Historischer suspense
Vor beinahe zwei Jahren (22.01.08) starb der Jurist und Schriftsteller Bernhard Horstmann, nebenbei bemerkt ein Enkel des „Volksschriftstellers“ Ludwig Ganghofer. Mit seiner Frau Charlotte oder auch alleine schrieb Horstmann unter dem Pseudonym Stefan Murr eine Reihe von Kriminalromanen, die mit dem damals üblichen „Soziokrimi“ wenig zu tun hatten. Ein vernachlässigtes Sachbuch ist für Klaus Kamberger Anlass, an Stefan Murr zu erinnern.
Kein Nachruf aus gegebenem Anlass – dafür wäre es denn doch ein wenig zu spät: Stefan Murr ist schließlich schon seit zwei Jahren tot. Stattdessen scheint ein nachdrückliches Memento noch immer mehr als angebracht. Aus der Phase, als der Deutsch-Krimi vor rund 40 Jahren richtig populär wurde, ist Murr ja allen einschlägig Vorbelasteten ein noch sehr vertrauter Pionier. Immer in der Gegenwart angedockt (wenn auch nicht gerade exponiert „sozialkritisch“, wie das damals eher gängig war), kein Himmelsstürmer, aber einer, der gut und spannend erzählen konnte.
Genau das konnte er aber ebenso gut in anderen Genres, sei es im zeitgeschichtlichen Roman (Weltkrieg, Israel-Konflikt), sei es in erinnerungsträchtigen Rückblicken auf eine nahe Vergangenheit (Berlin in den Zwanzigern und Dreißigern des letzten Jahrhunderts).
Umso überraschender (und dennoch durchaus konsequent), dass er zum Schluss noch zum echten „Historiker“ wurde, wenn auch, wie es sich gehört, mit einem gehörigen Einschlag von suspense. In seinen letzten Lebensjahren hat Murr nämlich an einem Vermächtnis der besonderen Art gearbeitet – und hat es uns schließlich, als 84-Jähriger, unter seinem „echten“ bürgerlichen Namen Bernhard Horstmann hinterlassen: Hitler in Pasewalk. Die Hypnose und ihre Folgen.
Fiction/Non-Fiction?
Wie bitte? Adolf Hitler und Hypnose? Das klingt ja eher nach Sensation und Spekulation, nach Legende und Mythifizierung. Ist es aber nicht. Sondern solide erarbeitete Recherche zu einem bislang unterbelichteten Kapitel in der Biografie des „Führers“. Zugleich scheint Horstmann-Murr da eine veritable Tretmine gelegt zu haben. Der Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man registriert, wie ihr so penetrant wie weiträumig aus dem Wege gegangen wird – von denen, die das Buch eigentlich und in erster Linie angehen sollte.
Man wusste bereits: Der Weltkrieg-I-Gefreite Adolf Hitler war nach einem Gasangriff der alliierten Streitkräfte vorübergehend erblindet, kam in ein Lazarett in Pasewalk, wurde geheilt und beschloss danach, Politiker zu werden. Fragt sich nur, wie gesund er wirklich war, als man ihn im November 1918 wieder entlassen hatte. Hier setzen Horstmanns Ermittlungen an, und ihn dabei zu begleiten, ersetzt die Lektüre von einem ganzen Schock crime fiction.
In Mein Kampf hatte Hitler seine „Heilung“ nachträglich als ein „Wunder“ gefeiert. Inzwischen weiß die Welt längst: Er hatte simuliert, seine Erblindung war laut psychiatrischer Diagnose eine „hysterische“ gewesen. Der Psychiater Edmund Forster hatte Hitler in Pasewalk in Hypnose versetzt und so wieder von seinen Ängsten befreit. Hitler konnte, o Wunder, wieder sehen. Wie diese Hypnose en detail abgelaufen, wie sie begonnen und wieder beendet worden ist, stand in den persönlichen Notizen des Militär-Stabsarzts Forster, und genau die sind verschwunden.
