Stadt der bunten Vögel
– Carol O’Connell gehört zu den spannendsten Kriminalschriftstellerinnen überhaupt. Deswegen bei uns unterschätzt zu werden, gehört schon fast dazu. Lena Blaudez bricht eine Lanze für einen Roman ohne O’Connells Serienheldin Mallory.
Oren Hobbs kehrt zum gleichen Zeitpunkt nach Hause zurück wie sein Bruder Josh. Letzterer jedoch stückweise. Knochen für Knochen, wie der Originaltitel von Carol O’Connells „Tödliche Geschenke“ lautet, abgeworfen auf der väterlichen Veranda.
Vor 20 Jahren ist der damals 15-Jährige in den Wäldern verschwunden, der Fall vom örtlichen Sheriff zu den Akten gelegt und der Bruder Oren von vielen der Einwohner Coventrys, eines kleinen Städtchens im Norden Kaliforniens, des Mordes verdächtigt worden. Überhaupt diese Einwohner. Kaum einer, der nicht auf skurrile Weise verschroben, voller Macken oder schlichtweg irre ist – oder zumindest das eine oder andere Geheimnis verzweifelt zu wahren versucht.
Tagebücher voller Singvögel
Die temperamentvolle Isabella hat nach dem Verschwinden des jungen Josh, genauso wie Oren, die Stadt in ein fernes Internat verlassen müssen. Sie war damals 16 und unsterblich in Oren verliebt. Ihr Stiefvater, ein schwerreicher verschlagener Anwalt, scheint ein Schurke wie aus dem Bilderbuch zu sein. Doch er liebt seine Frau, die wunderschöne Vogelkundlerin über alles – und kontrolliert besessen jeden ihrer Schritte. Gründe dafür gibt es genug, zumindest aus seiner Sicht. Sie zeichnete in hunderten bebilderten Tagebüchern die Bewohner des Städtchens als phantasievolle Vogelwelt, die sie in Ermangelung der Teilnahme am Leben von ihrem verglasten Turmzimmer aus mit Ferngläsern beobachtet.
Doch diese bunte Welt verwandelt sich nach Joshs Verschwinden in ein gruseliges Panoptikum krallenbewehrter Raubvögel und sie sich in eine schwer abhängige Alkoholikerin. Nur zum alljährlichen Geburtstagsball muss sie nüchtern bleiben. Und der steht vor der Tür. Und mit ihm die Aufdeckung aller möglicher Vergehen, die mit dem Tod des Jungen in Zusammenhang stehen.
Wenn es Gott gäbe, wäre er Atheist
Langsam entfaltet sich das Panorama des bei allen Verrücktheiten durchaus im eigenen Kontext plausibel agierenden Personals mit einer Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit, wie wir sie aus den wunderbaren Mallory-Romanen kennen und lieben.
Neben den gebrochenen und sympathischen Figuren, den schmierigen und gierigen Typen wird eine Kleinstadt gezeichnet, die nicht nur durch extrem langsames Autofahren auffällt, sondern auch eine Bibliothek besitzt, in die nie jemand einen Fuß setzt. Zumal dort die wahnsinnige Mavis, ein muskelbepacktes Monster von Frau lebt, damit sie nicht in die Klappse muss – gesponsert von den gut situierten Bürgern der Stadt. Und die manchmal sehr vernünftig ist. Außerdem kippt ein Haufen ewig benebelter Gestalten vor der stumm geschalteten Glotze der örtlichen Kneipe Bier in sich hinein und geht auch dann nicht vor die Tür, wenn sich die Sensationsnachrichten, über die der Sender berichtet, direkt dort abspielen.
Gleichgültigkeit neben Hysterie, Irre neben Normalen, Arm neben Reich, Vergangenes neben der Gegenwart, eins ins andere übergehend, verschwimmende Geschlechteridentität – in Coventry ist das alles vorhanden – nur eben deutlicher als im wirklichen Leben und näher aneinander. Zu den Hexenbrettspielen in der Blockhütte, bei denen mit den Toten – vor allem mit Josh – kommuniziert wird, kommen immer viele der Einwohner und Touristen. Auch Oren wird dort aus dem Jenseits von seinem Bruder Josh um Hilfe angefleht, scheint es. Hannah, Orens Zweit-Mutter, hält Gott jedoch für einen Atheisten und Oren auf dem Boden der Tatsachen – mit manch ausgekochten Taschenspielertrick.
