data-Skandale. Sie hatte dieses Thema schon vor vielen Jahren aufgegriffen, als sie bei einem längeren London-Aufenthalt das Gefühl hatte, überall von Überwachungskameras eingekreist zu werden. Dieses ursprüngliche Interesse an Überwachungs-Szenarien hat Anja Jensen inzwischen subtiler differenziert und streckenweise in zwar rätselhafte, aber eher unverfängliche Alltagssituationen einfließen lassen.Anja Jensen, Vogelki#4E7E78

Diese temperamentvolle, immer hellwache gesellschaftskritische Fotografin, die in Kiel, Mainz, Paris und Münster Romanistik und Kunstgeschichte studierte, hat bereits viele erfolgreiche internationale Ausstellungen (Schweiz, Chile, Polen, Skandinavien usw.) vorzuweisen. Bezeichnend ist, dass sie auch Bilder ihrer Auslandsaufenthalte in Südamerika, China oder der Türkei bewusst inszenierte und verfremdete und sich mit einem neorealistischen Abbild von Alltagssituationen nie zufrieden gibt. Anja Jensen will mit ihren Fotos anregen, irritieren und für nachhaltige Eindrücke sorgen. Tatsächlich hat man ihre Motive lange abgespeichert: Den grünen Buick aus einer dunklen Istanbuler Nebenstraße, an dem ein Mann mit einer Wasserflasche herumhantiert; die in einer tristen Slumhütte in Santiago de Chile hockende, von Geburtstagsfeier-Requisiten umgebene Mutter mit ihrer Tochter; den im kobaltblauen Meer stehenden, von bizarren Wolkenformationen eingehüllten Are oder die nachts in einem hellerleuchten Pickup-Truck am blau laminierten Pazifik hockenden jungen Männer hat man auch noch Monate nach der ersten Betrachtung im Kopf. Was sicher an der Figurenkonstellation und an der auffälligen Inszenierung, aber auch am magischem Twilight-Effekt, diesem einmaligen Licht-Mix liegt, mit dem eine unspektakuläre Alltagssituation zum besonderen Ereignis stilisiert und verfremdet wird.Anja Jensen, Brandma#4E7E76

Platons Höhle und Susan Sontag

Die Veröffentlichung dieses großen Bildbandes war längst überfällig, denn nun haben wir endlich Vergleichsmöglichkeiten, um zu eruieren, wie sich Anja Jensens Motivauswahl im Lauf der Jahre veränderte oder wie sie ihren Twilight-Effekt noch weiter sublimierte. Dieser „Tatort“-Band ist sehr liebevoll und anspruchsvoll gestaltet, auch die feinsten Nuancen werden akribisch reproduziert – ein großer Wurf. Am meisten beeindruckt mich jedoch, mit welcher Lässigkeit Anja Jensen all die bedeutungsschweren Diskussionen von Kunstexperten und Kommentatoren unterläuft. Auch Ludwig Seyfarth kann in seinem Nachwort mit Assoziationen und Vergleichen nur Verweise auf bekannte Filme und darin eingesetzte Lichteffekte liefern, die uns auf einen plausiblen Interpretationsweg schleusen sollen- das ist zwar gut gemeint, bringt uns aber bei der eigenwilligen, keiner Schule oder Kunstrichtung verpflichteten Künstlerin nicht weiter. Sie hat eben ihren ganz eigenen, originellen, unverwechselbaren Stil und lässt sich auf keine Tradition oder Stilrichtung festlegen. Wir sollten daher einfach in kontemplativer Gefasstheit in Platons Höhle sitzen bleiben und die vom Kerzenschein vorüberhechelnder Deutungspriester an die Wand projizierten Rorschach-Schattierungen an uns vorbei flackern lassen.

Ragna, 2002

Natürlich will die Künstlerin mit ihren Bildern nicht in erster Linie irgendwelche kunsthistorischen Thesen widerlegen, sondern den Betrachter anregen, sensibilisieren oder auch verstören. Es ist aber trotzdem verblüffend, in Susan Sontags berühmten Essay „Über Fotografie“ auf Passagen zu stoßen, die sich auf den pseudokriminalistischen Tatort-Kontext der Jensen-Bilder beziehen könnten. Doch schnell wird deutlich, dass trotz des aktuellen Bezugs zur totalen NSA- Überwachungsmanie nur wenig auf Anja Jensens Bilder zutrifft. Im historischen Rückblick auf die Entwicklung der Photographie und speziell auf die brutalen Razzien auf die Pariser Kommune im Juni 1871, schreibt Sontag, wurden Photos „zum Werkzeug moderne Staatenbei der Überwachung und Kontrolle einer zunehmend mobilen Bevölkerung“. Auf realistische Abbildfunktionen der Fotografie abhebend, betont Susan Sontag den Beweis-Faktor der Fotografie: „Fotos liefern Beweismaterial… Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint bestätigt, wenn man uns eine Fotografie davon zeigt. In einem bestimmten Anwendungsbereich inkriminiert die Kameraaufzeichnung“.

Anja Jensen, Mann am#4E7E72Enigmatisch

Aber mit ihren Bildern will Anja Jensen eben keine eindeutigen Fakten oder Indizien liefern, sondern mit Hilfe des Tatort-Kontextes unsere Phantasie anregen, Rätsel liefern und ähnlich wie es Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ versucht, sondieren, wie weit man den Möglichkeits-Sinn strapazieren kann: Was könnte hier passiert oder geplant sein, welche Geschichte, welches Ereignis passiert hier gerade – das fragen uns ihre Bilder. Und jeder Betrachter muss sich selbst eine überzeugende Antwort liefern.

Keine Frage, Anja Jensens enigmatische Bilder sind betörend, irritierend und so faszinierend, dass sie einen lange beschäftigen. Das zeigt dieser perfekt produzierte Band sehr eindrucksvoll.

Peter Münder

Anja Jensen: TATORT. Heidelberg/Berlin: Kehrer Verlag 2013. 128 Seiten. 54 Farb-Abbildungen. 28,5 x24 cm. Text Deutsch/Englisch, mit Kommentar von Ludwig Seyfarth. 39,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autorin.

Susan Sontag: Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. Frankfurt: Fischer Taschenbuch 1980.

Anja Jensen studierte Kunstgeschichte und Malerei in Mainz, Paris, Kiel und Münster. Seit 1996 fokussiert auf Fotografie, vor allem auf das Leitmotiv Überwachung/ Kontrolle. Ihre Ausstellungen und Projekte haben sie nach Südamerika, China, in die USA, Türkei und nach Polen gebracht. Als Stipendiatin lebte und arbeitete sie für einige Monate auf Föhr und Amrum, jetzt lebt sie in Hamburg.

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