Also kann man heute nur noch mit Evidenzen und Rückschlüssen arbeiten, um Klarheit in das Krankheitsbild Hitlers zu bekommen. Und da wagt Horstmann nun eine Hypothese, die es in sich hat: Foster hat, das ist noch nachweisbar, versucht, Hitlers angeknackstes Selbstbewusstsein wieder zu stärken. Ihm ist also, meint nun Horstmann, per Hypnose und quasi aus Versehen ein (übersteigertes) Sendungsbewusstsein suggeriert worden, das dann später zu den bekannten welthistorischen Folgen geführt hat. Und all das, weil Foster es offenbar versäumt hatte, seinen Patienten wieder ordentlich und rechtzeitig aus der Hypnose aufzuwecken, ihn somit in einer Art posthypnotischem Zustand belassen hat.
Na, na, darf man da schon mal fragen, ist da dem alten Herrn nicht doch ein wenig die Fantasie durchgegangen? Ein bisschen zuviel Science-Fiction in die Tasten geraten statt ernst zu nehmender Historiographie? Weit gefehlt. Horstmanns Belege und Schlussfolgerungen sind nämlich nicht nur auf eine geradezu gespenstische Art schlüssig, er hat sich auch, weil er halt Jurist und kein akademischer shrink ist, um ein Fachgutachten zum Fall gekümmert, und das stammt von einer Diplom-Psychologin (die immerhin einen Ruf zu verlieren hätte) und bestätigt seine Darstellung voll und ganz.
Zu feige, sich die Finger zu verbrennen?
Doch was ergibt sich für den verwirrten Leser aus solchem natur- wie erfahrungswissenschaftlichem Diskurs? Zweilerlei: Enttäuschendes und Hanebüchenes. Beginnen wir mit Letzterem. Und da genügt schon ein Blick ins Internet nebst Ergoogeln des Stichworts „Hitler in Pasewalk“. Da fragen sich nämlich nicht wenige Chatter, ob da ein Krimineller nun endgültig dämonisiert werden solle. Oder ob Hitlers ganzes Verbrechertum jetzt nichts anderes mehr sein solle als hypnosegenerierte Besessenheit. Nun ja, das geht ja noch, wenn auch von Horstmann so sicher nicht intendiert. Aber dann fragen sich andere doch tatsächlich, ob Hitlers Suggestiv- und Verführungskräfte auch hypnotischer Natur Pasewalkschen Ursprungs waren. Ob er nicht gar vielleicht ferngesteuert war. (Von wem, bleibt leider im Nebel.) Und um all das noch zu toppen: Hätte also ein Exorzist zur rechten Zeit das Unheil vielleicht noch verhindern können? (Vom Vatikan liegt dazu bislang noch keine Antwort vor.)
Der Autor dieser Zeilen hat Horstmann, als er an seinem Pasewalk-Buch arbeitete, ein paarmal besucht. Nichts lag Horstmann ferner, als nun ausgerechnet irgendwelchen Esoterikern und sonstigen Spökenkiekern auch noch Futter zu geben. Zwar hatte er eine ganz andere Sorge, nämlich die, dass das ja unausrottbare Nazigesindel irgendwelchen Honig aus seinen Thesen zwecks einer (wie immer gearteten) Überhöhung seines „Gröfaz“ saugen könnte. Doch die Sorge kann man ihm nehmen.
Aber nicht die Enttäuschung, dass bis heute keine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Buch stattgefunden hat – weder von Seiten der etablierten Psychiatrie noch von Seiten der Historikerzunft (die bekanntlich immer schon so arrogant war, alles wegzuschweigen, was nicht aus ihren eigenen Reihen kommt). Allesamt zu feige, sich die Finger zu verbrennen?
Für unsereinen umso spannender!
Klaus Kamberger
Bernhard Horstmann: Hitler in Pasewalk. Die Hypnose und ihre Folgen. Mit einer psychologischen Expertise von Dipl.-Psych. Heidi Baitinger.
Düsseldorf: Droste Verlag 2004. 256 Seiten. 17,95 Euro.