Liebe und Tod
Oren, berühmter und hoch dekorierter kriminalpolizeilicher Ermittler der US-Army, der die Massengräber von Bosnien bis Bagdad in der Militär-Terminologie ausgewertet und die Beweise von unvorstellbar grausamen Massenmorden gesammelt hatte, hat die Army kurz vor Erhalt sämtlicher Zuwendungen und Ansprüche gegen den Willen seiner Vorgesetzten verlassen und ermittelt nun nach 20 Jahren in Sachen eigener Bruder. Warum ausgerechnet jetzt? Damals hat ihn sein Vater, ein angesehener Richter, weggeschickt – um etwas zu vertuschen? Hannah, seine kleinwüchsige Haushälterin, die aus dem Nichts beim Begräbnis seiner Frau aufgetaucht ist und seitdem die Erziehung der Jungs und das Überleben des von Alpträumen geplagten schlafwandelnden Richters in die Hand genommen hat, die gelegentlich aufdringliches Reporterpack zusammentritt und kaum übers Lenkrad sehen könnend, Oren halsbrecherisch zu wichtigen Treffen kutschiert, ist einer der stärksten Figuren des Buches. Aber auch sie hat vor dem sie innig liebenden Oren Geheimnisse. Der außerdem extrem gut aussieht und dessen Liebesgeschichten eine tragende Rolle spielen.
Kommissarin Sally Polk, äußerlich eine hausfrauliche Dame mittleren Alters im Blümchenkleid, bringt clever und ultra-cool die Zusammenhänge auf die Reihe, der pädophilie Klatschreporter will es literarisch ausgerechnet mit der Wahrheit zu etwas bringen … Es würde zu weit führen, all die merkwürdigen und seltsamen Persönlichkeiten aufzuzählen, die Coventry bevölkern, auch wenn man’s gern täte, einfach weil sie so hinreißend geschildert sind. Und alle hängen sie in der Mordgeschichte mit drin. Irgendwie.
Was hat sein Bruder Josh aufgenommen, der junge überaus talentierte Fotograf, der es nicht lassen konnte, Geheimnisse zwischen zwei Menschen aufs Foto-Papier zu bannen? Und welche Schuld trifft Oren wirklich?

© Marion Ettlinger (Quelle: randomhouse.de)
Haarscharf daneben
Die Welt von Coventry ist unsere Welt – nur ein klitzekleines bisschen anders und haarscharf neben der Spur und ziemlich oft sehr komisch. Die Leute handeln – und das ist eine Art Wesensmerkmal des Romans – aus verletzter Liebe, aus falsch verstandener Loyalität, wegen Missverständnissen, irrtümlichen Schuldzuweisungen oder in der wahnwitzigen Hoffnung, das einmal etwas so sei, wie ihre Sehnsucht es ihnen vorgaukelt. Manchmal handeln sie auch aus echter Liebe und auf Leben und Tod. Es geht oft um Verletztheit, innere und äußere Verletzungen, Verwundungen von denen, die so mutig waren, sich körperlichen und seelischen Gefahren auszusetzen.
Ihnen ist der Roman übrigens auch gewidmet, in einer Art chapeau mit Augenzwinkern.
Der O’Connell’sche Kosmos ist ein schräger, ironischer und sehr menschlicher Kosmos, der mit seiner leisen, intensiven Spannung einen unwiderstehlichen Sog entfaltet. Der Roman ist gleichermaßen spannend, traurig, amüsant und ernsthaft. Kein Wunder, dass die Autorin weltweit (außer im deutschsprachigen Raum) eine riesige Fangemeinde hat.
„Tödliche Geschenke“ ist eins der Bücher, bei denen man immer wieder bedauernd auf die schwindende Seitenanzahl schielt.
Lena Blaudez
Carol O’Connell: „Tödliche Geschenke“, (Original: Bone by Bone, 2008). Roman. Deutsch von Renate Orth-Guttmann. Berlin: btb 2012, 416 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Homepage von Lena Blaudez. Mehr über O´Connell bei CrimeMag.