Geschrieben am 17. Dezember 2011 von für Bücher, Crimemag

Denise Mina: Blinde Wut

Psychogramm des jungen Mörders

– Die schottische Autorin Denise Mina ist bei uns viel zu unbekannt. Sie ist auch kein „Geheimtipp“ oder so etwas Albernes, sondern eine wichtige Schriftstellerin. Henrike Heiland begründet, warum.

Je größer die sozialen Ungleichheiten, desto gewalttätiger ist eine Gesellschaft. Aber dass die Gewaltbereitschaft, das vorbereitende Gedankengut nicht immer nur von unten kommen, kann man sich nicht oft genug bewusstmachen. Denise Mina schreibt in „Blinde Wut“ darüber.

Thomas Anderson hat einen pervers reichen Vater. Er geht auf ein teures Internat in Schottland, er wird mit dem Privatflugzeug abgeholt, wenn er seine Eltern in London besucht und er ist unglücklich. Sein Vater terrorisiert ihn und die ganze Familie seit Jahren, und jetzt eröffnet er seinem Sohn auch noch, dass er ein Doppelleben führt: Es gibt eine zweite Familie. Eine, die er – das findet Thomas später heraus – so behandelt, wie es sich Frau und Kinder immer gewünscht hätten. Der Reichtum ist es schließlich, der sie alle zerstört: Andersons Frau leidet an Depressionen, Tochter Ella hat noch ein paar Geisteskrankheiten mehr und Thomas beschließt in seinem ohnmächtigen Hass auf den Vater, dessen Geliebte zu töten. Leider erwischt er die Falsche: Nicht die Zweitehefrau muss dran glauben, sondern die Edelprostituierte Sarah Erroll, bei der Anderson Stammkunde war. Anderson zerstört sich nahezu zeitgleich selbst: Als herauskommt, dass die Bankenkrise die Gelder seiner Anleger schlagartig vernichtet hat, nimmt er sich das Leben.

Überleben

Alex Morrow von der Polizei in Glasgow untersucht den Mord an Sarah Erroll, und es braucht Zeit, bis sie hinter die Zusammenhänge schaut. Bei den Ermittlungen trifft sie eine alte Schulkameradin wieder: Kay Murray, die als Pflegerin für Sarah Errolls Mutter gearbeitet hat. Errolls Mutter war an Alzheimer erkrankt, und um der alten Dame bis zu ihrem Tod die beste Pflege zu garantieren, ging Erroll eben anschaffen.

Kay Murray lebt mit vier Kindern in einer kleinen Wohnung in Castlemilk, nicht die beste Adresse in Glasgow. Aber sie tut, was sie kann, um nicht ganz abzurutschen und den Kindern Manieren beizubringen. Trotz aller Bemühungen jedoch geraten zwei ihrer Söhne unter Verdacht, Sarah Erroll getötet zu haben, ein Verdacht, der viel mehr mit sozialen Vorurteilen zu tun hat als mit handfesten Beweisen. Ebenfalls aus Angst vor Vorurteilen schweigt Alex Morrow hartnäckig über ihre leibliche Familie: Vater und Bruder sind bekannte Verbrecher, sie will nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Ihre alte Freundin wiederzutreffen, könnte riskant werden.

Denise Mina

Zur Lage der Klassen in Großbritannien

Denise Mina zeigt die herrschenden krassen sozialen Unterschiede in Großbritannien, zeigt vor allem auch die Probleme der Frauen im Zeitalter der angeblichen Gleichberechtigung: keine Heldinnen, keine role models, keine Figuren, in die man sich gerne hineinträumt. Morrow wird bei einer Beförderung übergangen, weil ihr männlicher Kollege die besseren Beziehungen zu den (männlichen) Vorgesetzten hat. Murray wird als Schlampe eingestuft, weil sie vier Kinder von vier Männern hat, dabei kümmert sie sich fast schon vorbildlich um ihren Nachwuchs. Besonders im Vergleich zu Moira Anderson, die nicht mal weiß, wie man eine Tiefkühlpizza essfertig bekommt, die ihre Kinder grob vernachlässigt, weil sie lieber shoppen geht, die nicht empfindungsfähig ist. Es ist das Klima der emotionalen Leere, das ihren Sohn Thomas zum Mörder macht. Will er doch nur, dass sein Vater endlich ihn, seine Schwester Ella und seine Mutter Moira liebt und nicht eine andere Frau und die Kinder, die er mit ihr hat. Thomas, ein auch sexuell misshandelter Jugendlicher, den der Vater ins Bordell schickte, damit er sein erstes Mal über die Bühne brachte, und dessen Nanny in erster Linie dafür bezahlt wurde, mit dem gerade mal Fünfzehnjährigen regelmäßig zu schlafen. Wen wundert’s, dass der Junge zum Mörder wird?

Man weiß schon nach wenigen Seiten, wer hier wen ermordet. Danach geht es nur noch um das Warum. Man lernt Thomas‘ Familie kennen, erfährt von den Missverständnissen und groben Irrtümern, die zu der Tat führten. Währenddessen sieht man Alex Morrow dabei zu, wie sie schrittweise der Lösung näherkommt, auf dem Weg dorthin aber mehrfach stolpert, unter anderem über sich selbst.

Das Ende schließlich wirkt märchenhaft-überhöht, und doch irgendwie konsequent, der Beigeschmack bleibt seltsam bitter.

Thriller?

Haben wir hier einen Thriller, wie der Verlag auf das Cover druckt? Wie lautet in der Zwischenzeit die Definition für „[[Thriller]]“ im Buchhandel? Offenbar doch nur „Es gibt Tote – schreiben wir Thriller drauf, das verkauft sich besser“? Oder ist einfach alles, das spannend ist, ein Thriller?

Spannend ist „Blinde Wut“, auch wenn keine Sekunde lang die Spannung aus der Frage nach „Wer war’s denn jetzt?“ gezogen wird. Keine Actionszenen, keine Folter, kein Blut. Spannung herrscht auf ganz anderen Ebenen: zwischen den Figuren, in den Figuren, in jeder einzelnen Geschichte. Glänzend auch die Nebenfiguren, denn selbst da ist kaum eine, wie sie zu Beginn scheint. Die Abgründe von Minas Figuren werden oft mit schmerzlicher Beiläufigkeit erzählt, mit kühler Distanz, die erschütternde Wahrhaftigkeit schafft.

Je größer die sozialen Ungleichheiten, desto gewalttätiger ist eine Gesellschaft – gewalttätiger in jeder Hinsicht. Physisch und psychisch. Die Ungleichheiten sorgen mit der Gewalt auch für höhere Kriminalitätsraten, und da darf man die vermeintlich gewaltfreien Verbrechen nicht außer Acht lassen. Ein Spekulant wie Lars Anderson ist letztlich nichts anderes als ein Gewalttäter. Wie viele Familien hat er finanziell ruiniert? Seiner eigenen hat er die größte Gewalt angetan, und das, ohne dafür die Hand heben zu müssen. Was er sagte (oder nicht sagte), reichte schon.

Denise Mina, eine großartige, hochpolitische Erzählerin.

Henrike Heiland

Denise Mina: Blinde Wut (The End of the Wasp Season, 2011). Roman. Deutsch von Conny Lösch. München: Heyne, 2011. 528 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.Die Autorin im Gespräch mit Henrike Heiland bei crimemag. Verfilmung von Minas Paddy Meehan-Serie auf BBC.

Tags :